DIE ILLUSION
Hat man nicht oft den Drang, einmal wenigstens vor-
übergehend das ausgefahrene Gleis zu verlassen, einmal
wieder — wenn auch nur in dei Einbildung ■— wieder
zu leben wie früher; nicht an Tiümmer, an den Hunger
und die Müdigkeit von morgen zu denken, sondern, wie
der Vogel Strauß den Kopf in den Sand, so das ganze
Ich in eine Umgebung zu stecken, die eine andere Welt
vortäuscht? Hat man nicht den Drang? Ich hatte ihn
auch und ging, da mir nichts anderes einfiel, in den „Der-
nier cri" der zertrümmerten Stadt, in die Tanzbar.
Ja, so was gibt es schon wieder, tatsächlich! Ich hätte es
selbst nicht geglaubt, wenn ich nicht — gerade mal wie-
der auf Reisen — abends von einem Bekannten in „eine
solche" geschleppt worden wäre. Es ist eine Tanzbar
großen Stils, wirklich nett aufgezogen. Tolle Beleuch-
tung, nettes Orchester, „unterhaltsame" Vorführungen
und zwischendurch Tanz auf erleuchteter bunter Glas-
fläche. Na bitte' Allerdings das, was sonst eine gute Bar
auszeichnete, nämlich die unerhörten Getränke, fehlt
leider völlig. Unerhört sind höchstens die Preise, doch
das ist schließlich nichts Außergewöhnliches heute.
Der Conferencier, pflichtgemäß als erster im Rund er-
scheinend, bemüht sich krampfhaft in „weancrischer" Lie-
benswürdigkeit zu machen. „Das darf ja nicht wahr sein,
gnädige Frau!" begrüßt er jede neu kommende „Gästin",
wobei er ihr jovial die Rechte und sich in seinem zu wei-
ten Anzug schüttelt. Seinem Schütteln folgt eine Roll-
sdiuhkünstlerin, zwar etwas bejahrt, aber durch beson-
ders „diskrete und intime" Beleuchtung während ihrer
Vorführungen doch noch ins rechte Licht gesetzt. Als
Clou des Abends sagt dann der Schüttler eine Dame an,
„die zur Marlene-Dietrich-Interprctin geradezu präde-
stiniert sei". Und so war's denn auch! Diejenigen aus
dem staunenden Publikum, die sich unter der solcher-
maßen avisierten Dame nun etwas einer Sängerin Ähn-
liches vorgestellt hatten ( zu meiner Schande muß ich ge-
stchen, ich gehörte auch dazu!), zeigen sich als mit viel
zu schwacher Phantasie begabt. Man sieht nämlich nur
— mit fassungslosem Staunen — ein ganz gut gewachse-
nes hochblondes Mädchen, mit kaum mehr als einer
extravagant langen Zigaiettenspitze bekleidet, langsam
mehrmals über die Tanzfläche schreiten, wozu der An-
zugschüttler das Lied „Ich bin von Kopf bis Fuß auf
Liebe eingestellt!" singt. Erst viel später komme ich da-
hinter, daß das „blonde Gift" laut Programm eine Tän-
zerin ist. So was muß einem ja schließlich gesagt werden!
Zwischen den einzelnen Darbietungen schwingt die —
wenn auch bunt, so doch verhältnismäßig gut gemischte
— Gesellschaft das Tanzbein. Wobei mir bis heute noch
nicht klar ist, welches nun eigentlich, da wir doch Zwei-
füßler sind, das Tanzbein ist, und wie dann das arme
übrigbleibende genannt wird. Doch das nur nebenbei!
Alles in allem jedenfalls, man unterhält sich, sofern man
sich Phantasie und Sinn für Illusion bewahrt hat. Wozu
nicht zuletzt die gedämpfte Beleuchtung beiträgt, die
schamhaft und gnädig zugleich die schiefgetretenen Ab-
sätze, die gestopften und mit Tinte aufgebesserten dunk-
len Anzüge und die eingefallenen Gesichter in ihr Däm-
merlicht hüllt.
Illusion! Bis man den Nachhauseweg antritt und einem
der Mond gespenstisch durch die Häuserruinen leuchtet,
einem die kahlen Fensterhöhlen entgegenstarren und die
Gerippe zerborstener Eisenträger in ungewissem Mond-
licht wie Spinnenfinger nach einem zu greifen scheinen.
Auch Illusion, doch auf dem Boden harter Tatsachen!
Nein, noch ist uns nicht der Trank Lethe gesdienkt, der
uns alles vergessen läßt. Ob es uns die Tanzbar zwi-
schen den Trümmern lehren kann? Kaum! M. Roth
LEBENSGEFAHR
KL Mactens
Klaviersteuer in Gera
J Wisbecl
„Menschenskind, sind Sie unter die Straßenbahn gekommen?" — „Nicht unter, aber heraus!"
„Baule, hör uff zu glimbern, sonsd
zeichd dich dar Bloggward an!"
KRIEGSVERBRECHER Nr. 1
Nein — falsch geraten! Es handelt sich nicht um Adolf.
Auch um keinen seiner Nürnberger Vasallen. Der Haupt-
schuldige am Unglück Europas ist ein ganz anderer
Mann. Es ist der ehemalige Leiter der Wiener Kunst-
akademie. Das wußten Sie noch nicht? Uberlegen Sie mal.
Der JünglingAdolf hielt sich für ein künstlenschesGcnie.
Et zeichnete. Seine Arbeiten legte er der Wiener Kunst-
akademie vor, als er sich um Aufnahme bewarb. Er fiel
durch. Man hielt ihn, den Einmaligen, für einen unbe-
gabten Dilettanten.
Das verbitterte den verhinderten Baumeister des späte-
ren Dritten Reichs. Er litt von nun ab an jener Krank-
heit, die ein anderer verdächtiger Wiener, dei Herr Freud,
als Verdrängung bezeichnet. Wien wollte von ihm nicht
an einem Tage gebaut werden. Es ließ sich nidit an-
schmieren. So beschloß er, mit seinen Zeichnungen ins
Große zu gehen und eine neue Welt schlagartig aufzu-
bauen. Von den Bildern, die er nun an die europäische
Projektionsflädie werfen würde, mußte die Welt Notiz
nehmen.
Verhinderte Genies werden oft gefährlich. Sie brauchen
Ventile. Sie braudien Absatzmärkte für die Erzeugnisse
ihres brodelnden Innenlebens. Im M.ilcr und Ardiitekten
Adolf brodelte es bedenklich, nachdem ihn die Wiener
Kunstakademie abgewiesen hatte. Sein Ventil wurde die
Partei der deutschen Unzufriedenen, der verhinderten
Sieger des ersten Weltkriegs. Sein Absatzmarkt ganz
Europa.
Darum werden Sie mir rechtgeben, wenn ich erkläre:
Kriegsverbredier Nr. i ist jener damalige Leiter der
Wiener Kunstakademie. Hätte er dem ehrgeizigen Adolt
Pinsel und Zirkel überlassen, dann hätte der weder in
den braunen Farbtopf gegriffen, noch seine Kreise über
ganz Europa gezogen. Wo steckt jener? Man stelle ihn.
Eva Sicwcrt
Die erste Schwalbe
Länger als tausend Jahre hat Kloster Tegernsee bestan-
den, länger als das „Dritte Reidi" bestehen sollte. Man
feierte in diesen Tagen seinen zwölfhundertsten Geburts-
tag. Man feierte ihn mit Kirchenfesten, mit Tannengir-
landcn, mit Musik und Umzügen, und man hatte auch
manche Wand frisdi gestrichen zum festlichen Tage und
somit auch die Innenwände eines Häuschens am See, das
zu jedes Mannes Benutzung bereitsteht. Frischgestrichene
Wände an solchen Orten haben eine unwiderstehliche
Anziehungskraft für reditsstchcnde Politiker, um hier
auf das Volk aufklärend zu wirken. In ihnen können
wir die Urzelle von Goebbels' Propagandaministerium
sehen. So stand denn neulidi nach den festlichen Tagen
am Tegernsee auf der frisdi gekalkten Wand die mar-
kige Inschrift „Heil Hitler". Gerührt mögen es die Nazis
gelesen haben: die erste Schwalbe in der Bedürfnisan-
stalt am Tegernsee. Fo.
>7'
Hat man nicht oft den Drang, einmal wenigstens vor-
übergehend das ausgefahrene Gleis zu verlassen, einmal
wieder — wenn auch nur in dei Einbildung ■— wieder
zu leben wie früher; nicht an Tiümmer, an den Hunger
und die Müdigkeit von morgen zu denken, sondern, wie
der Vogel Strauß den Kopf in den Sand, so das ganze
Ich in eine Umgebung zu stecken, die eine andere Welt
vortäuscht? Hat man nicht den Drang? Ich hatte ihn
auch und ging, da mir nichts anderes einfiel, in den „Der-
nier cri" der zertrümmerten Stadt, in die Tanzbar.
Ja, so was gibt es schon wieder, tatsächlich! Ich hätte es
selbst nicht geglaubt, wenn ich nicht — gerade mal wie-
der auf Reisen — abends von einem Bekannten in „eine
solche" geschleppt worden wäre. Es ist eine Tanzbar
großen Stils, wirklich nett aufgezogen. Tolle Beleuch-
tung, nettes Orchester, „unterhaltsame" Vorführungen
und zwischendurch Tanz auf erleuchteter bunter Glas-
fläche. Na bitte' Allerdings das, was sonst eine gute Bar
auszeichnete, nämlich die unerhörten Getränke, fehlt
leider völlig. Unerhört sind höchstens die Preise, doch
das ist schließlich nichts Außergewöhnliches heute.
Der Conferencier, pflichtgemäß als erster im Rund er-
scheinend, bemüht sich krampfhaft in „weancrischer" Lie-
benswürdigkeit zu machen. „Das darf ja nicht wahr sein,
gnädige Frau!" begrüßt er jede neu kommende „Gästin",
wobei er ihr jovial die Rechte und sich in seinem zu wei-
ten Anzug schüttelt. Seinem Schütteln folgt eine Roll-
sdiuhkünstlerin, zwar etwas bejahrt, aber durch beson-
ders „diskrete und intime" Beleuchtung während ihrer
Vorführungen doch noch ins rechte Licht gesetzt. Als
Clou des Abends sagt dann der Schüttler eine Dame an,
„die zur Marlene-Dietrich-Interprctin geradezu präde-
stiniert sei". Und so war's denn auch! Diejenigen aus
dem staunenden Publikum, die sich unter der solcher-
maßen avisierten Dame nun etwas einer Sängerin Ähn-
liches vorgestellt hatten ( zu meiner Schande muß ich ge-
stchen, ich gehörte auch dazu!), zeigen sich als mit viel
zu schwacher Phantasie begabt. Man sieht nämlich nur
— mit fassungslosem Staunen — ein ganz gut gewachse-
nes hochblondes Mädchen, mit kaum mehr als einer
extravagant langen Zigaiettenspitze bekleidet, langsam
mehrmals über die Tanzfläche schreiten, wozu der An-
zugschüttler das Lied „Ich bin von Kopf bis Fuß auf
Liebe eingestellt!" singt. Erst viel später komme ich da-
hinter, daß das „blonde Gift" laut Programm eine Tän-
zerin ist. So was muß einem ja schließlich gesagt werden!
Zwischen den einzelnen Darbietungen schwingt die —
wenn auch bunt, so doch verhältnismäßig gut gemischte
— Gesellschaft das Tanzbein. Wobei mir bis heute noch
nicht klar ist, welches nun eigentlich, da wir doch Zwei-
füßler sind, das Tanzbein ist, und wie dann das arme
übrigbleibende genannt wird. Doch das nur nebenbei!
Alles in allem jedenfalls, man unterhält sich, sofern man
sich Phantasie und Sinn für Illusion bewahrt hat. Wozu
nicht zuletzt die gedämpfte Beleuchtung beiträgt, die
schamhaft und gnädig zugleich die schiefgetretenen Ab-
sätze, die gestopften und mit Tinte aufgebesserten dunk-
len Anzüge und die eingefallenen Gesichter in ihr Däm-
merlicht hüllt.
Illusion! Bis man den Nachhauseweg antritt und einem
der Mond gespenstisch durch die Häuserruinen leuchtet,
einem die kahlen Fensterhöhlen entgegenstarren und die
Gerippe zerborstener Eisenträger in ungewissem Mond-
licht wie Spinnenfinger nach einem zu greifen scheinen.
Auch Illusion, doch auf dem Boden harter Tatsachen!
Nein, noch ist uns nicht der Trank Lethe gesdienkt, der
uns alles vergessen läßt. Ob es uns die Tanzbar zwi-
schen den Trümmern lehren kann? Kaum! M. Roth
LEBENSGEFAHR
KL Mactens
Klaviersteuer in Gera
J Wisbecl
„Menschenskind, sind Sie unter die Straßenbahn gekommen?" — „Nicht unter, aber heraus!"
„Baule, hör uff zu glimbern, sonsd
zeichd dich dar Bloggward an!"
KRIEGSVERBRECHER Nr. 1
Nein — falsch geraten! Es handelt sich nicht um Adolf.
Auch um keinen seiner Nürnberger Vasallen. Der Haupt-
schuldige am Unglück Europas ist ein ganz anderer
Mann. Es ist der ehemalige Leiter der Wiener Kunst-
akademie. Das wußten Sie noch nicht? Uberlegen Sie mal.
Der JünglingAdolf hielt sich für ein künstlenschesGcnie.
Et zeichnete. Seine Arbeiten legte er der Wiener Kunst-
akademie vor, als er sich um Aufnahme bewarb. Er fiel
durch. Man hielt ihn, den Einmaligen, für einen unbe-
gabten Dilettanten.
Das verbitterte den verhinderten Baumeister des späte-
ren Dritten Reichs. Er litt von nun ab an jener Krank-
heit, die ein anderer verdächtiger Wiener, dei Herr Freud,
als Verdrängung bezeichnet. Wien wollte von ihm nicht
an einem Tage gebaut werden. Es ließ sich nidit an-
schmieren. So beschloß er, mit seinen Zeichnungen ins
Große zu gehen und eine neue Welt schlagartig aufzu-
bauen. Von den Bildern, die er nun an die europäische
Projektionsflädie werfen würde, mußte die Welt Notiz
nehmen.
Verhinderte Genies werden oft gefährlich. Sie brauchen
Ventile. Sie braudien Absatzmärkte für die Erzeugnisse
ihres brodelnden Innenlebens. Im M.ilcr und Ardiitekten
Adolf brodelte es bedenklich, nachdem ihn die Wiener
Kunstakademie abgewiesen hatte. Sein Ventil wurde die
Partei der deutschen Unzufriedenen, der verhinderten
Sieger des ersten Weltkriegs. Sein Absatzmarkt ganz
Europa.
Darum werden Sie mir rechtgeben, wenn ich erkläre:
Kriegsverbredier Nr. i ist jener damalige Leiter der
Wiener Kunstakademie. Hätte er dem ehrgeizigen Adolt
Pinsel und Zirkel überlassen, dann hätte der weder in
den braunen Farbtopf gegriffen, noch seine Kreise über
ganz Europa gezogen. Wo steckt jener? Man stelle ihn.
Eva Sicwcrt
Die erste Schwalbe
Länger als tausend Jahre hat Kloster Tegernsee bestan-
den, länger als das „Dritte Reidi" bestehen sollte. Man
feierte in diesen Tagen seinen zwölfhundertsten Geburts-
tag. Man feierte ihn mit Kirchenfesten, mit Tannengir-
landcn, mit Musik und Umzügen, und man hatte auch
manche Wand frisdi gestrichen zum festlichen Tage und
somit auch die Innenwände eines Häuschens am See, das
zu jedes Mannes Benutzung bereitsteht. Frischgestrichene
Wände an solchen Orten haben eine unwiderstehliche
Anziehungskraft für reditsstchcnde Politiker, um hier
auf das Volk aufklärend zu wirken. In ihnen können
wir die Urzelle von Goebbels' Propagandaministerium
sehen. So stand denn neulidi nach den festlichen Tagen
am Tegernsee auf der frisdi gekalkten Wand die mar-
kige Inschrift „Heil Hitler". Gerührt mögen es die Nazis
gelesen haben: die erste Schwalbe in der Bedürfnisan-
stalt am Tegernsee. Fo.
>7'
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Klaviersteuer in Gera" "Lebensgefahr"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Kommentar
Signatur: Kl. Maertens
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 14, S. 171.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg