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Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik — 1.1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.7376#0046
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OSKAR MARIA GRAF: DER GENERAL VOGL

Mein Vater lag schon über ein Jahr unter der Erde. Unser ältester Bruder Max führte
ein sinnloses Gewaltregiment im Haus, so wie er es heim Militär gelernt hatte.
Es war schon September, die Sommerfrischler waren fort, und es gab nicht mehr allzu-
viel Arbeit in der Backstube. Da verschlief der Geselle einmal, und ich natürlich auch.
Max kündigte ihm kurzerhand, und ich bekam Prügel. Am andern Nachmittag kam ein
neuer Geselle aus München, den Max bei der dortigen Bäckerherbeige angefordert hatte.
Dieser neue Schießer kam in den Laden und gefiel meinem Brüder gar nicht, aber Mün-
chen war weit, und die Bäckerherberge hatte gemeldet, daß momentan nur dieser einzige
Geselle da sei.

„Haben Sie Zeugnisse?" erkundigte sich Max ziemlich abweisend und musterte den hage-
ren, kleinen, grauhaarigen Gesellen. Da aber geschah schon gleich etwas sehr Sonderbares.
„Was? . . . Zeugnisse? . . . Zeugnisse möchten Sie?" sagte der kleine Graukopf keck
und drückte seinen Zeigefinger auf die eingefallene Brust: „Zeugnisse wollen Sie, Herr
Beekmeister? . . . Mein Name ist General Vogl, möcht ich bitten! General Vogl, Ritter
hoher Orden, Herr Beekmeister! General Vogl, bekannt im ganzen Land! Inhaber des
Max-Rindvieh-Ordens und vieler anderer Auszeichnungen!" Es war unmöglich, seinen
Redefluß zu unterbrechen, so geschwind hastete er die Worte heraus. Heiser und ein
wenig blechern klang seine Stimme. Er lachte nicht. Er bekam durch seinen Eifer nur
kleine rote Flecken auf den ausgezehrten Backen.

„Was schwätzen Sie denn da!" konnte, mein Bruder endlich sagen, aber der kleine
Mensch schien jetzt erst richtig im Zug. „Schwätzen? . . . Schwätzen, Herr Beekmeister?"
ereiferte er sich und fing mit seinen langen, mageren Armen zu gestikulieren an:
„Wie ich seh', bin ich hier unbekannt? . . . Macht nichts, macht gar nichts! . . . Wenn's
also absolut sein muß, hier sind meine Zeugnisse, Herr Beekmeister!"
Er warf ein schmutziges Bündel zerschwitzter Papiere auf den Ladentisch, ohne im Reden
einzuhalten: „General Vogl, bitt' ich zu bedenken, ist der beste Bäckergesell', den's
weitum gibt. ... Lassen Sie mir Brot machen, Herr Beekmeister, und nachher reden
wir! ... Meinetwegen kosten- und risikolos, Herr Beekmeister. . .. General Vogl kann
sich sowas leisten!" Jetzt mußte er endlich Atem holen. Max hatte unterdessen die
Zeugnisse durchgesehen und war noch erstaunter. Sie waren gewissermaßen das Beste
vom Besten.

„Also gut, ich nehm' Sie", sagte Max, wollte Wochenlohn und sonstige Bedingungen
nennen, aber — ausgeschlossen, unmöglich.

„Und wenn ich mir eine bescheidene Bemerkung erlauben darf, Herr Beekmeister. . . .
Ganz bescheidenerweis' —" sprudelte der bewegliche, kleine Mann bereits wieder.
„Heirgott, jetzt reden Sie doch keinen Unsinn!" knurrte Max. Vergeblich.
„Wenn ich bescheidenerweis' um das Silentium bitten dürft', Herr Beekmeister!" fuhr
Vogl fort und schnaubte Max ins Gesicht: „General Vogl hat drei höhere Schulen mit-
gemacht: Ochs, Esel und Rindvieh! . . . Drei —"-

„Ja, Herrgott, sind Sie besoffen oder aus'm Narrenhaus?" fuhr der Max dazwischen,
und durch den Lärm waren Mutter, unsere ältesten Schwestern, Anna und ich aus der
Kuchl in den Laden gelockt worden. Verblüfft schaute alles auf den heftig redenden,
beweglichen Menschen, der nur sich zu hören schien.

„Ah! Ah!" rief er und schaute auf unsere Mutter: „Wie ich seh', das ist gewiß die
ganze Beekmeisterfamilie? . . . Habe die Ehre, grüß' Gott zu wünschen! . . . Eine kreuz-
biave Frau Beekmeisterin, meiner Schätzung nach? . . . Vogl, mein Name, General
Vogl —". Er war fast atemlos, machte eine strichhafte Bewegung mit dem rechten Arm,
und unerschrocken sah er mit seinen wässerig glänzenden, blauen Augen auf den mür-
rischen Max, indem er resolut fortfuhr: „Basta, Herr Beekmeister! Vogl macht Dienst.
. . . Und es bleibt dabei — die erste Nacht risikolos, wann Sie wollen. . . . General Vogl
steht zur Verfügung, Herr —"

„Das ist der neue Schießer", sagte Max zu uns und befahl mir, dem Vogl die Backstube
zu zeigen und ihn in die Gesellenkammer zu führen. Immer noch so fortredend folgte
mir der seltsame Mensch. —

Damit nahm also alles seinen Anfang. Max und wir alle dachten sicher, Vogl bleibe
keinen Tag, aber es kam anders, ganz anders.

In der ersten Nacht, als wir zwei in der Backstube unten ankamen und ich die Tröge
aufmachen wollte, hielt mich der Vogl zurück, und indem er sich fast bedeutungsvoll
hinstellte, sagte er: „Einen Moment. Oskarl, ein Momenterl, Siegfriedl, Aloisl. . . ."
„Oskar heiß' ich", sagte ich.

„Also Oskarl, Xaverl, Seraphimerl, Aloisl, Hansl, Nepomuck!" sprudelte er aus sich
hervor und erklärte: „Einen Menschen muß man alle Namen geben, die man weiß! Als-
dann hat er auch alle Eigenschaften, die man mag!"

Etwas beunruhigt dachte ich: Der ist verrückt! . . . Das kann ja nett werden! Aber
dazu war keine Zeit. Vogl stellte sich jetzt gewaltsam stramm, furchte seine Stirne und
machte eine militärische Miene. „Also merk' dir zuallererst —" rief er dementsprechend
und hob dabei warnend seinen spitzen Zeigefinger: „daß du mit dem Vogl verkehrst."
Es fiel mir auf, daß sich das reimte, noch unsicherer aber ging mir durch den Kopf:
„Ob wir da das Brot überhaupt fertig bringen, weiß ich nicht." In meiner Verwirrung
verzog sich mein Gesicht ein wenig.

„Du lachst, Nepomückl, Abraham? . .. Das geht nicht! Das geht absolut nicht!" fuhr
der sonderbare Mann beinahe befehlshaberisch fort: „Beim General Vogl geht alles nach
der Formalität! Sonst hat's keinen Zug und Schwung, verstehst du? Also pass' auf —

was der Vogl tut ist wohlgetan,

was andre Beekn tun, geht auch noch an,

aber —"

er fuhr idabei blitzschnell auf mich los und packte mein Hemd vorne an der Brust, daß
ich zurückschrak und schon meinte, jetzt bekomme er einen Anfall — „aber die verfluch-
ten Lehrbuben!". Er lachte auf einmal gemütlich und schloß: „Nur nicht schrecken lassen,
Ezechiell! Also jetzt fangen wir an. . . . Und zusammengeholfen wird wie Pech und Schwe-
fel, Siegfriedl!" Ich lachte auch ein wenig. Er ging an die Tröge und hob die Deckel.
Um es kurz zu machen und gleich zu sagen: Der Vogl war ein geradezu bewunderungs-
würdiger Bäcker. Schönere Semmeln, Eiweckerln, Kaisersemmeln, Brezen und Wecken hat
keiner vor und nach ihm je wieder fertiggebracht. Und alle früheren Gesellen hatten
mich stets von oben herab behandelt und viel verprügelt, beim Vogl gab es das nie, er
war grundonders. Wir arbeiteten gut zusammen, und das Allerschönste dabei war —,
es gab nie eine langweilige Viertelstunde bei ihm.

„Herrgott! Herrgott! . . . Die Semmeln geh'n nicht mehr in den Ofen hinein!" sagte er
schon in der ersten Nacht, obgleich er erst ein Brett voll drinnen hatte und noch Raum
für alle übrigen war. Ganz verstört schaute ich in sein todernstes Gesicht. Was war denn
nun das schon wieder?

„Ah, es ist doch noch der ganze Ofen leer. . . . Die geh'n doch noch leicht hinein!"
zweifelte ich vorsichtig.

„Ausgoschlossen!" bestritt Vogl: „Siegfriedl, Aloisl — sie geh'n nicht mehr hinein!"
„Ja, da wett' ich doch gleich eine Mark, daß die noch alle Platz haben!" wurde ich
kühner.

„Gut! ... Du sollst recht haben, Ezechiell!" sagte der Vogl und setzte sich hin: „Warten
wir. ob sie hineingeh'n." Ich schaute ihn an und begriff durchaus nicht.
„Geh'n die Semmeln vielleicht hinein?" fragte er nach einer Weile. „Ausgeschlossen, sie
haben keine Füß' nicht. . . ." Jetzt verstand ich, und der Vogl fing wieder zu arbeiten
an. Tausend solche Späße fielen ihm ein. Da war die Mühe nicht mehr Mühe, die Zeit
verflog nur so, der gute Vogl hantierte trotz seiner fünfzig Jahre wie ein Junger, und ich
stand ihm nicht nach. Schon nach der ersten Nacht wußte ich, daß dieser kleine, grau-
köpfige Mensch mir ans Herz gewachsen war.

Um vier Uhr in der Frühe kam die Mutter über die Stiege herunter. Gewohnheitsmäßig
schaute sie auf die vollen Brotkörbe und vergaß vor lauter Verblüffung das „Guten
Morgen"-sagen.

Der Vogl kam aus der Ofengrube auf sie zu und machte eine fast galante Verbeugung:
„Frau Beekmeisterin? General Vogl nimmt sich die Ehr', guten Morgen zu sagen. . . .
Semmeln, Eiweckerln, Kaisersemmeln — bloß für Majestäten! General Vogl-Semmeln!"
Es stimmte vollauf. Meine Mutter war glücklich.

Der Max aber meinte später etwas ironisch: „Naja, Glücksfall! Warten wir ab."
Der „Glücksfall" aber schien beim Vogl standzuhalten. Das Brot war jeden Tag gleich
schön. Jetzt verstummte der Max. Der Vogl blieb, der General hatte gesiegt. Keiner
aber war froher darüber als ich.

Nur eines sollte es beim Vogl nicht gegeben haben: Den Lohn. Den nämlich versoff er
jedesmal drüben in der Windlwirtschaft bis auf den letzten Heller. Er rutschte dann
unter den Tisch und fing heiser zu singen an. Alte, seltsam traurig klingende Reservisten-
lieder schrie er. Die Pächterin der Wirtschaft, eine sehr adrette, sich immer sehr wichtig-
machende Person, war zwar froh, in dieser flauen Herbstzeit einen so guten Bierkunden
zu bekommen, hinwiederum aber war sie doch auch bedacht darauf, sich's bei den besse-
ren Nachbarn nicht zu verderben. Also kam sie zu uns in den Laden herüber und sagte:
„Also Herr Bäckermax, also Ihr Schießer! ... Er hat einen Brandrausch und liegt bei
mir unterm Tisch!"

Der Max, dem es immer darum zu tun war, in allem recht zu behalten, bekam ein fast
triumphierendes Gesicht und sagte zur Mutter: „Na, was hab' ich gesagt? . . . Ein ganz
versoffener, untauglicher Kerl ist er, der Vogl! . . . Da werden wir ja morgen ein
Brot erleben!"

Zwei Stunden vor Arbeitsanfang kam der Vogl in die Gesellenkammer gewankt, sackte
auf meine Bettstatt, weckte mich und brüllte weiter: „Dru-hum Brüder stoßt die Gläser
an — ehes le-hebe der Reservemann —•". Er umschlang mich und sagte: „Hab nur keine
Angst, Aloisl, Xaverl, der General Vogl —". Er plapperte bierheiser, sank um und
schlief ein. Ich aber blieb bang wach, und als es Zeit war, weckte ich ihn. Er schnellte
auf, rieb mit der Hand über Augen und Haar, sagte resolut: „Ganze Kompanie, vorwärts!
Marsch! Angetreten. . . . General Vogl führt!" Ohne sich um etwas anderes zu küm-
mern, marschierte er im Stechschritt trampelnd den langen Gang entlang, landete mit
mir in der Backstube, und dann sagte er wieder ganz weich, fast wehleidig, indem er über
sein herausragendes Halszäpfchen strich: „Also, Oskarl, Rudolpherl, einen Durst hab'
ich . . . Ganz ausbrennt bin ich inwendig. Jetzt hol mir nur gleich eine Maß Bier. . . ."
Ich zögerte, denn nüchtern schaute der Vogl noch gar nicht aus.

„Ich hab kein Geld nimmer, Ezechiell! . . . Sagst zu der Wirtin, General Vogl zahlt am
Samstag", meinte er, dann ging ex zu den trögen und hob die Deckel auf. Ich holte
Bier und zahlte es insgeheim selber. Er setzte den Steinkrug an und trank buchstäblich
wie ein Verdurstender.

„Ah! A-aah! Siegfriedl, das vergess' ich dir nie. ... Du verstehst mich!" Sagte er
dankbar. Von dem gewaltigen Schluck, den er genommen hatte, waren seine kleinen
Augen herausgedrückt und fingen belebt zu glänzen an. Und dann — arbeiteten wir, als
ob nichts geschehen wäre. Das Brot war am andern Tag wie immer. Der Max war fast
ärgerlich.

„Aber das gibt's nicht, Schießer — die ganze Nacht das Singen und Plärren!" sagte er
zum Vogl, denn wenn er einen Rausch hatte, sang der Schießer die ganze Nacht seine
Lieder.

„Herr Beekmeister? General Vogl hat die Beschwerde gehört. ... Er hat sie zur Kennt-
nis (genommen!" sagte der Schießer mit unerschütterlicher Keckheit: „Aber wann ich mir
erlauben darf — was ist ihnen lieber? Ein gutes Brot oder Batzen?"
Der Max> konnte nichts mehr darauf sagen. v

„Aus! Schluß! Punktum! Dominus vobiscum!" stieß der Vogl heraus, machte eine
komisch-linkische, steife Kehrtbewegung und im Abtreten kommandierte er sich selbst:
„Abtreten, General Vogl! Höheren Ort's ist nichts einzuwenden!" Die Mutter, die Dirn,
meine Schwestern schüttelten den Kopf und lachten. Es war ihm nicht beizukommen,
dem Vogl. Das Bier und er gehörten zusammen, schier schon wie Körper und — ja, sagen
wir schon — Seele!

Schließlich aber haben sich im Lauf der Zeit zwei Vorfälle ereignet, die mir — ich kann
es nicht anders ausdrücken — den viellieben General Vogl entrissen haben.
Im darauffolgenden Sommer hatte sich eine kuriose Amerikanerin im Haus vom Sieben-
hüter, der in München Apotheker war, eingemietet. Dieses Haus stand direkt an der
Straße, die von unserem Oberdorf nach Unterberg hinabläuft. Eine kleine Wiesenfläche
ohne Gartenzaun breitete sich vor der Haustüre aus. Die Amerikanerin fiel uns dadurch
auf, daß sie trotz ihres allbekannten Reichtums keine Dienstboten hielt und stets alle
Türen weit offen ließ, ganz gleich, ob es Tag oder Nacht war. Einmal in einer solchen
Sommernacht hörten die Nachbarsleute aus der Siebenhüter-Villa gellende Hilferufe. Alles
stürzte mit Sensen, Mistgabeln und Dreschflegeln daher und fand im Schlafzimmer der
Amerikanerin, das zu ebener Erde lag — den um und um besoffenen General Vogl vor
dem Bett der schreienden, fuchtelnden Dame. Ohne wahrscheinlich zu wissen, wo er in
seinem Brandrausch war, und was er da eigentlich tat, gestikulierte der Vogl wild herum
und brüllte in einem fort abgehackt: „Ofen auf! Marsch-marsch! General Vogl siegt!
Semmeln her, Aloisl! Nichts wie Semmeln her, marsch-marsch. Das Vaterland soll leben!
Hoch! Hoch! Hoch! . . . Ofen zu! Obacht, Ezechiell, gleich werden wir Semmeln haben
— nur für Majestäten! Punktum! Schluß! Ofen auf! Raus damit!" Wie wildgeworden
fauchte er herum, dann fiel er schief über die entsetzt zurückweichende Amerikanerin auf
das Bett. Die Dame stürzte wie besessen im Nachthemd ins Freie. Die Dorfleute aber
—■ nachdem sie sich halbwegs gefaßt hatten —■ fingen laut zu lachen an und trugen den

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