Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1878

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.66814#0443
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Textile Kunst. Aegyptische Säulenordnungen,

395

bestehen kann, noch ist sie es in dem Sinne der Emancipation von aller
mechanischen Thätigkeit, wie bei der Säule mit Kelchkapitäl, die diese
Funktion dem unbelebten Kerne ungetheilt zuwendet.
Das pharaonische Aegypten, seinem anorganisch architektonischen
Prinzipe getreu, musste diese Kunstform daher entweder ganz fallen lassen
oder sie der Spur von organischer Strebsamkeit, welche in ihr wohnt,
durch das bereits bezeichnete Mittel berauben, um auf ihrer Umhüllung
gleichzeitig ein weites Feld zu symbolisch-bildlichen Darstellungen und
umfassender Hieroglyphenschrift zu gewinnen. 1
Wie bewusstvoll das oft genannte Regime des pharaonischen Aegypten
das Prinzip der glänzenden Trennung der Kunstform von dem Struktur-
kerne verfolgte, zeigt sich am klarsten in der Weise, wie die Wand-
statuen vor die an sich durchaus ungegliederten und leblosen Pfeiler
gestellt werden. Hier ist die Scheidung der beiden Elemente, deren
innigstes Ineinanderaufgehen die hellenische Kunst charakterisirt, gleichsam
die Trennung des Geistes von der Materie, in entschiedenster Weise
erreicht. —
Wie jene verpuppten oder mumisirten Säulen mit Knospenkapitäl,
sind auch sämmtliche Mauern, demselben Prinzipe gemäss, gleichsam in
Teppiche total eingewickelt; der steinerne Kern als solcher, als Struktur
nämlich, tritt nicht zur Erscheinung, fungirt auch nicht anders als inso-
weit er sich selbst 'aufrecht erhält und fest ist, sonst ist er durchaus
passiv; denn die Steindecke, die er trägt, ist äusserlich nicht sichtbar
und wird innerlich durch bekleidende Malerei in ihrer Massenwirkung
negirt.
Dieser Strukturkern der Mauer ist durchaus nichts anders als die
Staffelei der skulpirten stuckbekleideten und polychromirten Wand, die
ihrerseits als Raumabschluss und zugleich als mächtige Schreibtafel auf-
tritt. Ja man möchte diess letztere für ihre Hauptbestimmung halten.
Nächstdem erscheint die Mauer, als Masse betrachtet, immer noch als
steinernes Nachbild ursprünglichen Nilziegelbaues, bei ihrer Abböschung,
ihrer übermässigen Dicke, der ihr fehlenden Gliederung und der totalen
Abwesenheit vorspringender Theile. An diesen Ursprung erinnert auch
das nie fehlende Stuckgewand, ohne welches das zwar genaue aber

1 Die weiteren Säulengattungen Aegyptens werden hier nicht weiter berück-
sichtigt, weil sie nur formale, nicht prinzipielle, Unterschiede von den genannten
bieten, auch meistens der späteren zum Theil ptolemäischen, und selbst römischen,
Zeit angehören.
 
Annotationen