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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0161
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Das Motiv der Mantik im antiken Drama 151

gelten, mag wenigstens teilweise den Römer dazu veranlaßt
haben, die Teiresiasszene so singulär zu gestalten I
Mit der Zeichenmantik ist es noch nicht genug; es muß
noch das grausigste Mittel, eine Totenbeschwörung, verwendet
werden % diese hat Seneca nicht auf der Bühne selbst statt-
finden lassen, obgleich das durchaus kein Ding der Unmög-
lichkeit für den dramatischen Dichter war, wie allein die
„Perser" beweisen; der Römer hatte also gewiß Gründe,
warum er so handelte, und die liegen klar zutage: mit seiner
Vorliebe für die in epischer Weise breit ausgesponnenen
effektvollen Berichte hätte er bei direkter Darstellung der
Nekromantie auf der Bühne zwar ein höchst packendes, seiner
Wirkung auf den Zuschauer sicheres Bild geschaffen, aber
auf die rhetorisch glänzend durchgeführte, den antiken Leser8
fesselnde Erzählung von der Beschwörung — einer home-
rischen Nekyia en miniature — verzichten müssen; der Bühnen-
wirkung hat Seneca die Rhetorik vorgezogen %
Die Vorlage zu der Totenbeschwörung besaß Seneca, wie
auf der Hand liegt, schon in der homerischen Nekyia. Braun 5
erinnert an die zahlreichen und beliebten Nekromantien bei
den Epikern dieser Zeit6; wenn er die Szene bei Seneca aus
der ganz ähnlichen Totenbeschwörung bei Statius7 herleitet,

1 Swoboda in seiner deutschen Übersetzung der Tragödien Senecas
(Wien 1825 und 1830) III 162.

2 Es fehlt jetzt nur noch die Einführung eines Traumes und einer
Vision, dann wären in dieser Tragödie alle gebräuchlichen Motive ver-
wendet. In der Tat haben ja die „Perser" das Motiv des Traumes, des
Vorzeichens, der Totenbeschwörung und der Orakel, aber man vergleiche
den maßvollen und schlichten Gebrauch dieser dramaturgischen Mittel bei
Aischylos mit ihrer gehäuften Anwendung bei Seneca, und man wird der
Kunst des großen hellenischen Meisters nur um so williger die Siegespalme

reichen. 3 Der antike Leser pflegte ja laut zu lesen.

4 Schon daraus kann man sehen, wie wenig Seneca bei seinen Stücken
an wirkliche Theaterdramen gedacht hat. Mit Recht sagt Habrucker aaO. 38
bei der Besprechung der Unterschiede zwischen den Dramen des Euripides
und denen des Seneca: Ac primum quidem Seneca rem aliter instituit
propterea, quod maiorem vim in descriptionibus explicationibus narra-

tionibus quam in actionibus ponebat. 5 AaO. 270.

6 Z. B. Vergil Aen. VI 550 ff.; Ovid Metam. XIV 105 ff.; Lucan

Pharsal. VI 507 ff.; Silius Italicus Pun. XIII 408 ff. 7 Thebais IV 406 ff.
 
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