Ueber uns ist der Himmel eingestürzt. Wir gehen zwi-
schen den Trümmern umher und versuchen zu tun, was
die Menschen glauben, daß getan werden muß.
Als ich am Rosenmontag durch eine stille Schwabinger
Ruinenstraße ging, hielt ein Auto neben mir. Die In-
sassen hatten ein großes Anliegen: Sie wollten ein
Schwabinger Künstlerfest besuchen. Vielleicht hatten sie
auf ihrem anderen Erdteil einmal etwas darüber gelesen.
Sicher würde auch heute Abend irgendwo in einem klei-
nen Atelier, zwischen Himmel und Erde hängend, so
etwas stattfinden, — ich wußte es nicht. So sagte ich:
. Meine Herren, da haben Sie sich um sieben Jahre ver-
spätet , .." und stapfte weiter, einen kleinen Gram im
Herzen.
Die Dichter haben das Recht, ihren Kummer auszuteilen.
Geteiltes Leid ist halbes Leid, — und das ins Tausend-
fache erweitert, da bleibt nichts mehr für den Dichter.
Darum sind sie so heiter und olympisch. Ich bin nicht
immer heiter, von olympisch gar nicht zu reden, ich bin
ein junges Mädchen im Jahre 1947. Wenn ich in der
Küche stehe in hohen Filzstiefeln und gegen Ruß und
Kälte vermummt, fühle ich mich uralt. Im ersten Ab-
schnitt der Erwachsenheit lebt man von Träumen, dann
kommt das Erleben und dann die Erinnerung. So weit bin
ich. Meine Hände sind gefroren und gesprenkelt, und
wenn Besuch kommt, ziehe ich sie ein, wie eine Katze
ihre Krallen. Hätte es einen Sinn, die Nägel rot zu
lackieren? Ich sah einmal eine Dame ihre Füße in der
Sonne ausbreiten, die waren voller Hühneraugen, aber
mit korallenroten Zehennägeln. Diese Dame war eine
Lebenskünstlerin.
Ich möchte auch so gerne dichten und mein Herz erleich-
tern, aber es käme nur die Zeit von vier bis sieben Uhr
morgens in Frage. Gleim hat das angeblich auch so ge-
macht, vermutlich legte er sich um acht Uhr wieder in
sein Dichterbett. Bei mir jedoch beginnt um diese Zeit
das „Leben". Es wartet der Lebenskreis: Küche. Zim-
mer, die Läden . . . Wenn ich einmal zur Stadt muß, bin
ich eine Königin auf Lustfahrt. Meine Mutter wartet auf
mich, die Küche wartet auf mich, meine kleine Barbara
wartet auf mich. Es gibt Geschichten, die sind sehr
traurig, denn es kommen darinnen Menschen vor, die
niemand erwartet. Ach, nur einmal nicht erwartet werden!
Meine kleine Tochter wollte ich eigentlich verheimlichen.
Es sei schwer, sonst einen Mann zu finden. Was sind das
für Männer, die man sonst nicht finden kann? Noch
jede Frau hat mir zwar beteuert, daß es ohne Mann
viel, weitaus und unbeschreiblich besser sei, aber darf
ich das glauben? Sie sagen ja auch alle, daß sie ohne
Fett kochen könnten, sogar Apfelstrudel. — Meine
Großmutter liebt es, mich mit „Besser ledig gestorben
als verheirat' verdorben" zu trösten. Ein trostreiches
Gegenstück zu den markenfreien Nährhefeflocken: Speise,
die nicht speist, Trost, der nicht tröstet, das gibt's jetzt
alles. Meine Großmama meint es natürlich seelengut.
Es ist so niederdrückend, immer die Leiden des Ehe-
standes ertragen zu müssen, ohne dessen Freuden zu ge-
nießen. Aber wir sind ja so gut gezogen. Niemals werden
wir mehr sagen, daß wir so gerne beschützt werden
möchten. Vor dem Leben nämlich. Wir sind so müde.
Was meiner Schwester neulich einfiel! Fing sie nicht im
Keller an zu schreien: „Ich habe genug, das ist keine
Frauenarbeit, ich habe genug!" Wir hatten gesägt und
Kohlenstaub geschleppt, der auf der Treppe begann, dem
Sack zu entrieseln. Alles fängt an zu zerreißen. Meine
Schwester hat die seltsame Idee, daß Frauen, wenigstens
hin und wieder, verwöhnt werden müßten. Meine Schwe-
ster war im Unrecht, sie hätte froh sein müssen über
den Sack voll Kohlenstaub, und genug — genug können
wir überhaupt nie mehr bekommen.
Einmal möchte ich wieder mein Abendkleid tragen. Um
diese Zeit, vor vielen vielen Jahren, sprang ich darin
herum auf den Hausbällen, auf denen man so viel essen
mußte. „Papa, wie ißt man denn die Artischocken?"
Heute wäre es mir gleich, wie man sie ißt. Mein Vater
hat inzwischen Gras gegessen — in Frankreich.
Lippenstifte sind uns geblieben, ganze Läden voll Lippen-
stifte. Jeden Tag, wenn ich das Geschirr gespült habe,
lege ich ein bißchen Rot auf die Lippen. Mein Bruder
erregt sich maßlos über meinen roten Mund, denn er ist
Anhänger des Puritanismus, wie die meisten Männer,
wenn sie zu Hause sind. Bei meinem Bruder allerdings
geht es tiefer, denn er hat mir eine fabelhafte lange
Hose versprochen, wenn ich es sein ließe. Gönnt uns
doch diese kleine Illusion auf den Lippen 1 Es könnte
auch einmal ein interessanter Besuch kommen. Die Leute
finden unser Heim so gemütlich und friedlich. Sie sind
eben nicht immer da. Ich bin so föhnempfindlich, es
geht bis zum Werfen von Gegenständen. Meine Mutter
liebt es besonders, die reizende kleine Geschichte zu er-
zählen, in deren Verlauf ich ihr an die Kehle gesprungen
sein soll.
Warum lande ich eigentlich immer wieder in der Küche?
Wenn ich mich hübsch anziehe und mit dem Kind und
einem Koffer einen Besuch machen will und wenn ich
dann ankomme, drückt man mir bestimmt ein Messer
und eine Kartoffel in die Hand. Oder etwas Aehnliches.
Man zieht mich in die Küche, aber nicht gerne, denn
man vertraut mir nicht ganz. Ich habe immer noch nicht
das richtige Küchengesicht. Vielleicht auch ist mein roter
Mund daran schuld. Ich gehöre zu jenen unglücklichen
Menschen, die alles nur ein bißchen können -und alles
können möchten. Zu den „Ich-Möchte-Menschen", die
eigentlich gar keine Daseinsberechtigung haben.
Als ich noch ganz klein war, betete ich jeden Abend:
„Lieber Gott, schicke uns unseren Papa wieder. .." Wir
sind nämlich seit meinem achten Lebensjahr von ihm
geschieden. Solange ich zur Schule ging, war mir das
entsetzlich, später fand ich es ganz interessant und jetzt,
jetzt bin ich vollkommen daran gewöhnt Neulich saß
meine kleine Barbara träumend im Lehnstuhl. „Woran
denkst du, Kindchen?" „An Vati..." Sie weiß ja gar
nicht, was ein Vati ist.
Wenn diese große Kälte vorbei ist, kommt der Frühling.
Dann gehe ich mit Barbara unter die Bäume an den
Hang, den die erste Sonne bescheint. Ich freue mich
schon darauf.
Jetzt, wenn man nachts heimgeht und ein wenig müde
ist und es liegt so viel tiefer weicher Schnee, dann
kommt es einem vielleicht ganz verlockend vor, darin
einzuschlummern. Besonders, wenn die Nacht schön ist
und die Ruinen ein wenig hell schimmern. Aber natür-
lich tut man es nicht, es wäre auch gar nicht so sanft
und süß, wie man glauben möchte. Man geht doch lieber
nach Hause und läßt sich fragen, warum man so ge-
trödelt hat auf dem Heimweg. Man wird immer gefragt,
das ist die menschliche Liebe. Ach, niemand weiß, warum
ich überall trödle. Aber man geht doch wieder brav
heim, heute, morgen und immer. Und sehe ich es denn
nicht, da trappen und trödeln ja viele mit, ein ganzer
Zug — ist das nicht beruhigend?
schen den Trümmern umher und versuchen zu tun, was
die Menschen glauben, daß getan werden muß.
Als ich am Rosenmontag durch eine stille Schwabinger
Ruinenstraße ging, hielt ein Auto neben mir. Die In-
sassen hatten ein großes Anliegen: Sie wollten ein
Schwabinger Künstlerfest besuchen. Vielleicht hatten sie
auf ihrem anderen Erdteil einmal etwas darüber gelesen.
Sicher würde auch heute Abend irgendwo in einem klei-
nen Atelier, zwischen Himmel und Erde hängend, so
etwas stattfinden, — ich wußte es nicht. So sagte ich:
. Meine Herren, da haben Sie sich um sieben Jahre ver-
spätet , .." und stapfte weiter, einen kleinen Gram im
Herzen.
Die Dichter haben das Recht, ihren Kummer auszuteilen.
Geteiltes Leid ist halbes Leid, — und das ins Tausend-
fache erweitert, da bleibt nichts mehr für den Dichter.
Darum sind sie so heiter und olympisch. Ich bin nicht
immer heiter, von olympisch gar nicht zu reden, ich bin
ein junges Mädchen im Jahre 1947. Wenn ich in der
Küche stehe in hohen Filzstiefeln und gegen Ruß und
Kälte vermummt, fühle ich mich uralt. Im ersten Ab-
schnitt der Erwachsenheit lebt man von Träumen, dann
kommt das Erleben und dann die Erinnerung. So weit bin
ich. Meine Hände sind gefroren und gesprenkelt, und
wenn Besuch kommt, ziehe ich sie ein, wie eine Katze
ihre Krallen. Hätte es einen Sinn, die Nägel rot zu
lackieren? Ich sah einmal eine Dame ihre Füße in der
Sonne ausbreiten, die waren voller Hühneraugen, aber
mit korallenroten Zehennägeln. Diese Dame war eine
Lebenskünstlerin.
Ich möchte auch so gerne dichten und mein Herz erleich-
tern, aber es käme nur die Zeit von vier bis sieben Uhr
morgens in Frage. Gleim hat das angeblich auch so ge-
macht, vermutlich legte er sich um acht Uhr wieder in
sein Dichterbett. Bei mir jedoch beginnt um diese Zeit
das „Leben". Es wartet der Lebenskreis: Küche. Zim-
mer, die Läden . . . Wenn ich einmal zur Stadt muß, bin
ich eine Königin auf Lustfahrt. Meine Mutter wartet auf
mich, die Küche wartet auf mich, meine kleine Barbara
wartet auf mich. Es gibt Geschichten, die sind sehr
traurig, denn es kommen darinnen Menschen vor, die
niemand erwartet. Ach, nur einmal nicht erwartet werden!
Meine kleine Tochter wollte ich eigentlich verheimlichen.
Es sei schwer, sonst einen Mann zu finden. Was sind das
für Männer, die man sonst nicht finden kann? Noch
jede Frau hat mir zwar beteuert, daß es ohne Mann
viel, weitaus und unbeschreiblich besser sei, aber darf
ich das glauben? Sie sagen ja auch alle, daß sie ohne
Fett kochen könnten, sogar Apfelstrudel. — Meine
Großmutter liebt es, mich mit „Besser ledig gestorben
als verheirat' verdorben" zu trösten. Ein trostreiches
Gegenstück zu den markenfreien Nährhefeflocken: Speise,
die nicht speist, Trost, der nicht tröstet, das gibt's jetzt
alles. Meine Großmama meint es natürlich seelengut.
Es ist so niederdrückend, immer die Leiden des Ehe-
standes ertragen zu müssen, ohne dessen Freuden zu ge-
nießen. Aber wir sind ja so gut gezogen. Niemals werden
wir mehr sagen, daß wir so gerne beschützt werden
möchten. Vor dem Leben nämlich. Wir sind so müde.
Was meiner Schwester neulich einfiel! Fing sie nicht im
Keller an zu schreien: „Ich habe genug, das ist keine
Frauenarbeit, ich habe genug!" Wir hatten gesägt und
Kohlenstaub geschleppt, der auf der Treppe begann, dem
Sack zu entrieseln. Alles fängt an zu zerreißen. Meine
Schwester hat die seltsame Idee, daß Frauen, wenigstens
hin und wieder, verwöhnt werden müßten. Meine Schwe-
ster war im Unrecht, sie hätte froh sein müssen über
den Sack voll Kohlenstaub, und genug — genug können
wir überhaupt nie mehr bekommen.
Einmal möchte ich wieder mein Abendkleid tragen. Um
diese Zeit, vor vielen vielen Jahren, sprang ich darin
herum auf den Hausbällen, auf denen man so viel essen
mußte. „Papa, wie ißt man denn die Artischocken?"
Heute wäre es mir gleich, wie man sie ißt. Mein Vater
hat inzwischen Gras gegessen — in Frankreich.
Lippenstifte sind uns geblieben, ganze Läden voll Lippen-
stifte. Jeden Tag, wenn ich das Geschirr gespült habe,
lege ich ein bißchen Rot auf die Lippen. Mein Bruder
erregt sich maßlos über meinen roten Mund, denn er ist
Anhänger des Puritanismus, wie die meisten Männer,
wenn sie zu Hause sind. Bei meinem Bruder allerdings
geht es tiefer, denn er hat mir eine fabelhafte lange
Hose versprochen, wenn ich es sein ließe. Gönnt uns
doch diese kleine Illusion auf den Lippen 1 Es könnte
auch einmal ein interessanter Besuch kommen. Die Leute
finden unser Heim so gemütlich und friedlich. Sie sind
eben nicht immer da. Ich bin so föhnempfindlich, es
geht bis zum Werfen von Gegenständen. Meine Mutter
liebt es besonders, die reizende kleine Geschichte zu er-
zählen, in deren Verlauf ich ihr an die Kehle gesprungen
sein soll.
Warum lande ich eigentlich immer wieder in der Küche?
Wenn ich mich hübsch anziehe und mit dem Kind und
einem Koffer einen Besuch machen will und wenn ich
dann ankomme, drückt man mir bestimmt ein Messer
und eine Kartoffel in die Hand. Oder etwas Aehnliches.
Man zieht mich in die Küche, aber nicht gerne, denn
man vertraut mir nicht ganz. Ich habe immer noch nicht
das richtige Küchengesicht. Vielleicht auch ist mein roter
Mund daran schuld. Ich gehöre zu jenen unglücklichen
Menschen, die alles nur ein bißchen können -und alles
können möchten. Zu den „Ich-Möchte-Menschen", die
eigentlich gar keine Daseinsberechtigung haben.
Als ich noch ganz klein war, betete ich jeden Abend:
„Lieber Gott, schicke uns unseren Papa wieder. .." Wir
sind nämlich seit meinem achten Lebensjahr von ihm
geschieden. Solange ich zur Schule ging, war mir das
entsetzlich, später fand ich es ganz interessant und jetzt,
jetzt bin ich vollkommen daran gewöhnt Neulich saß
meine kleine Barbara träumend im Lehnstuhl. „Woran
denkst du, Kindchen?" „An Vati..." Sie weiß ja gar
nicht, was ein Vati ist.
Wenn diese große Kälte vorbei ist, kommt der Frühling.
Dann gehe ich mit Barbara unter die Bäume an den
Hang, den die erste Sonne bescheint. Ich freue mich
schon darauf.
Jetzt, wenn man nachts heimgeht und ein wenig müde
ist und es liegt so viel tiefer weicher Schnee, dann
kommt es einem vielleicht ganz verlockend vor, darin
einzuschlummern. Besonders, wenn die Nacht schön ist
und die Ruinen ein wenig hell schimmern. Aber natür-
lich tut man es nicht, es wäre auch gar nicht so sanft
und süß, wie man glauben möchte. Man geht doch lieber
nach Hause und läßt sich fragen, warum man so ge-
trödelt hat auf dem Heimweg. Man wird immer gefragt,
das ist die menschliche Liebe. Ach, niemand weiß, warum
ich überall trödle. Aber man geht doch wieder brav
heim, heute, morgen und immer. Und sehe ich es denn
nicht, da trappen und trödeln ja viele mit, ein ganzer
Zug — ist das nicht beruhigend?
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Sag' mal, Kurt, nimmst Du eigentlich Unterricht im klassischen Tanz, weil Du schwul bist, oder nur zum Spaß!?"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Objektbeschreibung
Bildunterschrift: "Sag' mal, Kurt, nimmst Du eigentlich Unterricht im klassischen Tanz, weil Du schwul bist, oder nur zum Spaß!?"
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1947
Entstehungsdatum (normiert)
1942 - 1952
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 2.1947, Nr. 6, S. 69.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg