38
II. Raphael nnd Bramante.
führenden Könnens und dem nachhinkenden Zeitgeiste gelit-
ten hat.
Zwischen den äussersten Ecken, den kommenden und ge-
henden Figuren und der mittleren Halle, ist noch je eine Gruppe
eingeschoben, links die des Socrates, rechts, auffallend unzu-
sammenhängend, die beiden in Zuhören und Notiren vertieften
Jünglinge und der würdige, in tiefes Sinnen verloren dastehende
Greis.1 Raphael hat hier auf der rechten Seite offenbar geschwankt
und schliesslich eine, wie Vöge glaubt, auch wieder teilweise an
Donatello anschliessende, jedenfalls aber in ihrer Verbindung not-
dürftige Lösung gegeben. Donatello scheint ihm überhaupt ein-
zufallen, wenn guter Rat teuer ist. Wir konnten das schon in
der Disputa beobachten, und werden es wieder finden im Heliodor.2
Und hier ist nun der Punkt, wo wir uns überzeugen können,
dass ihm eine Vorführung der sieben freien Künste wirklich fern-
lag. Denn was wäre ihm leichter gewesen als eine Gruppe ein-
zuschieben, zusammengesetzt aus einigen jener typischen Figuren,
wie er sie bei Pinturricchio einen Stock tiefer oder sonst in Massen
bei Darstellung der sieben freien Künste hätte finden können.
Es ist bezeichnend, dass ihm der Einfall gar nicht kam. Und das
führt auch darauf wie die Socratesgruppe entstanden ist. Denn
in seiner Phantasie entwickelt sich die Gruppe nicht im An-
schluss an das Schlagwort „Dialektik", wie zu erwarten wäre, wenn
er hätte die sieben freien Künste darstellen wollen, sondern im
Anschluss an den Gestus der Hände des Socrates. Wie er den
Geometer rechts vorn aus dem Appartemento Borgia geholt hat,
so steht er aucli im Socrates wahrscheinlich unter dem Eindruck
1 Letztere Gruppe ist etwas mehr herausgeschoben, weil ..da-
zwischen Teile der Treppenfiguren eingreifen.
2 Ich glaube, dass wir deshalb wohl nicht gleich mit Koopmann,
Raphaels Handzeichnungen a. a. O. S. 387 werden annnehmen müssen,
es sei garnicht Raphael gewesen, der diesen «Verrat» an seiner eigenen
Kunst begangen habe. Ein Schüler habe, mit der Durchführung be-
traut, ohne Wissen des Lehrers Donatello copirt. Gerade das Benutzen
des Guten, was sich bot, ist für Raphael, und die Stellung, die er in
der Entwicklung einnimmt, charackteristisch.
II. Raphael nnd Bramante.
führenden Könnens und dem nachhinkenden Zeitgeiste gelit-
ten hat.
Zwischen den äussersten Ecken, den kommenden und ge-
henden Figuren und der mittleren Halle, ist noch je eine Gruppe
eingeschoben, links die des Socrates, rechts, auffallend unzu-
sammenhängend, die beiden in Zuhören und Notiren vertieften
Jünglinge und der würdige, in tiefes Sinnen verloren dastehende
Greis.1 Raphael hat hier auf der rechten Seite offenbar geschwankt
und schliesslich eine, wie Vöge glaubt, auch wieder teilweise an
Donatello anschliessende, jedenfalls aber in ihrer Verbindung not-
dürftige Lösung gegeben. Donatello scheint ihm überhaupt ein-
zufallen, wenn guter Rat teuer ist. Wir konnten das schon in
der Disputa beobachten, und werden es wieder finden im Heliodor.2
Und hier ist nun der Punkt, wo wir uns überzeugen können,
dass ihm eine Vorführung der sieben freien Künste wirklich fern-
lag. Denn was wäre ihm leichter gewesen als eine Gruppe ein-
zuschieben, zusammengesetzt aus einigen jener typischen Figuren,
wie er sie bei Pinturricchio einen Stock tiefer oder sonst in Massen
bei Darstellung der sieben freien Künste hätte finden können.
Es ist bezeichnend, dass ihm der Einfall gar nicht kam. Und das
führt auch darauf wie die Socratesgruppe entstanden ist. Denn
in seiner Phantasie entwickelt sich die Gruppe nicht im An-
schluss an das Schlagwort „Dialektik", wie zu erwarten wäre, wenn
er hätte die sieben freien Künste darstellen wollen, sondern im
Anschluss an den Gestus der Hände des Socrates. Wie er den
Geometer rechts vorn aus dem Appartemento Borgia geholt hat,
so steht er aucli im Socrates wahrscheinlich unter dem Eindruck
1 Letztere Gruppe ist etwas mehr herausgeschoben, weil ..da-
zwischen Teile der Treppenfiguren eingreifen.
2 Ich glaube, dass wir deshalb wohl nicht gleich mit Koopmann,
Raphaels Handzeichnungen a. a. O. S. 387 werden annnehmen müssen,
es sei garnicht Raphael gewesen, der diesen «Verrat» an seiner eigenen
Kunst begangen habe. Ein Schüler habe, mit der Durchführung be-
traut, ohne Wissen des Lehrers Donatello copirt. Gerade das Benutzen
des Guten, was sich bot, ist für Raphael, und die Stellung, die er in
der Entwicklung einnimmt, charackteristisch.