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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 2 (März 1910)
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Lux, Jopseh August: Kunst und Ethik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0018
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die Ethiker in der aiten Kunst nur den sterbiichen
Teil der Legende; und in der neuen Kunst? Die
neue Kunst ist sozial, bürgerlich geworden, wohl-
anständig, also das, was ihr am wenigsten zuträg-
lich ist; sie muß es sich daher gefalien lassen, daß
sie dem Sittengesetz der heutigen Gesellschaft un-
terworfen wird. Der französische Impressionis-
mus ist in der Boheme entstanden, in einer heidni-
schen Freiheit; Paul Verleine, der Schöpfer un-
sterblicher Verse, war nichts weniger als bürger-
!ich; Beethovens Uebermenschentum schuf im
Schutze der Einsamkeit; alle wahrhaft gotterfüll-
ten Werke sind in der Menschenverlassenheit ent-
standen, jenseits der bürgerlichen oder gesellschaft-
lichen Konventionen, in einer idealen Freiheit, die
revolutionär, fast anarchistisch erscheint. Daß bei
unseren geordneten Zuständen nicht der Boden für
einen solchen heidnischen Sprößling vorhanden ist,
versteht sich von selbst. Das letzte Wort hat die
Gouvernante, der Erzieher, der Sonntagsprediger,
der Moralist.

Die wichtigste ethische Forderung verlangt,
daß die Kunst vor allem das Schöne darzustellen
hat; sie soli das Edle in der Menschenbrust wecken,
und dies kann angeblich nur durch das Schöne ge-
schehen. Tatsächlich haben sich die Prärafaeliten
iiber dieses Programm wortlos geeinigt und sind,
was unausbleiblich ist, einer süßüchen Sentimenta-
ütät anheim gefallen. Es ist das unvermeidliche
Schicksa! aller, die das letzte Ziel ihrer Kunst in
dem sogenannten Schönen sehen. Die Meinungen
iiber das Schöne sind bekanntlich sehr geteilt.
„Schön wird häßlich, häßlich schön,“ singen die
Hexen in „Macbeth“. Wer wird bestimmen, was
richtig ist? Die Allgemeinheit. Ganz logisch:
wenn das Kunstwerk ethisch wirken soll, so muß
es auf die Menge wirken und die Voraussetzungen
erfüüen, die in dieser Menge ruhen. Denn um zu
wirken, und um schön empfunden zu werden, muß
es gefallen, muß also der namenlosen Menge zu ge-
fallen suchen, die, so verschiedenartig an Bildung
und Menschlichkeit, nur einen sehr oberflächlichen
Berührungspunkt haben kann, den Punkt, wo sich
der niedrigste der Instinkte ausiöst, der Massen-
instinkt. Wie hoch müsen Schöiheiturteile zu be-
werten ein, deren Ausgangspunkt dieser Instinkt
ist! Mit anderen Worten: der Künstier habe es als
sittliche Forderung zu bctrachten, daß er der Meng?
gefaüe, daß er den niedrigsten Schönheitsbes riff zur
Pichtschnur nehme. daß er nur i's ar Davstellung
bringe, was auch dem gewöhnlichsten l^gnne ver-
ständlich bleibt. Die unausbleibliche Folge dieser
ethischen Forderung ist jene schamlose Verlogen-
heit, mit der sich jede Dirne auf der Straße ver-
kauft. Eine Kunst der Konventionen, die, von mo-
raüschen Grundsätzen ausgehend, der Prostitution
in die Arme läuft.

Der Ethiker spricht weifer: die Kunst soll die
Natur nachahmen. Was ist Natur? Ist sie etwas
außer uns, ist sie in uns? Soll die Kunst nach-
a h m e n , was überhaupt schon einmal in uner-
reichbarer Vollendung vorhanden ist? Diese For-
derung sit ungefähr genau so fragwiirdig, wie etwa
daß die Religion von den Naturwissenschaften aus-
gehen soll. Wir können auf Grund der natur-
wissenschaftlichen Ergebnisse zu einer Art von
pragmatischer Philosophie gelangen, zu einer prak-
tischen Weltanschauung, die das Sittengesetz neu
fo;mu!iert. Aber wir können mit Hilfe von Philo-
so\ hie und Sittenlehre niemals eine Reügion schaf-
fen. Die Kunst ist etwas, das in der Natur nirgends
vorkommt als im menschüchen Dasein. Und das
Göttliche ist etwas, das in der Natur nirgends vor-
kommt, als in der Reügion. Die Kunst aber wiü
dieses Göttliche, und nicht das Sittüche. Oder die-
ses letztere nur mittelbar.

Der Ethiker läßt mit sich handeln. Er gibt zu,
daß die Kunst ihre Freiheit haben miisse. Aber bei
ernem Zipfel will er sie doch gängeln, weshalb er
verlangt, daß der Künstler eine ethische Persönlich-
keit sei. Ich hoffe, damit leicht fertig zu werden.
Es hat viele ethische Persönüchkeiten gegeben, die
durchaus keine Künstler waren, und es hat sehr
viel unmoralische Personen gegeben, die dennoch
im hohen Maße künstlerisch veranlagt waren und
Großes geschaffen haben. Die Moralisten halten
sich vie! auf Schiller zugute, der angeblich eine ethi-
sche Persönlichkeit war. Meinetwegen! War
Lord Byron eine ethische Persönüchkeit? Lhid Paui
Verlaine? Und Frans Hals, dieses Kneipgenie?
Und Rembrandt, der Erzieher? Der genußsüchtige,
verschwenderische, ganz den Zügeüosigkeiten sei-
ner Zeit ergebene Rembrandt, der doch auch v o r
seiner Verarmung Unsterbliches geschaffen hat?
Man sieht a!so ganz leicht, wie wenig stichhaltig
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dic Phrase von der ethischen Persönüchkeit ist.
Was will sie auch heißen? Ethische Persönlich-
keiten sind schiießiich alle, auch der Verbrecher,
indem er das abschreckende Beispiel der Schuld
und das versöhnende Beispiel der Siihne gibt. Wir
können alles ethisch werten, auch die Kunst, wo-
bei es sich lediglich um die Burteilung der ver-
schiedenartigen Wirkungen handelt. Keinesfalls
aber handelt es sich dabei um die Ursachen. Aus
Ethik wird wiederum Ethik, nicht aber Kunst. Ethi-
sche Kunst ist ein Unding. Die Begriffsverwirrung
konnte nur aus dieser Verwechslung von Ursache
und Wirkung entstehen. Man vergißt dabei, daß
jede Art von Kunst, also natürlich auch die nicht-
ethische, und diese sogar am allerstärksten, einc
erhebende, läuternde, ergreifende Wirkung hat.
Also auch die Kunst, d eidas Häßüche darstellt, das
Niedrige, Gemeine, die Schattenseiten. Goyas Gri-
massen, geht von ihnen nicht eine starke künstle-
rische Wirkung aus? Sind die Grenzen des Schö-
nen nicht weit genug, daß sie im Sinne der geheim-
nisvolien Hexenworte auch das Häßüche mit ein-
schließen? Ist überhaupt der bloße Genießerstand-
punkt maßgebend? Und schiielich, Hauptfrage:
Ist es ein Kunstziel, Gefallen erregen zu woilen?
Die Kunst wiil dies alles und doch wieder nicht,
denn es sind Nebendinge. Ihr einziges Ziel, dem
sie jede Rücksicht opfern muß, ist dies: dem inne-
ren Erlebnis die sichtbare Form zu geben, in einer
solchen Originalität, wie es nie zuvor geschehen
und nie mehr ein zweites Mal vorkommen kann.
Die Ausführung ist mit der Idee geboren. Ein
Meisterwerk ist fertig,und wenn es auch nur aus
zwei Strichen besteht. Wer sich hervortun will,
muß auf diesen zwei Polen beruhen, auf dem der
Voüendung und dem der ursprünglichen Pcrsön-
lichkeit, die alles erstmalig sieht. Der Künstler ge-
horcht nur inneren Imperativen. Er ist ethisch,
wenn er den Exzessen seiner Seele folgt. Wenn
ihn sein Schicksal zu dem Unerhörten, dem Anor-
ntalen, dem Ungewöhnlichen beruft. Alle Kunst,
alles in diesem Sinne Schöne ist anormal. Eine nor-
male Kunst ist keine. Die Technik allein, die Rou-
tine, die Gesinnung, sie machen es nicht aus. Aber
gerade diese Merkmale sind es, die dem heutigen
Kunstscha?t>n z»- Hr.uptaufgabe werden. Sie k-ön-
nen nicht über ein gewisses Manko hinwegtäu-
schen. Das Innerste fehit: die Blume des Persön-
lichen, das Unberechenbare, Unvorhergesehene,
Ueberwältigende, Unerklärliche, Göttliche. Dieses
Nicht-anders-können! Die Besessenheit! Der hei-
iige Wahn! Alles Verstandessache, mit Betonung
dcr äußeren Geschickiichkeit. Schöpfungen des
Intellekts. Dinge, die man wegen ihrer glatten an-
genehmen Form hinnimmt, als Produkte des ehr-
lichen Wollens und der technischen Fertigkeit, ohne
daß man sich zur Frage nach dem Urheber veran-
laßt fühlte. Schließlich gibt es für uns Heutigen nur
diese Ietzte Unterscheidung zwischen Werten, die
einem gleichgiltig sind, weil sie nichts aussagen,
und Werten, bei denen man sofort nach der Persön-
üchkeit fragt.

Es kommt immer darauf an, wer es gemacht
hatü!

Ich bilde mir ein, damit einen durchaus neuen
und äußerst wichtigen Grundsatz aufgestellt zu
haben: Es kommt immer nur darauf an, wer es ge-
macht hat! Wie sollen wir sonst die echte von aer
falschen Kunst unterscheiden? Die Schüler kopie-
ren ihre Lehrer, die Nachahmer und Schwindler be-
stehlen ihre Vorbilder, an was sollte man sich hal-
ten, wenn nicht an dieses Zeugnis der Echtheit und
Urspriinglichkeit? An das Persönliche? Warum
komnit es bei der Wertbestimmung eines Bildes
so sehr darauf an, daß es ein echter Tizian sei und
kein Schulbild, und daß es ein echter Lionardo sei
und keine sentimental nachempfundene englische
Wiedergeburt? Ist es in den anderen Kunstgat-
tungen, der Plastik, der Dichtkunst, der Musik,
nicht ebenso zu halten, und gcrade hier, wo man
besonders stark auf die Finger sehen muß? Es ist
begreiflich, warum heute das Echte in der Kunst so
selten zu finden ist. Echte Kunst gibt sich rcligiös,
falsche Kunst gibt sich ethisch. Das ist der Unter-
schied.

Ich erhebe damit keine Klage. Ich steile bloß
Tatsachen fest. Ich füge hinzu, daß es in Anbe-
tracht gewisser Umstände nicht lelcht anders sein
kann. Wir sind praktisch, zweckmäßig, kritisch.
erkenntnisfroh, analytisch geworden, zweifellos
Segnungen der naturwissenschaftlichen Erziehung,
die das Jahrhundert bestimmt. Aber die also ent-
wickelten Eigenschaften kommen nicht eigentlich
der Schöpfung ',iner großen Kunst zugute. Ebenso
wenig kommet sie dem religiösen Bedürfnis zu-

gute. Es ist kein Geheimnis, daß wir es in Re-
ügionsdingen und Kunstdingen mit einem unüber-
windlichen Indifferentismus zu tun haben. Wir
haben wohl ein kirchliches Leben, aber wir haben
kein reügiöses Leben. Statt Religion haben wir
Ethik. Sie genügt uns für das Praktische; und auf
das Praktische ist Leben und Erziehung zurecht
geschnitten. Wir haben noch die Formeln der Re-
ügiosität, aber es ist keine Religion mehr darinnen.
Man sieht, daß der Himmel nicht einstürzt, wenn
man nicht mehr Religion empfindet, und ist zufrie-
den damit, weil man erkannt hat, daß das Hitnmels-
gewölbe der Weltordnung durch das Gerüst und
ßalkenwerk der moraüschen und poüzeilichen
Vorschriften hinreichend gestützt ist. Hier liegt
die psychoiogische Erklärung für den Verfall der
Kunst. Es ist rneine Erkenntnis, daß mit dem Auf-
hören des religiösen Empfindens auch die Kunst
aufhören müsse. Statt Religiou haben wir Wissen-
schaft, statt Kunst haben wir technische Anwen-
dung von Doktrinen. Zwar gehen die Seelen Ieer ,
aus, und wenn nicht alle Zeichen triigen, so erwacht
wieder ein großes Verlangen nach den verlorenen
Quellen. Im Einzelnen wird viel gcpiuscht und .
hundertfache Versuche entstehen, eine neue Re-
ligion für „freie“ Menschen auf naturwissenschaft-
ücher Grundlage zu bilden. Der Monismus ist
vielleicht der umfassendste dieser Versuche, ohne
daß es gelungen wäre, über ein ethisches Moralge-
bäude hinauszukommen. Aus Wissenschaft kann
weder eine Religion entstehen, noch kann ein
Kunstwerk daraus entstehen. Es fehlt nicht an
einem einzelnen Versuch, dieses „naturwissen-
schaftliche Kunstwerk“ hervorzubringen; ich sehe
sein Erscheinen mit Bangen .... Große Gelehrte.
vorschauende Denker, wissenschaftliche Kapazi-
tätcn, sind im Grunde ihrer Seele religiös geblie-
ben, oder sinde s wieder geworden, weil über die
letzten unerforschlichen Dinge auch die Wissen-
schaft und die Ethik des Monismus besten Falles
fiir das Göttiiche nur andere Vokabeln, aber kei-
nen anderen Sinn aufbringen kann. Trotz des
Suchens im Einzelnen fehlt der große Kultge-
danke, der dcr Kunst die notwendigen Seelenhin-
tergründe liefert. Das Ornament ist heutzutage
deshalb ein Verbrechen, weil es keinem Kultge-
danken zum Ausdruck dient. Alte Volkskunst,
ethnographische Kunst, war Kultsache. Hohe
Kunst konnte in friiheren Jahrhunderten gedeiheti
und Anbetung finden, weil sie mit einem religiöseii
Moment verbunden war. Das Religiöse war der
notwendige Scliutz, den sie fiir ihre Freiheit
brauchte. Dic Frage nach Kunst, die heute in so
vielen Köpfen Verwirrung anrichtet, gab es frühcr
nicht. Das Volk hatte zu verehren, anzubetem
nicht zu wählen, nicht zu tadeln. Die Demokratie.
unser Ziel, ist nicht die Hüterin und Förderin der
Künste. Auch der Kapitalisinus, unsere Zeitver-
fassung, ist es nicht. Die bildc^den Künste voit
heute siechen, weil sie nichts zfl bilden haben-
Keine große Idee, die Macht über die Seelen hat.
Das Höchste, was hohe Kunst ausdrücken kann.
ist die Ahnung des Göttlichen, ein 1 Mysterium-
Aber unsere Zeit hat nur Ideen. die den Verstand
beherrschen, und das Göttliche, das Mvsterium.
ist der heutigen Allgemeinheit fremd. Es fehU
dieser Zeit der große Kult, der mit dem Myste-
rium, dem Göttüchen, den seeiischen Hintergrün-
den, in einem lebendigen Kontakt steht und die
Kunst aus diesen ewigen Quellen nährt. Offenba-
rung, dieses Höchste, die Sichtbarmachung desj
IJnsichtbaren, das erhebende und zugleich er- ■
schütternde Beispiel, wie der Einzelne mit seinetn
Gott ringt, diese Blutzeugenschaft des Genius,
es fehlt uns vollständig. ReÜgion ist immer eiu
persönücher Fall und jede Kunst ist ein Re-
ligionsfall.

Beachtenswerte Bucher und Tonwerke

Auslührliche Brsprechung vorhehalten
ßltcksendung findet in keinem Fall statt

DER ROSENGARTEN der deutschen Liehesileder

Ge9"mmelt und herauso'egeben von Dr. Julius Zeitlef
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