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„Rvm ist gothischer als Paris", rief einmal prahle-
risch ein fanatischer Verehrer des Mittelalters, der französische
Archaologe Blr. Didron, in die Welt hinaus, als er in der
Hanptstadt Jtaliens mannigfache Reste der mittelalterlichen Kunst
entdeckt hatte, welche den Augen der meisten Romfahrer dnrch die
riesigen Rninen der klafsischen Knnft und die Prachtwerke der
neneren Zeiten verhnllt werden. Er glaubte damit einen gar
gewaltigen Trnmpf gegen die Verehrer der Antike nnd der Re-
naisfanee anszufpielen und ihre arge Verblendung siegreich zu
beweisen. Mit dem gleichen Rechte könnte man aber Didron
nnd seinen zahlreichen Anhangern ein anderes geflügeltes Wort
entgegen schlendern: Das Mittelalter ist antiker als die
Renaisfance. Und diefe Behanptung würe nicht einmal fo
arg übertrieben. Die Antike übte allerdings anf das Ange und
die Phantasie der Männer der Renaisfanee einen ungleich
gröfzeren Einflnß, als anf die Völker des Mittelalters. Sie
länterte den Formensinn der ersteren, beftimmte vielfach ihr
Handeln, erschien ihnen in einem hellen idealen Lichte. Dagegen
steht wieder der Vorstellnngskreis im Mittelalter viel stürker im
Banne des Alterthums. Wollte man ans dem Wissen des
Mittelalters alles streichen, was dasselbe den antiken Ueber-
liefernngen verdankt, so würde (von den religiöfen Jdeen natiir-
tich abgesehen) der Gedankenvorrath bedenklich schwinden. Bei
der wesentlich reeeptiven, mehr in die Weite als in die Tiefe
strebenden Natur des mittelalterlichen Geistes wurde ans der
nüchstliegenden Qnelle, nnd diese war das römifche Alterthnm,
der meifte Stoff gefchöpft. Die Weltlitteratnr im Mittelalter,
welche ganz Enropa mit einem gemeinfamen Cnltnrringe nm-
fchloß, bedentet die Litteratnr in lateinischer Sprache. Sie hütte
fich nimmermehr entwickeln können, wenn die letztere nicht die
Acittel zn einer allgemeinen Berstündignng geboten hütte. Da-
dnrch wnrden die Blicke überhanpt anf das Alterthnni zurück-
 
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