Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Springer, Anton
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 1): Das Altertum — Leipzig, 1895

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.27217#0015
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die Allslinge der kullstelltlvickeillllg.

uf die Frcigen: Wie weit reicht unser umnittelbares Kunstverstandnis zurück und
welche vergangene Kunststufe bietet uns znerst reinen Genuß und volle Freude?
lautet die Antwort: Mit den Griechen beginnt unsere Kunstwelt, in den Werken der
hellenischen Künstler empfangen unsere Jdeale der Schönheit am frühesten Leben
und Gestalt. Mit der klassischen Kunst, so nennen wir die Kunst der Griechen und
Römer, verhält es sich wie mit den klassischen Sprachen und insbesondere wie mit der griechischen
Poesie und Philosophie. Sprachgelehrte beschäftigen sich mit den altorientalischen Sprachen;
Einfluß auf die allgemeine Bildung üben nur die Schristcn der Griechen und Römer. Die Namen
Homer, Plato, Aristoteles klingen vernehmlich an unser Ohr, altägyptische und altindische Dichter
dagegen, die Weisen des Orients bleiben uns meist fremd und werdcn nnr mühsam verstanden.
Doch darf man nicht glanben, als ob das griechische Volk von allem Anfang her eine vollendete
Kunst, gleichsam als Naturgeschenk, besessen hätte und sür seine künstlerische Entwickelung nichts der
ülteren orientalischen Kultur verdankte. Es gab eine Zeit, in der die Griechen über kein größeres
Kunstvermögen versügten, als die vielgescholtenen Barbaren. Viele Menschenalter vergingen, ehe
das hellenische Volk für seine Gedanken und Empfindungen einen klaren, durchsichtigen Ausdruck
gewann und sein eigentümliches inneres Leben auch nach außen feste, abgeschlossene Formen fand.

Je näher ein Volk dem Anfange seines Daseins steht, eine desto geringere Kraft übt die
Eigentümlichkeit seiner Natur. Auf den elementaren Stnfen der Bildnng rücken die einzelnen
Stämme in ihren Znständen, Aeußerungen und Bestrebungen eng aneinander nnd zeigen noch
nicht die scharfen Unterschiede, die sie in den Zeiten reicherer Kultnr trennen. Eine Schilocrung,
wie sich menschlicher Kunstsinn allmählich entfaltet hat, würde zunächst die Versuche erwähnen,
durch mannigfache Erfindungen die Befriedigung der Lebensbedürfnisse zu erleichtern und zu
vermitteln. Die Not schärfte das Auge und ließ in Naturkörpern, selbst in Gliedern des eigenen
Leibes, z. B. in der geballten oder hohlen Hand, dafür tangliche Gegenstände entdecken.

Diese Urgeräte, zuerst so hingenommen, wie sie die Natur darbot, wurden sodann durch
andere Naturkörper, die als Werkzeuge verwendet wurden — Steinspitzen, Steinbeile, Knochen-
nadeln u. s. w. — für ihren Zweck noch tauglicher gestaltet. Formgedanken begannen sich zu
regen. Noch immer erschien aber die Form wie zufällig an dem Stoffe haftend. Da ist es
nnn ein riesiger Fortschritt gewesen, als Stoff und Form getrennt wurden und jener (z. B. Pflanzen-
kgsern, in Streifen geschnittene Tierfelle, Thonerde, Metalle) dnrch bewußte menschliche Arbeit
in die zweckmäßige Form gebracht ward, wobei die Erinnerung an Naturvorbildcr die Hand
Springer, 5r>nlstgeschichte. I. 1
 
Annotationen