Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Springer, Anton
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 1): Das Altertum — Leipzig, 1895

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.27217#0019
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die ältesten Ornamentgattungen.

5

Hier stoßen wir auf ein weiteres Element der Kunstentwickelung von durchgreifender Wich-
tigkeit. Wie Stammmischung erst die rechte Energie für eine erfolgreiche politische Thatigkeit
darbietet, fo erweitert die Kulturmischung die künstlerischeu Fähigkeiten. Die Berührung mit
einer fremden Kunstwelt lockt nicht allein zur Aneignung ihrer maunigfachen Formen, sondern
treibt auch die iu der eigeneu Natur wurzelnden Keime zu rascherer Blüte.

Jm Laufe der Entwickelung verwischteu sich die Spuren der früheren Stufen und wurde
die Erinnerung an den Ursprung der Kunst verdunkelt. Erfreut sich ein Volk einer lebendigen
Kunst, so besitzt es nicht mehr die Lust und die Muße, den mühsamen, steinigen Weg, den es
hat erklimmen müssen, zu pflegen. Selbst auf der Höhe angelangt, fesseln es bei dem Rück-
blick in die Vergangenheit nur ähnliche Höhepunkte. Jahrtausende vergingen erst, ehe man auf
die elementaren Anfänge der Kunst, aus die Schichten längst verklungener Knlturperioden auf-
merksam wurde und ihre Bedeutung für die spätere Entwickelung erfaßte.

Die in den letzten Jahrzehnten mit großem Eifer betriebene Forschung stößt noch aus
gewaltige Lücken und hat für die Erkenntnis des Ursprungs der bestimmten nationalen Kunstweisen
bis jeht kaum mehr als einzelne Bausteine geliefert. Jmmerhin ist es aber schon möglich, ein

beiläusiges und allgemeines Bild von dem Aufsteigen der Kunst aus dem Kreise des Handwerkes
zu entwerfen. Dies Bild ofsenbart das Oruament als ältesten Ausdruck des Kunstsinnes, zeigt,
wie die lineare Ornamentik sich rascher entwickelte als die figürlichen Darstellungen, die meistens
im Verhältnis zur gleichzeitigen geometrischen und Pflanzen-Dekoration eine entsetzliche Rohheit
aufweisen (Fig. 8), und hebt hervor, daß selbst als der Natursinn erweitert war, Pflanzen- und
Tierbilder besser gelangeu als die Wiedergabe menschlicher Gestalten.

Hier heftet sich der Fortschritt nicht an die Götteridole, zu denen anfangs, wie zu Ge-
räten, Naturkörper verwendet wurden, sondern an Flachbilder, Teppicharbeiten, den Thongefäßen
aufgemalte Figuren, gefärbte Steinreliefs und endlich Rundfiguren. Die älteste äghptische und
assyrische Kunst hat uns keine Götterbilder hinterlassen; auf dem Schilde des Achilles fehlen die
mythischen Gestalten, und auch die Bronzefunde in Olympia bekundcn, daß zwar schon frühzeitig
Nguren von Menschen und Tieren als Weihgeschenke für die Götter geformt und gegossen, diese
selbst aber noch nicht künstlerisch dargestellt wurden. Der Natur wurden die einfachen Be-

wegungen und Stellungen abgeschaut, in der Kunst die elementaren Zustände des Lebens
wiedergegeben.
 
Annotationen