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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0177
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Das Motiv der Mantik im antiken Drama

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ihren Sohn nahen. Crispinus will sich eilends in ihre Arme
werfen und sie mit Küssen bedecken — jetzt stürmt plötzlich
Nero in ihr Haus und durchbohrt den Hals des Crispinus mit
dem Schwert 1
Auch dieser Traum 2 verrät in seiner Gestalt aufs deut-
lichste, daß er dem wirklichen Leben entnommen, wenn nicht
geradezu historisch ist. Das letztere scheint mir das wahr-

1 Nordmeyer De Octaviae fabula, Jahrbücher für Philologie Suppl.
XIX 267 weist nach, daß Nero nicht sich selbst das Schwert in die Kehle
stößt, wie z. B. Swoboda aaO. 372 und Braun aaO. 40 meinten — sie fanden
darin einen Hinweis auf das Lebensende Neros (Sueton Nero Kap. 49) —,
sondern seinem Nebenbuhler Crispinus.

2 Der Traum ist zu einem Teil Realität, soweit er das Erscheinen
der Agrippina betrifft; sie hat sich V. 593 ff. dem Zuschauer leibhaftig ge-
zeigt und dabei das künftige Schicksal Neros prophezeit (629 ff.). Die Pro-
phezeiung kann erst nach dem Tode Neros geschrieben sein, wie nach vielen
Anderen Ladek, Die römische Tragödie Octavia und die Elektra des
Sophokles, im Wiener Eranos zur Grazer Philologenversammlung (Wien
1909) 194 mit Recht betont. Die anderen Züge des Traumes sind nicht
Realität, sondern nur Geburten der Phantasie. Die Technik, dem Traum
wenigstens zu einem Teil einen realen Bestandteil zu geben, ist unver-
kennbar Nachahmung griechischer Vorbilder, etwa der euripideischen
„Hekabe" — Schatten des Polydoros auf der Bühne, Traum der Hekabe —,
die für uns neben den „Eumeniden" des Aischylos das einzige derartige
griechische Beispiel ist. Ein weiterer mit der „Hekabe" paralleler Zug ist
es, wenn die im Traum erscheinende Person noch keine Rache erlangt und
darum noch keine Ruhe gefunden hat. Ich möchte annehmen, der Dichter
der „Octavia" habe die euripideische „Hekabe" direkt benutzt und auch
die Idee zur Verwendung des Schattens der Agrippina aus der Schatten-
erscheinung des Polydoros genommen. Das erscheint mir wahrscheinlicher
als der Versuch von Braun aaO. 17, das Erscheinen Agrippinas aus dem
Chorlied 371 ff. der „Troades" des Seneca entstehen zu lassen. Ladek
(Wiener Eranos 194) hebt als ein den Dichter zur Einführung des Schattens
mitbestimmendes Moment die Verse 488 ff. der sophokleischen „Elektra"
hervor. Das widerstreitet meiner Annahme durchaus nicht; die Technik,
den Schatten auf der Bühne selbst erscheinen zu lassen, kam dem Dichter
nicht aus der „Elektra". — Die Schattenerscheinung mitten im Drama statt
am Anfang ist eine Singularität, wie schon Swoboda aaO. III 356 gesehen
hat. Aber man wird die Folgerung Swobodas, die Erscheinung Agrippinas
sei an den Beginn der Tragödie zu setzen, nicht billigen; vor der Um-
stellung wird diese Partie gerade durch ihre Singularität geschützt. Übrigens
erkennt auch Swoboda (aaO. 371 f.) die unmittelbare Aufeinanderfolge von
Schattenerscheinung und Traum als wirkungsvoll an.
 
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