Das Motiv der Mantik im antiken Drama
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Ich habe hier eine kurze Analyse des Traumes zu geben
versucht. Jedenfalls ist a priori klar, daß wir es hier mit
einem jener komplizierten Traumgebilde zu tun haben, die
wir selbst sehr oft erleben und deren Erklärung uns oft so
schwierig erscheint. Zur literarischen Fixierung und Ver-
wendung eines solchen ganz individuellen Gebildes konnte
der vulgäre Mythos gewiß nicht gelangen, ebenso die Kunst-
dichtung erst dann, als sie die Tatsachen des psychischen
Lebens scharf ins Auge zu fassen begann. Das legt die Ver-
mutung sehr nahe, der Traum könne in der hier vorliegenden
Formation nicht aus dem Mythos kommen, sondern sei erst
spät, etwa im fünften Jahrhundert, geschaffen. Noch wahr-
scheinlicher ist es wohl, ihn direkt als Erfindung des Tragikers
zu betrachten; eine Handhabe mochten ihm eigene oder
fremde Beobachtungen von Träumen geben. Soweit wir sehen,
begegnet uns eine einigermaßen psychologische Behandlung
der Träume erst bei Demokrit1, also nicht vor dem fünften
Jahrhundert, wenn auch schon die ältesten Pythagoreer sich
mit der Traumdeutung (aber nicht mit der psychologischen
Erklärung) beschäftigt haben2. Die wundervolle Form des
Traumes hat im ganzen griechischen Drama, soweit ich sehe,
nicht ihresgleichen. Der Traum läßt uns einen Blick tun in
das innerste Seelenleben des Mädchens, wie ihn der Dichter
nicht besser und authentischer hätte geben können3; der
1 Siebeck, Geschichte der Psychologie (Gotha 1880) 142. — Dieser
Tatsache wird auch die bei Herodot VII 16 sich findende natürliche Deutung
der Träume durch Artabanos nicht widersprechen.
2 Büchsenschütz, Traum und Traumdeutung im Altertum 10.
3 Zeigt doch der Traum in sehr vielen Fällen nur ein Wieder-
auftauchen von Gedanken des Wachenden. — Warum Goethe auf den
Traum gänzlich verzichtet hat, weiß ich nicht; Schiller in seiner Rezension
des Goetheschen Werkes (1789) läßt diese Diskrepanz unbesprochen. Viel-
leicht mochte er ihn nicht aus seinem Vorbild geradewegs entlehnen, und
einen künstlerisch feineren an seine Stelle zu setzen, wie es einstens
Sophokles in der „Elektra" getan hatte, konnte auch ein Goethe schwerlich
hoffen. In jenen, auch durch Feuerbachs Gemälde jedem unvergeßlich in
die Seele geprägten Versen von der Sehnsucht des Mädchens nach seiner
griechischen Heimat hat der deutsche Dichter einen Ersatz dafür ge-
schaffen.
8*
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Ich habe hier eine kurze Analyse des Traumes zu geben
versucht. Jedenfalls ist a priori klar, daß wir es hier mit
einem jener komplizierten Traumgebilde zu tun haben, die
wir selbst sehr oft erleben und deren Erklärung uns oft so
schwierig erscheint. Zur literarischen Fixierung und Ver-
wendung eines solchen ganz individuellen Gebildes konnte
der vulgäre Mythos gewiß nicht gelangen, ebenso die Kunst-
dichtung erst dann, als sie die Tatsachen des psychischen
Lebens scharf ins Auge zu fassen begann. Das legt die Ver-
mutung sehr nahe, der Traum könne in der hier vorliegenden
Formation nicht aus dem Mythos kommen, sondern sei erst
spät, etwa im fünften Jahrhundert, geschaffen. Noch wahr-
scheinlicher ist es wohl, ihn direkt als Erfindung des Tragikers
zu betrachten; eine Handhabe mochten ihm eigene oder
fremde Beobachtungen von Träumen geben. Soweit wir sehen,
begegnet uns eine einigermaßen psychologische Behandlung
der Träume erst bei Demokrit1, also nicht vor dem fünften
Jahrhundert, wenn auch schon die ältesten Pythagoreer sich
mit der Traumdeutung (aber nicht mit der psychologischen
Erklärung) beschäftigt haben2. Die wundervolle Form des
Traumes hat im ganzen griechischen Drama, soweit ich sehe,
nicht ihresgleichen. Der Traum läßt uns einen Blick tun in
das innerste Seelenleben des Mädchens, wie ihn der Dichter
nicht besser und authentischer hätte geben können3; der
1 Siebeck, Geschichte der Psychologie (Gotha 1880) 142. — Dieser
Tatsache wird auch die bei Herodot VII 16 sich findende natürliche Deutung
der Träume durch Artabanos nicht widersprechen.
2 Büchsenschütz, Traum und Traumdeutung im Altertum 10.
3 Zeigt doch der Traum in sehr vielen Fällen nur ein Wieder-
auftauchen von Gedanken des Wachenden. — Warum Goethe auf den
Traum gänzlich verzichtet hat, weiß ich nicht; Schiller in seiner Rezension
des Goetheschen Werkes (1789) läßt diese Diskrepanz unbesprochen. Viel-
leicht mochte er ihn nicht aus seinem Vorbild geradewegs entlehnen, und
einen künstlerisch feineren an seine Stelle zu setzen, wie es einstens
Sophokles in der „Elektra" getan hatte, konnte auch ein Goethe schwerlich
hoffen. In jenen, auch durch Feuerbachs Gemälde jedem unvergeßlich in
die Seele geprägten Versen von der Sehnsucht des Mädchens nach seiner
griechischen Heimat hat der deutsche Dichter einen Ersatz dafür ge-
schaffen.
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