Das Motiv der Mantik im antiken Drama
113
Dazu kommt die stets sich zeigende Wirkung des Traumes
auf den antiken Zuschauer: Erregung gespannter Erwartung.
Auf dem Traum bauen sich die lyrischen Gesänge des Chores
und Iphigeneias auf, eine Totenklage, die die Erinnerung an
die leidvollen Schicksale des Tantalidenhauses wachruft und
den düsteren Hintergrund für das Drama schafft.
Der Traum ersetzt einen Botenbericht aus Hellas, der
hier nicht leicht möglich erscheint, da Iphigeneia in weiter
Ferne weilt1; der Traum bewirkt ferner, aber erst durch die
falsche Deutung, die dramatische Verwicklung2; hätte Iphi-
geneia den Traum recht gedeutet, so daß sie in ihm nur eine
Lebensgefahr für Orestes, nicht seinen schon erfolgten Tod
gelesen hätte, so müßte sie wohl ohne weiteres in einem der
beiden Griechen ihren Bruder erkennen; die kunstvolle
Anagnorisis wäre so dem Tragiker nicht möglich gewesen.
Wir erinnern uns des gleichen Zuges beim Orakel im „Ion".
Der Traum ist in leichter Amphibolie3 gehalten, die nur
dem Zuschauer, nicht der sorgengeängstigten Jungfrau, die
ihn ausschließlich auf das Schlimme bezieht, zum Be-
wußtsein kommt. Die Form des Traums verrät den großen
Kenner der menschlichen Seele; wir haben hier einen aus
mehreren Bestandteilen resultierenden Traum. Der erste Teil
ist ein altes Bild der Jugendzeit Iphigeneias4, zugleich die
Verwirklichung eines oft gehegten Wunsches:
Denn ach, mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh' ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.
1 Hartung aaO. II 150. 2 Hartung aaO. 154.
3 Man sieht, wie Euripides die Worte der Traumerzählung auf
Schrauben stellt (ebenso wie er es beim Orakel Apollons im „Ion" tut);
besonders wird das bei c°s ^avov^evov klar, daß die Tatsächlichkeit des
Todes so gut wie die bloße Erwartung und Befürchtung bedeuten kann.
4 Das ist feinste psychologische Beobachtung: der Traum führt uns
weit entfernte Räumlichkeiten in größerer Klarheit, Deutlichkeit und Leb-
haftigkeit vor, als es die Vorstellungen im wachen Bewußtsein vermögen.
Vgl. darüber Strümpell, Die Natur und Entstehung der Träume (Leipzig
1874) 65.
Religionsgeschichtliche Versuche u. Vorarbeiten XII, 1. 8
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Dazu kommt die stets sich zeigende Wirkung des Traumes
auf den antiken Zuschauer: Erregung gespannter Erwartung.
Auf dem Traum bauen sich die lyrischen Gesänge des Chores
und Iphigeneias auf, eine Totenklage, die die Erinnerung an
die leidvollen Schicksale des Tantalidenhauses wachruft und
den düsteren Hintergrund für das Drama schafft.
Der Traum ersetzt einen Botenbericht aus Hellas, der
hier nicht leicht möglich erscheint, da Iphigeneia in weiter
Ferne weilt1; der Traum bewirkt ferner, aber erst durch die
falsche Deutung, die dramatische Verwicklung2; hätte Iphi-
geneia den Traum recht gedeutet, so daß sie in ihm nur eine
Lebensgefahr für Orestes, nicht seinen schon erfolgten Tod
gelesen hätte, so müßte sie wohl ohne weiteres in einem der
beiden Griechen ihren Bruder erkennen; die kunstvolle
Anagnorisis wäre so dem Tragiker nicht möglich gewesen.
Wir erinnern uns des gleichen Zuges beim Orakel im „Ion".
Der Traum ist in leichter Amphibolie3 gehalten, die nur
dem Zuschauer, nicht der sorgengeängstigten Jungfrau, die
ihn ausschließlich auf das Schlimme bezieht, zum Be-
wußtsein kommt. Die Form des Traums verrät den großen
Kenner der menschlichen Seele; wir haben hier einen aus
mehreren Bestandteilen resultierenden Traum. Der erste Teil
ist ein altes Bild der Jugendzeit Iphigeneias4, zugleich die
Verwirklichung eines oft gehegten Wunsches:
Denn ach, mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh' ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.
1 Hartung aaO. II 150. 2 Hartung aaO. 154.
3 Man sieht, wie Euripides die Worte der Traumerzählung auf
Schrauben stellt (ebenso wie er es beim Orakel Apollons im „Ion" tut);
besonders wird das bei c°s ^avov^evov klar, daß die Tatsächlichkeit des
Todes so gut wie die bloße Erwartung und Befürchtung bedeuten kann.
4 Das ist feinste psychologische Beobachtung: der Traum führt uns
weit entfernte Räumlichkeiten in größerer Klarheit, Deutlichkeit und Leb-
haftigkeit vor, als es die Vorstellungen im wachen Bewußtsein vermögen.
Vgl. darüber Strümpell, Die Natur und Entstehung der Träume (Leipzig
1874) 65.
Religionsgeschichtliche Versuche u. Vorarbeiten XII, 1. 8