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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0126
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Rudolf Staehlin

Traum gibt geradezu den Grundton an, auf den das Drama
gestimmt ist h
Im Hintergrund liegt der bekannte2 Spruch des Kalchas,
der von Agamemnon die Opferung Iphigeneias gefordert (16 ff.)
und dadurch mittelbar die Veranlassung zur Entrückung des
Mädchens ins Taurierland gegeben hat; auf den Aufenthalt des
Mädchens bei den Tauriern baut sich das ganze Drama auf.
Die eigentliche Aktion der Tragödie, der Raub des
Artemisidols, ruht auf einem Orakel Apollons: Orestes, nach
dem ersten, aus Aischylos bekannten Orakel des Loxias an
den Areopag gewiesen, aber dort nur von der Hälfte der
Erinyen freigegeben (940 ff.), geht zum zweiten Mal nach
Delphi und erhält das Befehlsorakel (977): dLonera laßelv|
aya^u ISrpwv € tyxaSidQvaat, %3ovP. Dieser Götterspruch
ist die Triebfeder der ganzen Handlung: zunächst gründet
sich die Fahrt des Orestes ins Taurierland und der Beschluß,
bei Nacht das Bild zu rauben, auf ihn. Orestes ist bei der
scheinbaren Unmöglichkeit, den Befehl des Gottes zur Aus-
führung zu bringen, im Begriffe zu fliehen (102 f.): Pylades
ermahnt ihn da ibv rov 3eou de x^a^bv ov zaxiozeov und
veranlaßt ihn damit, von dem Vorhaben abzustehen und in
einem Versteck die Nacht abzuwarten. Das Motiv des Orakels
hat bei der Sinnesart des Orestes nicht den Einfluß, der zur
Durchführung der Tat nötig wäre; es muß also, wenn nicht
das Drama ins Stocken geraten soll, ein neues Moment den
Orakelspruch unterstützen. Das geschieht durch Pylades;
mit dem Hinweis auf Apollon bringt er den Schwankenden
von der feigen Flucht ab. Diese Technik steht ganz offenbar
unter dem Einfluß der Pyladesszene in den Choephoren; Eu-
ripides hat noch deutlich den Pylades als Hypopheten Apollons
empfunden. Die Gefangennahme ist dadurch bedingt, daß die

1 Vgl. Klein, Gesch. d. Dramas 480.

2 Neu ist nur Agamemnons Gelübde an Artemis, als dessen Interpret
Kalchas seinen Spruch gibt. Vgl. Oeri aaO. 40.

3 Lindskog aaO. I 163 hält diese Partie für Interpolation: in der
echten Fassung habe Euripides den Orestes die Fahrt zu den Tauriern auf
den Irrfahrten vor seiner Ankunft in Athen machen lassen. Bei vorliegender
Untersuchung ist diese Frage belanglos; auf alle Fälle ist die Fahrt des
Orestes durch ein Orakel veranlaßt.
 
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