DAS RÄTSELSPIEL
Aus dem neuesten Buch des bekannten amerikanischen
Zeichners und Humoristen James Thurber Der Mann
in mittleren Jahren am fliegenden Trapez".
Beim Nachhausekommen fand ich eine gedruckte Post-
karte folgenden Inhalts vor:
Ein Gegenstand wurde nach Ihrer Abreise in dem von
Ihnen bewohnten Zimmer gefunden. Teilen Sie uns
bitte mit, ob Sie einen solchen vermissen und machen Sie
uns in diesem Fall eine Beschreibung und Mitteilung,
wie Sie über denselben verfügen wollen. Wegen Platz-
mangels muß über jeden gefundenen Gegenstand inner-
halb von zwei Monaten verfügt werden.
Das Fundbüro des Lexington Hotels,
Lexington Avenue, New York, i. V.: R. E. Daley.
Sehr geehrter Herr Daley,
Die Sache ist weit verwickelter, als Sie annehmen. Bei-
nahe vierzehn Tage habe ich mit der Beantwortung
Ihrer Mitteilung gewartet, da ich mir nicht vorstellen
kann, was für einen Gegenstand ich zurückließ. Ich be-
dauere es jetzt, die ganze Angelegenheit nicht einfach
vergessen zu haben. Tatsächlich versuchte ich sie zu ver-
gessen, aber jetzt fängt sie an, mich zu verfolgen. Ich
bin das ganze Alphabet durchgegangen, nachts liege ich
wach und zähle mir alle Gegenstände auf: Bademantel,
Buch, Brieftasche, Bleistift, Baby. Mein Nervenarzt hat
mir geraten, mich mit Ihnen direkt in Verbindung zu
setzen.
Bis jetzt konnte ich zwei Gegenstände von vornherein
ausschließen. Ich erinnere mich nicht, jemals einen Schlaf-
anzug oder eine Haarbürste mitgenommen zu haben.
Daher kann es kein Schlafanzug oder keine Haarbürste
sein, die Sie gefunden haben. Ich habe jedoch das ganze
Haus durchstöbert und entdeckt, daß eine ganze Anzahl
Sachen fehlen; doch kann ich mich nicht entsinnen,
welche davon ich in jener Nacht ins „Lexington" mitge-
nommen habe: die Weste eines blauen Anzugs, meine
Lebensversicherungs-Policc, mein Scotch-Terrier „Jean-
nie", den Schraubenschlüssel aus meinem Auto-Werk-
zeugkasten, den Flaschenöffner, der in der Küchenschub-
DIE DAME
Im Jluß der Zeit, fast ohne Hemd,
ward eine Dame angeschwemmt.
Doch blieb sie hoheitsvoll die Dame,
denn was sie war, das war ihr "Name.
Wenn man sie sah, ging sie sehr grade,
als sei noch immer Wachtparade
und schien mit ab Stands gnäd' gern Lächeln
die Webenmenschen wegzufächeln.
Xein Leiden konnte sie belehren,
Herz und Verstand hervorzukehren.
So pflegte sie mit kühlem Hasse
Gesellschaftsordnung erster "Klasse.—
IVas macht man nun mit solcher Dame —
(Verzeihung — wie war doch der %ame7)
Sie ist, ein abgelegter Orden,
erfreulich selten heut geworden
und ist, so gänzlich unbeliebt,
vom Schicksal lange ausgesiebt. m.v<
lade liegen sollte, einen Brief meines Vaters, in dem er
mir die neue Adresse meines Bruders in Seattle mit-
teilte, einen exponierten Film für den Kodak, meine
Schreibmappe (seit 1927 vermißt) usw. Das von Ihnen
Gefundene kann einer von diesen Gegenständen sein
(mit Ausnahme der Schreibmappe).
Am meisten beunruhigt mich die Möglichkeit, daß ich in
meinem Zimmer etwas vergessen habe, das ich noch nicht
vermisse und vielleicht nie vermissen werde, außer Sie
geben mir einen Anhaltspunkt. Stammt es aus dem
Tier-, Pflanzen- oder Mineralreich? Ist es so groß wie
ich? Doppelt so groß? Kleiner als eine Männerhand?
Hat es einen Schraubverschluß? Macht es ein regelmäßi-
ges Tickgeräusch, wenn es aufgezogen ist? Hat es neu
einen Wert von ungefähr hundert Dollar? Tausend Dol-
lar? Fünfzig Cents? Es kann wohl kein Fläschchen mit
Zahnwehtropfen oder eine gebrauchte Rasierklinge sein?
Denn die habe ich absichtlich zurückgelassen. Mir schei-
nen diese Fragen nur allzu berechtigt. Ich will keine
weiteren an Sie richten, wie: kann man es mit Hose
und Jacke .eines blauen Anzugs tragen? Kann es bellen?
Ein Brief von jemandem? Bekommt jemand Geld dar-
auf, wenn ich tot bin?
Ich finde, Sie sollten mich wissen lassen, ob Sie die erste
Reihe der Fragen mit ja oder nein beantworten wollen,
wie das bei allen Spielen dieser Art üblich ist. Denn
wenn Sie nur mit einem törichten Lächeln dastehen, den
Kopf schütteln und immer wiederholen: „Falsch geraten,
falsch geraten!" — dann zum Teufel damit. Es ist mir
dann gleichgültig, selbst wenn es ein Brillantring ist.
Natürlich setze ich voraus, daß ich auch wirklich einen
Gegenstand in dem von mir innegehabten Zimmer zu-
rückgelassen habe. Wenn nicht, und diese Sache sich nur
als ein Rätselraten herausstellt, bei dem die Lösung
Robert E. Lee's Pferd oder etwas ähnliches ist, werden
Sie Gefahr laufen, ein ganzes Jahr lang von mir antele-
foniert zu werden. Ich werde dann mit verstellter
Stimme und unter verschiedenen falschen Namen
Dutzende von Zimmer bestellen, Ihnen ein Feuer im
21. Stock melden, Sie davon unterrichten, daß Ihr Bank-
konto überzogen sei, und in einem rauhen Baß vorgeben,
Sie seien der Nächste, mit dem sich eine Gangsterbande
beschäftigen werde, nachdem Joe-der-Killer drüben in
Brooklyn erschossen wurde.
Natürlich bin ich ein wenig verstimmt über die ganze
Angelegenheit. Hätten Sie als Gast in meinem Haus ge-
weilt und wären abgereist und hätten Ihre Uhr oder
Ihren Schlüsselring zurückgelassen, glauben Sie, ich hätte
Ihnen einfach eine Drucksachen-Postkarte geschickt und
von Ihnen verlangt, zu erraten, was Sie zurückgelassen
haben? Jetzt würde ich es tun, ja; aber ich meine, be-
vor das alles geschah. Angenommen, jeder würde so han-
deln, angenommen, Ihr reicher Erbonkel würde Ihnen
telegrafieren: „Komme nächsten Monat irgendwann
Grand-Central-Bahnhof an. Hole mich ab." Oder, noch
schlimmer, angenommen, 4as Gericht würde, statt eines
Strafbefehls, in dem ein tatsächliches Verbrechen oder
Vergehen aufgeführt ist, nur eine Postkarte schicken des
Inhalts: „Wir wissen, was Ihnen bevorsteht." Wir wären
alle nur noch Nervenbündel.
Die einzige Aufforderung, der ich jetzt gleich nachkom-
men will, ist eine Beschreibung des zurückgelassenen
Gegenstands. Es ist ein großes und verzwicktes eisernes
Ding, das gewöhnlich in einer Küchenschublade aufbe-
wahrt wird, und das meine Frau nach meinem Tode er-
mächtigt, einen gewissen Geldbetrag zu erheben; es
bellt, wenn es aufgezogen ist, und — außer um den
Kaffee zum Kochen zu bringen — läßt es die Flüssigkeit
auf den Herd überlaufen; es ist mit dem Namen meines
Vaters unterschrieben, lichtempfindlich, lindert neural-
gische Schmerzen und ist von dunkelblauer Farbe.
Natürlich habe ich denselben Verdacht, wie Sie ihn zu
haben scheinen: nämlich, daß der fragliche Gegenstand
nicht von mir, sondern von jemand anderem zurückge-
lassen wurde, der das Zimmer vor mir oder gleichzeitig
mit mir bewohnte, ohne daß einer von uns beiden vom
andern wußte. Und ich will Ihnen vagen warum. Am
Abend, an dem ich in Ihrem Hotel wei'te, nahm der
Zimmerkellner eine Nachricht aus dem Fach, als er mei-
nen Schlüssel holte. Der Brief war für einen Mr. Dono-
van bestimmt. Ich sagte dem Kellner, er sei nicht für
mich. „Wohnen Sie nicht mit einem Mr. Donovan «u-
sammen?" fragte er. Ich sagte nein, doch schien er nicht
überzeugt. Vielleicht gehörte das, was in meinem Zim-
mer zurückgelassen wurde, jenem Mr. Donovan. Mög-
licherweise haben sogar Mr. Donovan und ich dasselbe
Zimmer bewohnt, da seine Post in meinem Fach lag.
Vielleicht kam er gleich, nachdem ich das Zimmer ver-
lassen hatte, und ging jedesmal, kurz vor meiner Rück-
kehr, wieder fort. In New York ist alles möglich.
Jedenfalls bin ich froh, daß ich noch zwei Monate habe,
bevor der Gegenstand an die Versicherungs-Gesellschaft
gegeben oder zur Versteigerung gebracht wird, oder was
immer damit geschieht. Es läßt mir Zeit zum Nachdenken.
Autorisierte Übertragung von K. L. Wagenseil
VERRÄTERISCHE SPRACHE
Es gibt Worte, die man nicht mehr hören möchte, weil
sie eine Gesinnung verraten. Da ist z. B. das Wortmon-
strum „Kriegspotential". Ich verstehe nichts davon,
aber ich glaube, es ist eine mathematisch-statistische
Einheit, bestehend aus so und so viel Teilen Kriegs-
material: „Menschenmaterial", Materialreserven und
„Menschenreserven", kurzum aus „Menschen und Ma-
terial", die vom „stark übersetzten Arbeitsmarkt" frei-
gemacht werden.
Man mißt die Kraft einer Maschine nach PS (Pferde-
stärke). Sollte man die kriegerische Stoßkraft eines Vol-
kes nicht tunlichst nach MS (Menschenstärke) messen? So
und so viel tausend MS macht ein KP (Kriegspotential).
So und so viel KP macht einen Krieg!
Mir gefallen schon viel harmlosere Ausdrück« nicht,
z. B. solche, die das Essen betreffen. Ich gestehe offen, ich
esse gerne, weil es mir schmeckt. Aber es schmeckt mir
nicht mehr recht, wenn ich „Lebensmittel" oder „Nah-
rungsmittel" essen soll. Ich kann mir nicht helfen, es er-
innert mich immer an Futtermittel, ich meine sowohl die
für das liebe Vieh wie die für den Schneider, denn Nah-
rungsmittel haben ja den Zweck, auf dem Wege über
den Magen allmählich auch die Weste zu füllen.
Ich esse oder aß gerne „nach der Karte" weniger gerne
nach der Lebensmittelkarte. Mir schmecken Haferfloc-
ken und Hülsenfrüchte sehr gut. Aber wenn ich sie als
„Nährmittel" zu mir nehmen soll, vergeht mir schon
der halbe Appetit. Ich rauche gerne Zigarren oder Ziga-
retten, am liebsten beides. Und guten Bohnenkaffee liebe
ich geradezu. Aber man rede mir bei solchen schönen
Sachen nicht von „Genußmitteln". Ist Luft etwa ein
„Atmungsmittel" und Liebe (pardon!) ein „Fortpflan-
zungsmittel"?
Ich gestehe, mir macht Essen und Trinken und all das
erst Spaß, wenn es nicht mehr bloß Nahrungs- oder
Futter-, Nähr- oder Genußmittel ist. Und Liebe? . . .
Heute muß es ja leider heißen: Spaß beiseite! Less
Die Kunstbetrachtung:
«EXPOSITION CONTEMPORAINE»
.Harte Männer' ,wimmern' wie, Wagner' in der ,Breninger'-
straße. Am ,Ende' wird ,Geitlinger' noch ,schlichter' a's
,Kirchner'.
NEUE BÜCHER
Der^rrw-eg einer Nation
Alexander Jbusö?
Aufbau-Verlag • Berlin 1946
Mit tief schürfender, von umfassendem Wissen gestützter Gründlich-
keit sucht der Verfasser des Buches alle Ursachen zu ermitteln, die
das tragische Schicksal des deutschen Volkes bestimmt haben. Es
ist Verdienst des Autors, zum ersten Male für die vielfachen, oft
schwer durchschaubaren und scheinbar verschiedenartigsten Gründe
einen gemeinsamen Ausgangspunkt gefunden zu haben und dessen
Ausstrahlung von den Bauernkriegen bis zur Katastrophe unserer
Tage nachzuweisen. Dabei galt es freilich, die deutsche Geschichte
von allem jenem romantisch wuchernden Rankenwerk zu befreien
das eine submisse Geschichtsverfälschung unter Kaisertum und
Nationalsozialismus darüber gesponnen hatte. Dem deutschen Volk
selber, das sich nach unzulänglichen, verzettelten und im Keime
stecken gebliebenen Widerständen immer wieder dem Despotismus,
Militarismus und Junkertum willenlos ergab, bleibt kein Vorwurf
erspart. Dieser Vorwurf aber, unwiderleglich begründet, ist am
Wendepunkt unserer Geschichte — wenn wir ihn als solchen erkennen
— zugleich als Heilmittel zu werten. Es heifit: Wahrhafte, unver-
fälschte, nach dem Muster westlicher Länder ausgerichtete demo-
kratische Gesinnung.
Adam Kuckhoff zum Gedenken
Tterausqegeben und eingeleitet von Qreta XwcMo/f
Aufbau-Verlag ■ Berlin 1946
Unter den Opfern nazistischer Blutherrschatt, die empfindliche Lük-
ken in unserem kulturellen Leben hinterließen, bleibt Adam K.ck-
hoff unvergessen. In eine aufgewühlte Zeit geistiger und sozialer
Probleme hineingewachsen, wie sie an entscheidungsvollem Gewicht
noch niemals der Menschheit gestellt worden waren, hatte sich
Kuckhoff tapferen Herzens zum Häuflein der Kämpfer geschlagen,
der Unbeirrbaren und Unbeugsamen, die bereit waren, zu handeln
und zu sterben. Er mußte als Märtyrer für die Freiheit des Geistes
fallen, doch sein Vermächtnis lebt und steht unter der Glorie des
Sieges.—Greta Kuckhoff zeichnete mit ihren einleitenden Worten
ein lebensvolles Bild des Dichters, Dramaturgen und Essayisten. Es
findet durch den Inhalt des Buches, literarische Hinterlassenschaf-
ten und Briefe, seine Bestätigung. Herz und Geist durchdringen sich
und werden von der Leuchtkraft eines edlenWortschatzes überstrahlt.
J. IV.
Der SIMPL erscheint vorläufig 14täglich
Verlag: »DER SIMPL< (Freitag-Verlag),München 23, Werneck-
straßel5a —Verantwortlicher Hauptschriftleiter: W. E. Fre i tag,
Stellv.: J. Gutbrod — Schriftleitung: München 23, Werneck-
straße 15a, Fernruf:362072 — Sprechstunden: Dienstag, Donners-
tag und Samstag jeweils von 9 —12 Uhr — Druck: Miinchener
Graph. Kunstanstalten (aus F. Bruckmann) München 2 - Copyright
by Freitag-Verlag 1946 — Published under Military Government
Information Control Licence No. US-E-148
134
Aus dem neuesten Buch des bekannten amerikanischen
Zeichners und Humoristen James Thurber Der Mann
in mittleren Jahren am fliegenden Trapez".
Beim Nachhausekommen fand ich eine gedruckte Post-
karte folgenden Inhalts vor:
Ein Gegenstand wurde nach Ihrer Abreise in dem von
Ihnen bewohnten Zimmer gefunden. Teilen Sie uns
bitte mit, ob Sie einen solchen vermissen und machen Sie
uns in diesem Fall eine Beschreibung und Mitteilung,
wie Sie über denselben verfügen wollen. Wegen Platz-
mangels muß über jeden gefundenen Gegenstand inner-
halb von zwei Monaten verfügt werden.
Das Fundbüro des Lexington Hotels,
Lexington Avenue, New York, i. V.: R. E. Daley.
Sehr geehrter Herr Daley,
Die Sache ist weit verwickelter, als Sie annehmen. Bei-
nahe vierzehn Tage habe ich mit der Beantwortung
Ihrer Mitteilung gewartet, da ich mir nicht vorstellen
kann, was für einen Gegenstand ich zurückließ. Ich be-
dauere es jetzt, die ganze Angelegenheit nicht einfach
vergessen zu haben. Tatsächlich versuchte ich sie zu ver-
gessen, aber jetzt fängt sie an, mich zu verfolgen. Ich
bin das ganze Alphabet durchgegangen, nachts liege ich
wach und zähle mir alle Gegenstände auf: Bademantel,
Buch, Brieftasche, Bleistift, Baby. Mein Nervenarzt hat
mir geraten, mich mit Ihnen direkt in Verbindung zu
setzen.
Bis jetzt konnte ich zwei Gegenstände von vornherein
ausschließen. Ich erinnere mich nicht, jemals einen Schlaf-
anzug oder eine Haarbürste mitgenommen zu haben.
Daher kann es kein Schlafanzug oder keine Haarbürste
sein, die Sie gefunden haben. Ich habe jedoch das ganze
Haus durchstöbert und entdeckt, daß eine ganze Anzahl
Sachen fehlen; doch kann ich mich nicht entsinnen,
welche davon ich in jener Nacht ins „Lexington" mitge-
nommen habe: die Weste eines blauen Anzugs, meine
Lebensversicherungs-Policc, mein Scotch-Terrier „Jean-
nie", den Schraubenschlüssel aus meinem Auto-Werk-
zeugkasten, den Flaschenöffner, der in der Küchenschub-
DIE DAME
Im Jluß der Zeit, fast ohne Hemd,
ward eine Dame angeschwemmt.
Doch blieb sie hoheitsvoll die Dame,
denn was sie war, das war ihr "Name.
Wenn man sie sah, ging sie sehr grade,
als sei noch immer Wachtparade
und schien mit ab Stands gnäd' gern Lächeln
die Webenmenschen wegzufächeln.
Xein Leiden konnte sie belehren,
Herz und Verstand hervorzukehren.
So pflegte sie mit kühlem Hasse
Gesellschaftsordnung erster "Klasse.—
IVas macht man nun mit solcher Dame —
(Verzeihung — wie war doch der %ame7)
Sie ist, ein abgelegter Orden,
erfreulich selten heut geworden
und ist, so gänzlich unbeliebt,
vom Schicksal lange ausgesiebt. m.v<
lade liegen sollte, einen Brief meines Vaters, in dem er
mir die neue Adresse meines Bruders in Seattle mit-
teilte, einen exponierten Film für den Kodak, meine
Schreibmappe (seit 1927 vermißt) usw. Das von Ihnen
Gefundene kann einer von diesen Gegenständen sein
(mit Ausnahme der Schreibmappe).
Am meisten beunruhigt mich die Möglichkeit, daß ich in
meinem Zimmer etwas vergessen habe, das ich noch nicht
vermisse und vielleicht nie vermissen werde, außer Sie
geben mir einen Anhaltspunkt. Stammt es aus dem
Tier-, Pflanzen- oder Mineralreich? Ist es so groß wie
ich? Doppelt so groß? Kleiner als eine Männerhand?
Hat es einen Schraubverschluß? Macht es ein regelmäßi-
ges Tickgeräusch, wenn es aufgezogen ist? Hat es neu
einen Wert von ungefähr hundert Dollar? Tausend Dol-
lar? Fünfzig Cents? Es kann wohl kein Fläschchen mit
Zahnwehtropfen oder eine gebrauchte Rasierklinge sein?
Denn die habe ich absichtlich zurückgelassen. Mir schei-
nen diese Fragen nur allzu berechtigt. Ich will keine
weiteren an Sie richten, wie: kann man es mit Hose
und Jacke .eines blauen Anzugs tragen? Kann es bellen?
Ein Brief von jemandem? Bekommt jemand Geld dar-
auf, wenn ich tot bin?
Ich finde, Sie sollten mich wissen lassen, ob Sie die erste
Reihe der Fragen mit ja oder nein beantworten wollen,
wie das bei allen Spielen dieser Art üblich ist. Denn
wenn Sie nur mit einem törichten Lächeln dastehen, den
Kopf schütteln und immer wiederholen: „Falsch geraten,
falsch geraten!" — dann zum Teufel damit. Es ist mir
dann gleichgültig, selbst wenn es ein Brillantring ist.
Natürlich setze ich voraus, daß ich auch wirklich einen
Gegenstand in dem von mir innegehabten Zimmer zu-
rückgelassen habe. Wenn nicht, und diese Sache sich nur
als ein Rätselraten herausstellt, bei dem die Lösung
Robert E. Lee's Pferd oder etwas ähnliches ist, werden
Sie Gefahr laufen, ein ganzes Jahr lang von mir antele-
foniert zu werden. Ich werde dann mit verstellter
Stimme und unter verschiedenen falschen Namen
Dutzende von Zimmer bestellen, Ihnen ein Feuer im
21. Stock melden, Sie davon unterrichten, daß Ihr Bank-
konto überzogen sei, und in einem rauhen Baß vorgeben,
Sie seien der Nächste, mit dem sich eine Gangsterbande
beschäftigen werde, nachdem Joe-der-Killer drüben in
Brooklyn erschossen wurde.
Natürlich bin ich ein wenig verstimmt über die ganze
Angelegenheit. Hätten Sie als Gast in meinem Haus ge-
weilt und wären abgereist und hätten Ihre Uhr oder
Ihren Schlüsselring zurückgelassen, glauben Sie, ich hätte
Ihnen einfach eine Drucksachen-Postkarte geschickt und
von Ihnen verlangt, zu erraten, was Sie zurückgelassen
haben? Jetzt würde ich es tun, ja; aber ich meine, be-
vor das alles geschah. Angenommen, jeder würde so han-
deln, angenommen, Ihr reicher Erbonkel würde Ihnen
telegrafieren: „Komme nächsten Monat irgendwann
Grand-Central-Bahnhof an. Hole mich ab." Oder, noch
schlimmer, angenommen, 4as Gericht würde, statt eines
Strafbefehls, in dem ein tatsächliches Verbrechen oder
Vergehen aufgeführt ist, nur eine Postkarte schicken des
Inhalts: „Wir wissen, was Ihnen bevorsteht." Wir wären
alle nur noch Nervenbündel.
Die einzige Aufforderung, der ich jetzt gleich nachkom-
men will, ist eine Beschreibung des zurückgelassenen
Gegenstands. Es ist ein großes und verzwicktes eisernes
Ding, das gewöhnlich in einer Küchenschublade aufbe-
wahrt wird, und das meine Frau nach meinem Tode er-
mächtigt, einen gewissen Geldbetrag zu erheben; es
bellt, wenn es aufgezogen ist, und — außer um den
Kaffee zum Kochen zu bringen — läßt es die Flüssigkeit
auf den Herd überlaufen; es ist mit dem Namen meines
Vaters unterschrieben, lichtempfindlich, lindert neural-
gische Schmerzen und ist von dunkelblauer Farbe.
Natürlich habe ich denselben Verdacht, wie Sie ihn zu
haben scheinen: nämlich, daß der fragliche Gegenstand
nicht von mir, sondern von jemand anderem zurückge-
lassen wurde, der das Zimmer vor mir oder gleichzeitig
mit mir bewohnte, ohne daß einer von uns beiden vom
andern wußte. Und ich will Ihnen vagen warum. Am
Abend, an dem ich in Ihrem Hotel wei'te, nahm der
Zimmerkellner eine Nachricht aus dem Fach, als er mei-
nen Schlüssel holte. Der Brief war für einen Mr. Dono-
van bestimmt. Ich sagte dem Kellner, er sei nicht für
mich. „Wohnen Sie nicht mit einem Mr. Donovan «u-
sammen?" fragte er. Ich sagte nein, doch schien er nicht
überzeugt. Vielleicht gehörte das, was in meinem Zim-
mer zurückgelassen wurde, jenem Mr. Donovan. Mög-
licherweise haben sogar Mr. Donovan und ich dasselbe
Zimmer bewohnt, da seine Post in meinem Fach lag.
Vielleicht kam er gleich, nachdem ich das Zimmer ver-
lassen hatte, und ging jedesmal, kurz vor meiner Rück-
kehr, wieder fort. In New York ist alles möglich.
Jedenfalls bin ich froh, daß ich noch zwei Monate habe,
bevor der Gegenstand an die Versicherungs-Gesellschaft
gegeben oder zur Versteigerung gebracht wird, oder was
immer damit geschieht. Es läßt mir Zeit zum Nachdenken.
Autorisierte Übertragung von K. L. Wagenseil
VERRÄTERISCHE SPRACHE
Es gibt Worte, die man nicht mehr hören möchte, weil
sie eine Gesinnung verraten. Da ist z. B. das Wortmon-
strum „Kriegspotential". Ich verstehe nichts davon,
aber ich glaube, es ist eine mathematisch-statistische
Einheit, bestehend aus so und so viel Teilen Kriegs-
material: „Menschenmaterial", Materialreserven und
„Menschenreserven", kurzum aus „Menschen und Ma-
terial", die vom „stark übersetzten Arbeitsmarkt" frei-
gemacht werden.
Man mißt die Kraft einer Maschine nach PS (Pferde-
stärke). Sollte man die kriegerische Stoßkraft eines Vol-
kes nicht tunlichst nach MS (Menschenstärke) messen? So
und so viel tausend MS macht ein KP (Kriegspotential).
So und so viel KP macht einen Krieg!
Mir gefallen schon viel harmlosere Ausdrück« nicht,
z. B. solche, die das Essen betreffen. Ich gestehe offen, ich
esse gerne, weil es mir schmeckt. Aber es schmeckt mir
nicht mehr recht, wenn ich „Lebensmittel" oder „Nah-
rungsmittel" essen soll. Ich kann mir nicht helfen, es er-
innert mich immer an Futtermittel, ich meine sowohl die
für das liebe Vieh wie die für den Schneider, denn Nah-
rungsmittel haben ja den Zweck, auf dem Wege über
den Magen allmählich auch die Weste zu füllen.
Ich esse oder aß gerne „nach der Karte" weniger gerne
nach der Lebensmittelkarte. Mir schmecken Haferfloc-
ken und Hülsenfrüchte sehr gut. Aber wenn ich sie als
„Nährmittel" zu mir nehmen soll, vergeht mir schon
der halbe Appetit. Ich rauche gerne Zigarren oder Ziga-
retten, am liebsten beides. Und guten Bohnenkaffee liebe
ich geradezu. Aber man rede mir bei solchen schönen
Sachen nicht von „Genußmitteln". Ist Luft etwa ein
„Atmungsmittel" und Liebe (pardon!) ein „Fortpflan-
zungsmittel"?
Ich gestehe, mir macht Essen und Trinken und all das
erst Spaß, wenn es nicht mehr bloß Nahrungs- oder
Futter-, Nähr- oder Genußmittel ist. Und Liebe? . . .
Heute muß es ja leider heißen: Spaß beiseite! Less
Die Kunstbetrachtung:
«EXPOSITION CONTEMPORAINE»
.Harte Männer' ,wimmern' wie, Wagner' in der ,Breninger'-
straße. Am ,Ende' wird ,Geitlinger' noch ,schlichter' a's
,Kirchner'.
NEUE BÜCHER
Der^rrw-eg einer Nation
Alexander Jbusö?
Aufbau-Verlag • Berlin 1946
Mit tief schürfender, von umfassendem Wissen gestützter Gründlich-
keit sucht der Verfasser des Buches alle Ursachen zu ermitteln, die
das tragische Schicksal des deutschen Volkes bestimmt haben. Es
ist Verdienst des Autors, zum ersten Male für die vielfachen, oft
schwer durchschaubaren und scheinbar verschiedenartigsten Gründe
einen gemeinsamen Ausgangspunkt gefunden zu haben und dessen
Ausstrahlung von den Bauernkriegen bis zur Katastrophe unserer
Tage nachzuweisen. Dabei galt es freilich, die deutsche Geschichte
von allem jenem romantisch wuchernden Rankenwerk zu befreien
das eine submisse Geschichtsverfälschung unter Kaisertum und
Nationalsozialismus darüber gesponnen hatte. Dem deutschen Volk
selber, das sich nach unzulänglichen, verzettelten und im Keime
stecken gebliebenen Widerständen immer wieder dem Despotismus,
Militarismus und Junkertum willenlos ergab, bleibt kein Vorwurf
erspart. Dieser Vorwurf aber, unwiderleglich begründet, ist am
Wendepunkt unserer Geschichte — wenn wir ihn als solchen erkennen
— zugleich als Heilmittel zu werten. Es heifit: Wahrhafte, unver-
fälschte, nach dem Muster westlicher Länder ausgerichtete demo-
kratische Gesinnung.
Adam Kuckhoff zum Gedenken
Tterausqegeben und eingeleitet von Qreta XwcMo/f
Aufbau-Verlag ■ Berlin 1946
Unter den Opfern nazistischer Blutherrschatt, die empfindliche Lük-
ken in unserem kulturellen Leben hinterließen, bleibt Adam K.ck-
hoff unvergessen. In eine aufgewühlte Zeit geistiger und sozialer
Probleme hineingewachsen, wie sie an entscheidungsvollem Gewicht
noch niemals der Menschheit gestellt worden waren, hatte sich
Kuckhoff tapferen Herzens zum Häuflein der Kämpfer geschlagen,
der Unbeirrbaren und Unbeugsamen, die bereit waren, zu handeln
und zu sterben. Er mußte als Märtyrer für die Freiheit des Geistes
fallen, doch sein Vermächtnis lebt und steht unter der Glorie des
Sieges.—Greta Kuckhoff zeichnete mit ihren einleitenden Worten
ein lebensvolles Bild des Dichters, Dramaturgen und Essayisten. Es
findet durch den Inhalt des Buches, literarische Hinterlassenschaf-
ten und Briefe, seine Bestätigung. Herz und Geist durchdringen sich
und werden von der Leuchtkraft eines edlenWortschatzes überstrahlt.
J. IV.
Der SIMPL erscheint vorläufig 14täglich
Verlag: »DER SIMPL< (Freitag-Verlag),München 23, Werneck-
straßel5a —Verantwortlicher Hauptschriftleiter: W. E. Fre i tag,
Stellv.: J. Gutbrod — Schriftleitung: München 23, Werneck-
straße 15a, Fernruf:362072 — Sprechstunden: Dienstag, Donners-
tag und Samstag jeweils von 9 —12 Uhr — Druck: Miinchener
Graph. Kunstanstalten (aus F. Bruckmann) München 2 - Copyright
by Freitag-Verlag 1946 — Published under Military Government
Information Control Licence No. US-E-148
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Die Dame"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 11, S. 134.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg