Das Motiv der Mantik im antiken Drama
107
Dann geht sie dazu über, dem Herold Talthybios die
Schicksale des Odysseus, des Herrn der kriegsgefangenen
Hekabe, zu verkündigen.
Hekabe wird die Schmach der Knechtschaft nicht lange
ertragen, sondern noch im Heimatland bald durch den Tod
erlöst werden. Odysseus wird zehn Jahre lang Irrfahrten zu
bestehen haben. Fremdes Geschick hat sie aus ruhiger Di-
vination heraus — gekennzeichnet durch das Versmaß des
jambischen Trimeters — geweissagt; jetzt, als sie ihres eigenen
Loses gedenkt, wird sie zur Gottbegeisterten, wie das Metrum
andeutet (445 ff.):
Zt^z OTtwg Ta%iOT' • eg "Atöov vv^cpiw ya^w^eSa
^ zaxbg zaxwg za^aet wuibg ov% &v Qteqa,
io öoxCov aqvov zt TtQaGoeiv, Javaldwv d^x^yera.
xa^e Tot vez^bv cpd^ayyeg yv^vdö' &%ßeß^^evr]v
vdavt yu^a^o tyeovoat vv^<plov Ttekag rdcpov
SqGi dwaouotv ddaaoSai, qv 'ArtoWtovo^ bdr^tv.
Gewiß machte die an sich ganz geschickte Verwendung
der unglücklichen Königstochter im AOocataaufc großen Ein-
druck: aber Euripides steht im Schatten des Titanen Aischylos,
und seine Kassandra kann an Wirkung auf die Zuschauer
bei weitem nicht an die aischyleische heranreichen1; denn
sie verkündet, noch auf troischem Boden stehend, Geschicke,
die erst in Hellas sich erfüllen werden: die Seherin der Orestie
dagegen schaut Dinge, die sich soeben schon vollziehen.
Der euripideischen Kassandraszene kommt dramaturgisch
eine ganz andere Bedeutung zu als der aischyleischen: sie
motiviert vor allem die Ruhe und Ergebenheit, mit der sich
die herbe Jungfrau, die einst dem Werben selbst eines Gottes
widerstanden hat, in das Los fügt, Kebsweib Agamemnons
zu werden: sie weiß, daß um ihretwillen der siegreiche Heer-
könig sein Leben verlieren wird, und so wird sie ihre Vater-
stadt und ihre Angehörigen rächen. Man sieht hier die feine
psychologische Motivierung des großen Frauenkenners: zwar
folgt auch die weiche Gattin Hektors nur mit Widerstreben
1 Vgl. von Wilamowitz, Übersetzung des Stückes 15f.
107
Dann geht sie dazu über, dem Herold Talthybios die
Schicksale des Odysseus, des Herrn der kriegsgefangenen
Hekabe, zu verkündigen.
Hekabe wird die Schmach der Knechtschaft nicht lange
ertragen, sondern noch im Heimatland bald durch den Tod
erlöst werden. Odysseus wird zehn Jahre lang Irrfahrten zu
bestehen haben. Fremdes Geschick hat sie aus ruhiger Di-
vination heraus — gekennzeichnet durch das Versmaß des
jambischen Trimeters — geweissagt; jetzt, als sie ihres eigenen
Loses gedenkt, wird sie zur Gottbegeisterten, wie das Metrum
andeutet (445 ff.):
Zt^z OTtwg Ta%iOT' • eg "Atöov vv^cpiw ya^w^eSa
^ zaxbg zaxwg za^aet wuibg ov% &v Qteqa,
io öoxCov aqvov zt TtQaGoeiv, Javaldwv d^x^yera.
xa^e Tot vez^bv cpd^ayyeg yv^vdö' &%ßeß^^evr]v
vdavt yu^a^o tyeovoat vv^<plov Ttekag rdcpov
SqGi dwaouotv ddaaoSai, qv 'ArtoWtovo^ bdr^tv.
Gewiß machte die an sich ganz geschickte Verwendung
der unglücklichen Königstochter im AOocataaufc großen Ein-
druck: aber Euripides steht im Schatten des Titanen Aischylos,
und seine Kassandra kann an Wirkung auf die Zuschauer
bei weitem nicht an die aischyleische heranreichen1; denn
sie verkündet, noch auf troischem Boden stehend, Geschicke,
die erst in Hellas sich erfüllen werden: die Seherin der Orestie
dagegen schaut Dinge, die sich soeben schon vollziehen.
Der euripideischen Kassandraszene kommt dramaturgisch
eine ganz andere Bedeutung zu als der aischyleischen: sie
motiviert vor allem die Ruhe und Ergebenheit, mit der sich
die herbe Jungfrau, die einst dem Werben selbst eines Gottes
widerstanden hat, in das Los fügt, Kebsweib Agamemnons
zu werden: sie weiß, daß um ihretwillen der siegreiche Heer-
könig sein Leben verlieren wird, und so wird sie ihre Vater-
stadt und ihre Angehörigen rächen. Man sieht hier die feine
psychologische Motivierung des großen Frauenkenners: zwar
folgt auch die weiche Gattin Hektors nur mit Widerstreben
1 Vgl. von Wilamowitz, Übersetzung des Stückes 15f.