Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Strzygowski, Josef
Das Werden des Barock bei Raphael und Correggio: nebst einm Anhang über Rembrandt — Strassburg: J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel), 1898

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.71578#0138
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
130

Anhang. Rembrandt.

Madonna (Kn. 38) auf. In der Darbringung haben wir dieselben
knieenden Gestalten unten, zu denen die Jüdin Hanna, wie bei
Raphael Joseph die Spitze bildet. Ganz durchsetzt von leonar-
dischen Compositionsprinzipien aber ist besonders das Hauptwerk
Rembrandts auf dem Gebiete der Radirung, das Hundertgul-
denblatt (Kn. zu S. 128). An ihm lässt sich am klarsten er-
kennen, wie der Meister sorgfältig bis ins Kleinste prüfend und
abwägend vorgeht und jeder von den vielen Gestalten des Blattes,
so zufällig sie auch erscheinen mag, eine Rolle im Ganzen des
Aufbaues zuweist. Dieses Blatt vertritt noch einmal den Standpunkt
der grossen Renaissance- und Uebergangsmeister, wonach jeder
teilnehmenden Figur Notwendigkeit zukommen soll, dem Zufall
kein Spielraum gelassen werden darf. Man muss dem Blatte wie
etwa Michelangelos bewegter Kentaurenschlacht scharfe Aufmerk-
samkeit widmen, um zu erkennen, wie durchdacht es ist.
Zunächst bildet Christus die Spitze eines Dreiecks, dessen
Seitenrichtung seine Arme geben und dessen Mittelot zwischen
den Steilfalten des Gewandes liegt. Die linke Seitenlinie wird
überragt durch die in ihrer Richtung aufsteigende Frau mit
dem toten Kinde; gerade durch dieses Herausheben aus dem vor-
herrschenden Linienzuge wird diese Gestalt als Hauptfigur beson-
ders betont. Hinter ihr nimmt der laufende Knabe den Dreiecksum-
riss wieder auf und bildet zusammen mit dem liegenden Hunde die
linke untere Ecke des Dreiecks. Als Stützpfeiler steht hier die
ungemein sprechende Gestalt des Arztes, der die Gaffer betrachtet,
als wollte er sagen: „Ja, seht nur, drängt Euch nur zu dem
Charlatan, der wird Euch helfen!" — Folgen wir der Dreiecks-
basis über den Hund und den rechten Fuss der kranken Frau
hinaus, so endet sie vor dem Schubkarren rechts. In der subor-
dinirten Dreiecksgruppe von Bettlern, welche hier die rechte Ecke
füllt, muss auffallen, dass die Leute Christus anflehen und ihm
Kopf und Hände entgegenrichten, obwohl er sich garnicht um sie
kümmert, sich vielmehr ganz der zu ihm aufsteigenden Frau zu-
wendet. Am auffallendsten ist die Bewegung an der schwachen,
kranken Frau ganz in der Mitte des Vordergrundes. Kopf und
Arm liegen so schlaff da, dass man ihr das energische Erheben
 
Annotationen