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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 2 (März 1910)
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war: Glossen: Der Aberglaube der Vorurteilslosen
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Lux, Jopseh August: Kunst und Ethik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0017

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hat. Vor diesem Parterre äußerte sich kürzlich ein
Hauptmonist, der sich irüher mit der Popular-
wystik des Unbewußten getröstet hatte, über die
materielle Existenz Christi. Damit begiebt sich die
-.wissenschaftliche Theologie“ tief unter das Ni-
veau des Heiligen Rock von Trier. Was Dogma
eines Glaubens ist, soll aui seine Toitette betastet
werden. Die Vernunft soll begreifen, was iiber-
haupt nur im Glauben Existenz hat.

Ein monistisches Gehirn versagt vor der Tatsache,
daß das Wesentliche der Religion weit iiber ihr
ideologisches Geriist dieses ist: daß sie die genaue
Ergänzung des armseligen irdischen Lebens zur
^ollkommenheit ist. „Im Schlußwort betonte Pro-
fessor Drews, man miisse die Religion befreien von
aÜer Geschichte und Philologie. Dazu miissen wir
'vieder an Ideen als weltbewegende Mächte glau-
^en lernen und den Indifferentismus und die Bla-
siertheit unserer Zeit bekämpfen. Die dringend er-
sehnte neue Religion miisse jeder in sich selbst er-
leben.“ Dieser fromme Liberalismus ist so im
jjühen Drittel des achtzehnten Jahrhunderts einge-
tapselt, daß er das glaubenssinnliche Bedürfnis
eines Volkes durch den erbaulich verdiinnten kate-
Korischen Imperativ zu befriedigen meint. So spur-
l?s gleitet die ungeheure Vergangenheit des Katho-
Hzismus an ihnen voriiber. Und keinem trieb dieses
bürenhafte Beschnuppern die Röte in die Wangen:
eine Dame, die auf eine allzu massiv gehämmerte
Plattheit mit hysterischen Schreien antwortete,
Vertrat die religiöse europäische Menschheit vor
^jiesem heinischen Disput. Die Ehrfurcht vor der
l^tsache! Es wird Pflicht des liberalen Waren-
oauses, unter dieser Flagge eine religiöse Filiale zu
eföffnen. Blitzschnell trocknet die tiefe Innigkeit
eines jahrtausendlangen religiösen Lebens ein und
'j'o ehemals die wundervolle Gestalt eines segnen-
oen Gottes stand, starrt gestriippig und nackt ein
^ahler Tintensumpf. W a r

Eines Dramatikers letzte Stunde

In dem hohen, alterttimlichen Büchersaale
stand der Examinator vor seinem Schüler, der, in
^ntleren Jahren, kein Enthusiast mehr war. Dieser
^ögling trug ein Gew rand von schwarzem Sam-
Ueber Schiller mochte ihn der Examinator
" eute nicht inquirieren. Er zog mürrisch ein paar
Bände aus der Bibliothek hervor: sie war wenig
Seorduet. Mt’-.n Schiller p.eßtc sich CäsaiKiya.
e|n! Doch da schimmerten schilfig die vier
ande von Hebbels Tagebüchern, und der Exami-
ator fragte: „Wo stehen die Sätze reiner, lichter
rosa über letzte Stunde?“ Der Examinand hatte
le Antwort parat; behaglich-amtlich nannte er
and und pagina. Und um nähere Auskunft er-
ucht, gab er Einzelheiten:

-An einem Sommernachmittag hatte das al-
ernde junge Mädchen plötzlich heimreisen müs-
^n in das Patrizierhaus der kleinen Stadt. Das
p a“ s lug noch in seinem Garten da, in Liebe und
unH Vormittags war es sehr heiß gewesen,
wV er Garten hatte viel Sonne getrunken. Es
uchs darin nur eine einzige Art von Pflanzen:
^ raucher mit flachen Riesenblättern, die waren
le die Blätter der Wasserrosen. Jetzt, nach
kiihi ’ War es grau un<t so^wöl geworden, nur
fq n noch in den steinernen Gängen des^ Hauses.
(vjH., *F at ailcl ! Friedrich Hebbel in der Steingang
sej eicilt war die Ttirglocke erklungen) und iegte
gr nen Reisesack links von der Haustür nieder.
ß Wart. einen Blick in die grüne Wirrnis da drau-
t ■ ^le Sonne schien nicht mehr; aber die Blät-
fan euctlttten noch von dem Licht, das sie einge-
Q,..^ en hatten, einige matt, andere hielten dicke
HpKk aH en L euchtens umwachsen. Da ließ sich
, bel nieder zum Gebet: „Ich danke Dir für
A Se letzte Stunde, die ist voli klarer Gedanken!“
gpiL uern grauen Garten kam Kühle. W'ollte ein
Nu er ^ iitz tun? Hebbel empfand keine Angst.
all'e ein? r’ ^ 61“ r 110! 14 in öieser Stille war (und der
hisch V' e^ spater orfuhr), dachte leise an ein
ftebS ^ ngst- ^ 1" 61 Tage lang ging Friedrich
},er 1 ei' ohne zu essen, in den kühlen Gängen um-
gi«‘ erlebte seine letzte Stunde — Stunden
Un(j e^ n. er Reinheit. Drei Tage lang weilten Hebbe!

Aliee in diesem Haus, ohne uin einander zu
Qa Sen- Zur Seite des steinernen Ganges lag ein
ten | nzirnrner: das eigentliche Zimmer der Ietz-
selb t Un<^ e‘ Ohgleich es °ff en stand, hat Hebbel
tre. st’ aus Bescheidenheit und Würde, es nie be-
Ve en- Alice dagen scheint in diesem Zimmer ge-
D£r en zu sein: von einer Frau verspürte es weni-
angement. Alice war unbedeutender, aber aus

reinerem Erdenstaff gefügt als Hebbel. Von den
Früchten, die im Zimmer standen, hat auch sie
nicht genommen.

Nach drei Tagen verließen beide das Haus, in
dem sie neben einander gekniet hatten. Die Um-
stände, wie sie später zusammentrafen, sind frag-
lich geblieben. Sicher ist nur das eine, daß die
fremde Dame, die in rotgeblümtem Kleid erschien,
mit Frau Hebbel auf eine passende Art bekannt
gemacht wurde. Die Fremde sah sich mit a!l dem
Ernst aufgenommen, den diese Sachlage erfor-
derte... Hebbel, sobald er nach Hause zurückge-
kehrt war, suchte die fSätze über seine Ietzte
Stunde in seinen Papieren: sie fanden sich schließ-
lich auf seiner Netzhaut. Dort glaubte er sie
sicher —: allzusicher. Denn als man sie nach sei-
nem Tode entdeckte, waren sie schon verwischt
und wiesen die Unklarheiten auf, mit denen sie
im letzten Bande der Tagebücher photographisch
wiedergegeben sind. Uebrigens stand Hebbels
eigenes Erlebnis auf seiner ünken Netzhaut und
das Alicens auf seiner rechten. Er selbst soll noch
geäußert haben: dies sei ein Beweis für die unbe-
teiligte Seherkraft des Dichters. Das ganze Vor-
kommnis erschien ihm wie eine Illustration des
„media vita in morte sumus“. Friedrich Hebbel
starb (viele Jahre nach seiner letzten Stunde) niit
einem Fiuche auf den Lippen — einem Fiuche
gegen jene, die in der Gartenhausaffäre irgendwie
Leid, Pathetik oder aufdringliche Stilistik finden
würden.

Der Examinator mußte diese Antwort in
vollem Maße gelten lassen. Und längst sitzt der
Zögling auf einem Lehrstuhl fiir visionäre Litera-
turgeschichte.

Ferdinand Hardekopf

Das märkische Ninive

Aus dem unvermeidlichen, vielberufenen Sandc.
dieser Landschaft erhebt sich, nicht gelegen nahe
einem südlichen Meere, dem die Schaumgeborene
entstieg, nicht tauchend in den tiefen Azur eines
gnadenreichen Himmels, welcher Rautn für un-
zählige Götter hatte, nicht an aer tsruat von Pinien-
hainen, von Oliven, ja von Palmen, sondern durcn-
flossen ganz und gar von der Spree und Panke —
Berlin, eine sonderbare Lust- und Sündenstadt,
cntorwülil: von Eiacnbahnen. ni.it tieiu~&?‘«iTfifiie! "
gcnetzter Arbeitstiere, die keine betenden Hände
heben mögcn, röchelnd aus Lungen voll giftiger Fa-
brikdämpfe, und statt unzähliger Götter schleichen
unzählige Krankheiten herum und mischen sich er-
barmungsvoll unter das arme Volk. Dieser Him-
melsstrich kennt nicht die überlieferten Süßig-
keiten antiker Bäder, nicht die vorderasiatischen
Ekstasen, die Tanzfreuden von Korinth und Ta-
nagra. Hier war von Anfang an alles verdorbcn.
Unfromme Reügionen wirtschaften, jede Art Zank.
Erwerbsneid meistert däe Seelen, Durst und Durst,
und Hunger, Hunger — man betet nur zur Gott-
heit Zeit; unfähig, die Zeit zu erschöpfen, windet
man sich nach Unsterblichkeit.

Aber mit malachitgrünen Lichtern äugt der Wolf
in diesem Sande, das magere Tier der Lust.
peitscht mit dem Schwanze die hohen Beine; seine
Kiefern malmen; er speit und bricht Schalen über
den Boden aus. Wenn die Stadt nachts flammt,
heult der Wolf durch die schlafenden Straßen, und
man hört ihn durch die Provinzen schreien.

Berlin selbst hat keine, fast keine Lustbedürf-
nisse, auch weder Auge noch Ohr ftir sie. Diese
scharfe, sehnentüchtige und gedankenvolle Stadt
könnte die abnormsten und verwegensten Ver-
gnügungen erzeugen, wenn ihr Ingenium dar-
auf gerichtet wäre. Aber man geht in ihr
fast unter im Jahrmarktslärm, in den grellen
Farben der Dörfler. Hier hat das Vergnügen
keine eigene Produktionsquelle; die Münchener.
Rixdorfer, Prenzlauer fiihlen sich zu Hause. Ganz
Norddeutsche, entwickeln die Berliner keinen
sozialen Sinn, nichts von Volksfesten; sie halten
sich in ihren Wohnungen, pflegen Familie,
schmücken sich fiir und gegeneinander; ihr
Oeffentlichkeitssinn befriedigt sich in Zeitunglesen,
in Kränzchen, Theater- und Paradebesuchen. Und
so gliedert sich Berlin keine Luststadt an. Der
Fremde watet hoffnungslos in dem Sande: der
Sand ist da. doch Berlin sieht er nicht. Er sieht gi-
gantische Dimensionen, aber nur von Banalität.
sieht Originailtät fast nur in der Massenhaftigkeit
der Unternchmungen, statt Geist Berechnung, statt
Ordnung Nüchternheit und dreißigmal Nüchtern-

heit, das stillose Zusammenwürfeln als Snrrogat
einer Phantasie. Hie und da ein Licht, eir.e kleine
Fackel, eine Kerze.

Zuerst will ich reden von der Avantgarde der Lust,
von den schweifenden Priesterinncn der Venus.
Laßt mich Atem holen.

A. D.

Kunst und Ethik

Von Joseph August Lux

Es ist nicht zu bestreiten, daß Kunst und Ethik
eine gemeinsame Wurzel haben, wenn auch keines-
wegs das gleiche Ziel. Die gmeinsame Wurzel
heißt: Religiosität. Wenn in der Kunst die Ethik
siegt, dann ist es mit der Kunst vorbei. In diesem
Stadium befindet sich die moderne Entwicklung.
Die künstlerische Erneuerung ging um die Mitte des
19. Jahrhunderts von England aus, wo die Prä-
rafaeliten den Anstoß gaben. Sie haben den dop-
pelten Beweis von der Tüchtigkeit und von der ab-
soluten kiinstlerischen Unfruchtbarkeit der engli-
schen Rasse geliefert. Das sind Eigenschaften, die
es hinreichend erkiären, daß sie als Führer und
Bannerträger der großen, über der ganzen zivili-
sierten Welt verbreiteten Bewegung vorangehen
könnten. Die Kunsturteile, die von dort abgeleitet,
durch John Ruskin und William Morris in Umlauf
gesetzt und zu einer Art Weltherrschaft gebracht
wurden, sind ethisch begründet. Die Entwicklung
folgte diesen Direktiven. In der Malerei, Plastik,
Architektur und den dekorativen Künsten, in der
Literatur, sehen wir auch bei uns durchaus ge-
schickte Anwendungen, nirgends eine Offenbarung.
Ehrliche Technik, braves Naturstudium, fleißiges
Kopieren und Verarbeiten fremder Vorbilder aus
alten Kulturen, alles sittlich einwandfrei, nachweis-
bar, erklärbar, restlos aufzulösen wie ein Rechen-
exempel. Originalitäten aus zweiter, dritter Hand.
Keine Idee. Kein einziger fruchtbarer, schöpferi-
scher Gedanke! Und selbst des Ornament, wo an-
gebüch däe größte Erfindungsfreiheit herrscht, und
wo sich das Persönliche in bedeutsamen Zeichen
ausdrückt, entpuppt sich für den Wissenden, der
hinter die Kuiissen sieht, als aufgelegter Schwin-
del. Älich liier ist alles Nachahmung, Verfälschung,
Irrefüht ung. Lo bleibt sich im Wesen gleich, ob
inan japanisci .'oder trühitaiienische^Vofbilcief 'bc-
stiehlt, orientalische Kultgedanken mißverständlich
für moderne Dekorationszwecke „verwertet“, oder
ob man Insektenflügel und sonstige histiologische
Erscheinungsformen abzeichnet. zurecht stilisiert
und ornamental aneinander reiht. Keine Spur von
neuer, eigener Erfindung! Die Fähigkeit, neue Or-
namente hervorzubringen, die zugleich für unsere
Zeit und für das seelische Leben irgendwie bedeut-
sam sind, die also etwas ausdrücken, offenbaren,
ist zweifellos erloschen. Ich frage allen Ernstes,
ob nicht iiberhaupt das Kunstvermögen erloschen
ist? Haben wir Deutsche noch die Kraft, eine neue
große Kunst ehrvorzubrängen? Ich behaupte: nein!
Wir haben Sittengesetze, wir sind technisch, wirt-
schaftlich, intellektuell voran, aber die Kunst ist tot.
Wir haben keinen einzigen Künstler, der die Zu-
kunft verkörpert. Wir marschieren an zweiter,
dritter Stelle, hinter der Vergangenheit einher. Wir
haben keinen Maler, der die letzte große Ent-
deckung, den Impressionismus, überholt hätte; wir
haben keinen Plastiker, der an den einsamen Gi-
ganten Rodin heranreichte; wir haben keinen Dra-
matiker, der nicht schülerhaft neben Ibsen steht;
und den großen Architekten, der die technischen
Fortschritte zu einer neuenbaukünstlerischen Syn-
these zusammenfaßt, gibt es überhaupt nicht, wir
haben nur Ingenieure und im übrigen rückschau-
ende Heimatkiinstler. Wir sind organisatorisch,
aber nicht schöpferisch; wir sind kritisch, aber nicht
kiinstlerisch; Forschende, Erkennende, Wissende,
aber nicht Gebärende. Das Wort vom 20. Jahr-
hundert als des künstlerischen, ist eine Phrase, die
Kunst-fürs-VoIk-Bewegung, der organisatorisch und
geschäftlich großangelegte Versuch, die Kunst in
die Massen zu tragen, kann über diese innere Leere
nicht hinwegtäuschen. Was der Masse frommt,
ich meine auch die Masse der Gebildeten, ist ein
Durchschnitt, der sich auf der mittleren Linie be-
wegt, eine Kunst, die zu Tode erklärt ist und ver-
standesmäßig, intellektuell, ethisch begriffen wird.
Was sicli nicht in das Prokrustesbett der Doktri-
nen, Definitionen, Moralanwendungen einfügt, exi-
stiert nicht. Lebt als einsame, darbende, ungesehene
Schönheit, als verkannte Gottheit. So erkennen

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