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Studien und Skizzen zur Gemäldekunde — 4.1918/​1919

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Frimmel, Theodor von: Zeitgemässe Kunstbetrachtungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.52777#0127

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ZEITGEMÄSSE KUNSTBETRACHTUNGEN.
(Zusammenhang mit dem Weltkrieg. — Die Bestie im Menschen. — Neueste Kunst-
richtungen. — Allzu große Verbreitung der Kunstübung. — Sozialisierung und Staats-
fürsorge.)
Ein ungeheurer Kräfteumsatz — ungeheuer wenigstens nach den kleinen
menschlichen Begriffen — hat sich im Laufe des Weltkrieges vollzogen, und
das offenbar mit der eisernen Notwendigkeit einer Naturerscheinung, etwa wie
ein riesiger Bergsturz oder wie eine chemische Umwandlung. Man muß wohl
eine Notwendigkeit annehmen. Denn die angebliche Freibestimmbarkeit des
Willens ist schon für den einzelnen nicht nachweisbar und wird bei dem
Zusammenwirken von vielen zur höchsten Unwahrscheinlichkeit. Es ließe
sich ein dickes Buch über diese Angelegenheit schreiben*), doch dient uns
an dieser Stelle der Gedankengang nur als Einleitung. Der Weltkrieg gibt
nur den Hintergrund ab für die folgenden Betrachtungen.
Die neuesten Kunstströmungen und vieles andere in der Kunst mögen
wohl ähnliche Veranlassungen psychologischer Natur haben wie der Welt-
krieg. In der Reihe der großen Geschehnisse fasse ich den Weltkrieg ebenso
wie einige Hauptrichtungen unserer bildenden Künste auf, als: Rückfall-
erscheinung, als Atavismus der Massen. Was früher nur an einzelnen
Kranken zu beobachten war, verbreitete sich während des Weltkrieges so
reißend rasch über ganze Völker, daß man von einer Art Massenwahnsinn
sprechen möchte. Das ruhige, wohl überlegte Handeln, das gemächliche
Schaffen war schon Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Weltkrieges einem
Hasten und voreiligen Entschließen, einem rechten Hudeln gewichen, anfangs
bei wenigen, dann bei ganzen Gruppen und Massen. Schon „fin de siede“
eröffnete merkwürdige Ausblicke. Vieles von den älteren Zuständen auf allen
Gebieten hatte sich ja überlebt. Das war überaus klar. Nun drängte, eilte,
raste man zu irgend etwas Neuem vorwärts, oft mit Talent und Schlauheit,
gelegentlich auch ohne diese. Da geschah im Juli 1914 die plumpe Auslösung
weltbewegender Ereignisse, die sich seit langem vorbereitet hatten. Danach
hat sich die Riesendummheit des Weltkrieges fünf Jahre lang vor unseren
Sinnen abgespielt, zum zweifelhaften Nutzen der „Sieger“**), aber ohne Zweifel
zum Verderben der „Besiegten“. Was beiden gemeinsam war, ist zweifellos
der Rückfall ins Tierische, die Bestialität des Kampfes, die wir doch nicht so
*) Die Angelegenheit der Freiheit oder Gebundenheit des Willens ist auf ver-
schiedenen Grundlagen oft erörtert wo. den. Bis auf die äußersten Folgerungen ist sie
noch nicht durchgearbeitet. Ich bereite eine Schrift über die Sache vor. Darin soll auch
die Frage „Wer ist schuld am Weltkrieg?“ scharf beurteilt und als geradewegs komisch
erwiesen werden. Der Schuldbegriff paßt weder hier noch sonstwo, da sich alles mit
Notwendigkeit abspielt. Ich weiß es übrigens sehr gut, daß mit derselben zwingenden
Notwendigkeit, mit der auch anderes geschieht, vorläufig die Mehrheit der Menschen
an die Freibestimmbarkeit des Willens glaubt und daraus ihre Folgerungen zieht.
**) England hat ja z. B. seine besten Rechte opfern müssen, um blinder Habgier
und roher Herrschsucht frönen zu können. In Frankreich und Italien sitzt man schon
seit Jahr und Tag wie auf einem Pulverfaß. In Amerika jagt ein Riesenaufstand den
andern. In Rußland herrschen trotz der „Friedenszeit“, in der es nun schon lebte, noch
ganz unbeschreibliche Zustände „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“
— „Schadenfreude ist die reinste Freude.“ Derlei Sprichwörter kommen einem dabei
in den Sinn.

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