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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1879

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https://doi.org/10.11588/diglit.66815#0110
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96 Fünftes Hauptstück.
dort in einander entgegengesetztem Sinne. Der Hals ist der Trichter,
um das Gefäss zu füllen, zugleich ist er der Spund, um dasselbe zu
leeren. Er ist, wie der Stand, nur für das Gefäss da, dient ihm, ist
äusserlich thätig. Er dient ihm in doppeltem Sinne, doch so, dass die
Dienste einander nicht verneinen (wie diess beim Fulerum, d. h. dem
Stützpunkte, des Fusses der Fall ist), dass sie niemals zu gleicher Zeit
in Wirksamkeit treten können, sondern hierin sich einander ablösen.
Daher ist am Halse der dynamische Stützpunkt überflüssig, obwohl er
mitunter, wie z. B. an der persischen Flasche S. 65, aber nur mehr im
utilitarischen Sinne, als Handgriff, angewandt erscheint. Die Griechen
urgirten diesen Unterschied und wussten ihn mit gewohntem Scharfsinne
formell zu verwerthen, indem sie den Hals als doppelten Trichter, als
aufwärts und niederwärts thätig, Charakteristiken; zunächst durch die
Form, indem sie den Hals oben und unten erweiterten, in der Mitte
verengten, sodann durch den Ornatus, indem sie um den Hals einen
alternirend aufwärts und niederwärts deutenden Ringschmuck, in einfacher
oder reicher Entfaltung des Motives, herumführten. (Vergl. S. 16 und 17
des I. Bandes.)
Zugleich glaubt man deutlich wahrzunehmen, wie die Griechen auch
hier jede feinere Nüancirung dieses Grundgedankens durch die Form
auszudrücken bewusstvoll bestrebt waren.
So z. B. sind die kurzen Hälse oben sehr weiter Gefässe nur als
ausgebend dadurch charakterisirt, dass die Verengerung nicht in der
Mitte des Halses, sondern dort ist, wo dieser den Kessel berührt, dass
die Mündungsränder des Halses sich rasch erweitern, dass endlich der
Halsschmuck nur aus aufwärts gerichteten Elementen besteht.
Bei Salbgefässen, die sparsam ausgeben sollen, zieht sich ein langer
Hals nach oben am engsten zusammen und setzt sich in sanfter Er-
weiterung auf den Kessel auf. An derartigen Gefässen ist sehr häufig
der Ringschmuck nur nach unten gerichtet, oder besteht aus einem
Halsbande (Monile), das sich kranzartig horizontal herumzieht, ohne die
Begriffe Oben und Unten, Aus und Ein, zu berühren. (Siehe S. 64 und
S. 99 unten.)
Noch ist bei jeder Charakteristik auch dieses Gefässtheiles dasjenige
zu berücksichtigen, was schon bei dem Kessel oder Bauche hervor-
gehoben ward, nämlich die proportionale Entwicklung eines Aufrechten,
in welcher der Hals mit seiner Mündung ausserdem noch das Endi-
gende, nach oben Abschliessende ist; welcher Begriff nach allgemeiner
Kunsttradition durch aufgerichtete, in einen leichten Ueberfall sich
 
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