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Strzygowski, Josef
Das Werden des Barock bei Raphael und Correggio: nebst einm Anhang über Rembrandt — Strassburg: J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel), 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.71578#0078
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IV. Raphaels Grosser Stil.

Bevor wir in diese Untersuchung eintreten, müssen wir uns
mit einer Deutung des Bildes auseinandersetzen, die neuerdings
gegeben worden ist,1 und dahin geht, dass der Kranke Christus
sähe, seine rechte Körperhälfte diesem erlöst zustrebe, die linke
dagegen vom Teufel doppelt krampfhaft festgehalten werde; ferner
dass die Apostel Christus deshalb nicht sähen, weil sie um ihres
Unglaubens willen (nach Matthäus XVII, 2o) für die Erscheinung
blind seien . .. Diese Deutung trägt nach unserer Meinung in
die Kunst Raphaels Speculationen, die ihr ebenso fern lagen, wie
das, was Goethe (Ital. Reise) in das Bild hineinfühlen wollte, dass
nämlich die Apostel unten den Verklärten erblickten und eilig
hinauf auf ihn, als der einzigen Quelle des Heils deuteten.
Nach den Evangelien dürfen weder der Kranke noch die
Apostel Christus erblicken; dieser wurde nur den mit ihm am
Berge Befindlichen sichtbar. Dass Raphael ihn auch dem Be-
schauer zeigt, ist seine Sache. Den Streit um die Berechtigung
dazu wollen wir nicht aufwärmen; die antike so gut wie die christ-
liche Kunst boten ihm dazu Vorbilder genug, er selbst hatte in
der Krönung Mariae, der Disputa u. A. Verwandtes geschaffen.
Es scheint uns aber auch im Bilde selbst nichts zu liegen, was
Anlass dazu gäbe anzunehmen, Raphael habe dem Texte Zwang
angethan. Die Apostel sehen Christus nicht; denn sonst müsste die
Erscheinung auf sie irgend einen Eindruck machen. Wenn zwei
von ihnen nach oben und (um der Composition willen) wirklich
gerade auf den Christus im Bilde weisen, so besagt das gar nichts.
Sie würden auch nach dem Berge weisen, wenn Christus dort im
Bilde nicht sichtbar wäre; denn ihre Bewegung will nur sagen:
wir können Euch nicht heilen, aber der, der dort auf den Berg
gegangen ist, kann es. Sie wissen ja, wo Christus ist. Und der
kranke Knabe sieht Christus nicht, weil er weder nach ihm blickt,
noch nach ihm zeigt, sondern einfach von Krämpfen verzerrt
wird, wie vorher, bevor Christus erschien, und wie nachher, bis
ihn Christus, vom Berge zurückgekehrt, heilen wird. Man ver-

1 Dr. Alfred Kirstein in der Zeitschrift für bild. Kunst V (1893/4)
S. 54 ff.
 
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