Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Simon, Holger
Der Creglinger Marienaltar von Tilman Riemenschneider — Berlin: VWF, Verl. für Wiss. und Forschung, 1998

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.51324#0115
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
IKONOLOG1SCHE UNTERSUCHUNG DES RET ABELS

109

in sequentiellen Szenen unterhalb der Krönungsdarstellung dargestellt. Maria entschläft auf
einem Bett im Kreise der Apostel. Christus nimmt die Seele Mariens zu sich und gibt sie dann
an den Erzengel weiter. In der letzten Sequenz nehmen Engel den toten Leib aus dem Sarko-
phag und führen ihn gen Himmel. Die Aufnahme des toten Leibes Mariens an den gotischen
Portalen folgt nicht den Transituserzählungen des Ps. Melito, sondern einer Variation dieser,
die in einigen syrischen Handschriften des 5. und 6. Jahrhunderts niedergeschrieben ist. Der
Bischof Gregor von Tours (538-594) nimmt diese Erzählung, die oben ausführlicher zitiert
wurde,544 545 * aus den syrischen Handschriften auf und berichtet, daß der tote Leib Mariens in das
Paradies geführt und dort mit der Seele wiedervereinigt worden sei (ubi nunc resumpta ani-
Folglich wird hier der tote Leib Mariens von Engeln aufgenommen, der erst im Para-
dies mit der Seele wiedervereint wird. Im Tympanon der Kathedralen von Lausanne und Ami-
ens'4'’ (Abb. 103) wird im linken Bildfeld unter der Krönungsdarstellung anstelle der Dormitio
die Grablege (depositio') durch die Apostel dargestellt, was an den identischen Sarkophagdar-
stellungen in beiden Reliefs deutlich wird. Wenngleich sich das Relief der Aufnahme des toten
Leibes durch die Engel in Lausanne formal stärker an Laon und das in Amiens mehr an Char-
tres und Noyon anlehnt, kann hier von einem einheitlichen Bildtypus gesprochen werden, der
an den gotischen Kathedralen um 1200 entwickelt wird. Die Aufnahme der Seele (elevatio
animae) wird im Tympanon der Kathedrale von Senlis547 (Abb. 104) sogar mit der Grablege
verbunden, um entsprechend zur bildlichen Darstellung der Aufnahme des toten Leibes ein
symmetrisches Bild unter der Krönung Mariens zu erreichen.
An den Portalen der gotischen Kathedralen münden die Darstellungen vom Tod Mariens
hiit ihrer seelischen und leiblichen Aufnahme in ihre Krönung auf dem Himmelsthron, der
Corronatio. Die mystische Conformitas zwischen der erhöhten Gottesmutter und Christus ist
Thema der gotischen Marienportale, und sie führt „in der abendländischen Kunst zu dem Son-
dermotiv Marienkrönung, bzw. der gekrönten Maria, das aus dem der Aufnahme in den Him-
Hel nach ihrem Tod folgerichtig hervorgeht“.548 Sowohl die Bildwerke der Marienportale als
auch die der Handschriften, z. B. in der Berliner Biblia Vulgata (Abb. 89), dürfen daher nicht
lllJr als eine Erzählung der zeitlichen Genese vom Tod Mariens über die Aufnahme ihres Lei-
bes bis hin zu ihrer Krönung verstanden werden, sondern Tod und leib-seelische Aufnahme
Mariens sind letztendlich dogmatische Argumente und Voraussetzung für die Krönung Mari-
ens- Auf dem Thron Gottes herrscht Maria neben Christus über den Chören der Engel als Kö-
n*gin des Himmel (regina coeli). In dieser Funktion, als einziger schon vor dem Jüngsten Ge-
richt in den Himmel aufgenommener Mensch, ist sie einerseits Exemplum und zugleich
Hoffnung für alle Menschen. Dort am Throne Gottes, vom dem aus Christus richten wird, wird
544 X
545 vgl. Kap. 6.3.3.
PL 71, 708: „Et ecce Herum astitit eis Dominus, susceptumque corpus sanctum in nube deferriiussit in parasisum: ubi
nunc resumpta anima, cum electis eius exsultans, aeternitatis bonis nullo occassuris sineperfruitur“- Vgl. auch JUGIE
s46 1944, S. 109; Hecht 1951, S. 1 und Anm. 3; Schaffer 1985, S. 29.
547 Lausanne, Kathedrale, Portal, 1216 - 1220; Amiens, Kathedrale, südliches Westportal, 1236-1245.
548 Senlis, Kathedrale, Westportal, 1180/90.
Schiller 1980, S. 96.
 
Annotationen