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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 11 (Mai 1910)
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [2]: Roman
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [7]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0087

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„ Sie ging still und folgsam mit ihm durch die
Sjraßen, wo die Leute sich umsahn und lächelnd
üen Baron erkannten. Sie trug ein dunkelrotes,
verschossnes Kleid und hatte bloße Füße. Da-
J e*ni nahm er sie in seine Arme und sang eine
* eine, ein bischen ironische Melodie, die er einmal
v°n einer Frau in einer seltsamen Stunde gehört
natte. Mit der Spitze seines Lackschuhs stieß er
e,ne wunderschöne breite Tür auf und legte die
stumme Hagar in sein seidnes Bett. Ein tiefblaues
"nd trauriges kostbares Kopfkissen schob er ihr
"nter den braunen Hals, und dann kniete er nieder
vor dem Bett und begann sie Stück um Stück
"ngsam atmend zu entkleiden.

Hagar wandte ihren Kopf zu ihm und sah
'nn an. Und dann sagte sie etwas, das wie eine
Liebkosung über sein heißes Qesicht flog. Er schrie
ai|f und küßte sie mit der kranken Inbrunst
Seines Leibes, den die Liebe zerbrach. Er küßte sie,
”is ihr das Blut von den Lippen auf das weiße Eis-
"ärenfell niederrann, auf dem er kniete, und da nahm
er sie mit beiden Händen und riß ihr das Hemd über
^ er keuchenden Brust vom Leibe, daß sie nackt vor
'hm da lag und ganz sein war.

. , Nun hatte sie ihn schon viele Wochen mit ihrer
"•iebe gequält und ihn zum Sklaven ihres
p* e'nen, mageren Körpers gemacht, an dem er zu
' Jrunde ging. Hagar war gnadenios und ohne Er-
ourmen. Sie grub ihre braunen, zitternden Finger
ln sein weiches Fleisch und biß ihm die Brust wund
}vj e eine Katze. Ihre heischende und zuchtlose
-'ebe umgab ihn wie ein schwerer Traum, aus dem
er nicht erwachen konnte.

Bis eines Tages Daniel Jesus kam und sie mit
eer Peitsche aus dem Hause des Barons Sterben
' akte. Er wollte nicht, daß sein junger Freund
n' eser verkommnen Hexe erliege. Es war etwas
Jroßes und Phantastisches in dem Herzen des
J/arons, das er ihm bewahren wollte und das ihm
a,e Zigeunerin stahl, in jeder Nacht, in der er ver-
?Vveifelt mit ihrem Leibe kämpfte wie mit einem
'ier.

ö Erst schrie er auf und wollte Daniel Jesus die
Peitsche entreißen, dann warf er sich auf den Boden
llnd hiillte den Teppich um seinen Kopf und ließ ihn
^ ewähren.

Hagar kam wieder, aber sie marterfe ihn
n'cht mehr. Sie saß am Tage schweigend und fin-
ster in einer Ecke, und in der Nacht sprach sie mit
, ren Träumen. Einmal bat sie ihn, er solle ihr aus
ei"em alten, rostfleckigen Buche etwas vorlesen. und
oa ias

er mit Verwunderung Qebete und Sprüche
Ur|d Lieder darin und eine uralte Litanei zu einem
"uge vergessenen Heiligen. Es war eine starre
niJd blinde Brunst in diesen Liedern, eine wüste
j^hnsucht und so etwas wie eine letzte mit dem
^euze gezeichnete Station.

Er fragte.

. Da sagte sie trotzig, daß sie jetzt zum Schuster
pnton gehe, zu dem heiligen Mann, der draußen
"nter dem Bahnsteig wohne, in der Iangen Straße

den hundert Laternen. Sie sei eine Sünderin
nrjd müsse beten, stundenlang und alle Tage, damit
J°tt ihr verzeihe und sie den Frieden finde.

Den Frieden? Das Wort machte ihn betroffen.

Den Frieden? Verspricht den der Schuster?
Ja.

I^ Dnd jetzt sprach sie eine Stunde lang von dem
/' essias. Wie er groß und mächtig sei und wie ein
. ^nig unter allen Leuten. Wie neben seiner Stimme
Jede Sünde fälll. Wie hoch seine Hände zu Qott
e'nporreichen. Und wie er das tausendjährige Reich
erkündet. Die Menschen sollen fliehen vor ein-
r' nder, denn die Qemeinsamkeit ist die Siinde. Und
. 0 zwei neben einander stehn, da sei Qott mitten
^ischen ihnen, daß sie ihre nackten Augen nicht
t en" "nd sich nicht schämen müssen. Damit wir
"cht arm und gehetzt sind wie heute und mit uns
^Qber kämpfen und rnit dem Leben. Damit wir
ncht in Krämpfen und Begierde unterliegen. Daß
| V,r keine Sehnsucht mehr haben, außer Qott. Und
ei"en Wunsch außer ihn. Fluch aller Liebe, die
<,fl Gott vorbei will. Ihr nimmt er das Bewußtsein
nr,d macht sie irre. Daß sie am Ende nur ihre eigene
arter lallen kann.

, Sie hatte sich heiß geredet, und ihre Wangen
. ra"nten. Ihr Haar war aufgegangen und fiel ihr
n. s Qesicht. Sie war schön in dieser Stunde, die
'Seunerin. Er nahm sie um den Leib und
j O'lte sie küssen. Seit jenem Tage, da Daniel
, esns sie mit der Peitsche schlug, hatte er sie nicht
er"hrt. Die Qier erwachte in ihm, und er schau-

erte wieder wie damals, als er sie zum ersten Male
gesehn hatte an jenem wilden, verregneten Früh-
lingstag, als sie mit nackten Füßen vor ihm tanzte.

Hagar — stockte er und wollte sie küssen.

Aber sie wandte sich ab und stieß ihn zurück.
Und als er ihren Leib faßte, schrie sie wie im
Schrecken. Da kam eine leuchtende, hellrote Welle
von Blut, die ging durch sein Qehirn wie ein Eisen-
bahnzug und brauste. Er nahm die Zigeunerin bei
den Füßen und warf sie zur Erde. Dann setzte er
das Knie auf ihren bäumenden Leib und wollte ihr
wie damals das Kleid über der Brust zerreißen. Doch
sie hob die Hand und schlug ihm ins Qesicht, hart,
blind, drei-, viermal. Er gab sie frei und sah entsetzt
und bleich zu ihr hin — wie zu einem Tier.

Dann lachte er auf und höhnte:

Du bist in deinen Schuster verliebt und magst
mich nicht mehr. Qeh hin, er ist stark und groß,
und sein Bett ist breit, dort kannst du beten.

Sie lag noch immer auf dem Boden.

Das ist nicht wahr! schrie sie laut. Und da
kam eine Pause, in der sie sich ansahn und beide
das Blut des andern flüstern hörten. Ein Moment,
wo ihre Augen groß und schmerzhaft wurden mit
vielen Tränen, in denen noch der traurige Schimmer
ihrer verwundeten Seele leuchtete.

Das ist nicht wahr! heulte sie noch einmal wie
ein Hund, und dann warf sie den Kopf auf die Erde
und weinte.

Es war ihr eben ein Glück genommen worden,
an das sie viele Tage geglaubt hatte. Das war in
ihr zusammengebrochen und stand nie mehr auf.
Sie wußte mit einem Male, daß sie nlemals nach
Qott gesucht hatte in diesen Stunden. Daß es doch
wahr sei und daß sie den Schuster liebte und nach
ihm begehrte und daß sie es vordem nur nicht ge-
wußt hatte. Aber jetzt war es ihr plötzlich deut-
lich, daß sie nach seinem großen und stolzen Leibe
lechzte und nach dem häßlichen Mund mit den
brennenden Narben. Und er war von Qott und
würde sie zertreten, wenn sie zu ihm käme.

Darum weinte die Zigeunerin. Fortsetzung folgt

öespräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin

Sechstes Gespräch: Hohn und Schwermut der
Verliebten / Von der Rhythmik

(Die Felsenwanderung. Kalypso und der Musiker
gehen unbegleitet die steilen Wege. Sie verweilen
manchmal ruhend auf einer Höhe. Die weichen
Züge des Musikers sind völlig schlaff und willenlos,
öfter in Ueberdruß und Haß sich verhärtend.)

Kalypso:

(Betrachtet ihn rasch von der Seite, mit spöttischem
Lächeln.) Welche furchtbaren Entschlüsse mein
Freund in der Brust wälzt. (Musiker starrt vor
sich hin.) Man erzählte mir einmal, als ich unter
den Menschen deiner Zeit lustwandeln ging, im Qe-
wand einer jungen Fürstin, daß Ihr keine Erfindung
Eurer erfindungsreichen Zeit so schätztet als jene,
die Ihr Liebe heißt. Ich wußte nicht, was sie ist,
aber mir fällt sie ein, wo ich Dich betrachte, mein
armer Freund und Qebieter.

Musiker:

Kalypso, ich habe mit Dir nichts zu tun, — und
bin ich krank, so ist es meine Krankheit.

Kalypso:

Ihr Sonderbaren. Ueberall hin schleppt Ihr Eure
Torheiten. Ihr laßt, wie die Hunde, keine Ecke un-
benäßt.

Musiker:

O stürztest Du doch von der Klippe und zerschell-
test gleich meinen toten Freunden.

Kalypso:

Brüderlein, sei gut und sanft. Was braucht Ihr da
stolze Namen für so unwürdige Dinge? (Sie sitzen
auf einem bankartigen Felsenvorsprung in einer
Nische der Klippen.) Bändige ich Dich, singe ich
Dich wie eine Amme ein. Den Fischen hast Du
so oft gepredigt; will mein Lehrer seines Amtes
gegen mich vergessen? (Sie hält den Kopf des
Musikanten im Schoß und wiegt ihn; singt und
summt eintönig.) Bald schläfst Du ein und
dann schwindet der Trotz. (Sie lächelt immer, singt
nicht mehr, nur ihr Qewand rauscht in den Wiege-
bewegungen.) Bald schläfst Du ein; das Hin und
Her ermüdet Dich; das Gleichmaß des Rauschens
ermüdet Dich. — Lachst Du nicht iiber Deine

Kunst? Ja, sie ist eine große Kunst, sie schläfert
ein. Lach nicht, lach nicht; so tut alle Lehre und
Kunst: hier erwecken, dort einschläfern. Der
Schlaf begleitet unser Leben, und auch das Wachen
umhüllt ein tiefer Schlaf. Eine stumme Macht ist
der Schlaf, stumm, weil nur das Wachen der
Sprache bedarf. Und viele preisen auch die Tu-
gend des Schlafes, doch nennen sie ihn anders.
Musiker:

(Murmelt) Kalypso, o Kalypso.

Kalypso:

Das Gleichmaß führt das Wachen in den Schlaf,
führt das Bitterste in den Schlaf, das Schwächste
in den starken Schlaf. Des Gleichmaßes Herrin ist
die Kunst. Wir suchen Leben zu messen, wir ver-
gleichen; und so heißt dies: vergessen wollen,
schlafen. Zwischen dem Ungeordneten, Fremden
tanzt und irrt das Wachsein und seufzt nach dem
Wiederkehrenden, Wohlbekannten, Gleichen, immer
Qleichen. Schlafe, was willst Du mehr? Oh wie
flötet die Kunst zu diesem Tanze!

Musiker:

Ach, gib mir von ihm. Bang macht mich das Leben.
In der Fremde irrt mein Wachsein und seufzt nach
dem Wohlbekannten.

Kalypso:

Sie ist die Herrin des Gleichmaßes, die Kunst; sie
ist von Ammenart, lullt ein. Kaum stützt sich eine
Kunst so schwer auf diesen Pfeiler, als Deine, die
Zeitkunst ist; mit einem Stoffe wie ein Nichts, ein
Hauch, — und so gedrängt und befähigt, die fast
reine Zeit, das Wirklichste zu meistern. In ihren
Händen ruht Gewalt, wie in wenigen. Wo
immer Du Gewalt in den Künsten findest, stößt Du
auf Eintönigkeit, auf Ebenmaß. Die Herrichter der
Werke bannen durch einfaches, so einfaches Rech-
nen. Sie rauben Dich Dir, wecken da, schläfern
hier. Zwiefach ist die Art des Qroßen, Gewalti-
gen; zu bannen und lähmen, zu spannen und
schlaffen, und so schließlich jedes Wirkenden. Dicht
wohnt bei der Gewalt die Langeweile. Und
wo die Künste Schrecknis mit sich führen, zieht der
Schrecken auch aus dem Qleichmaß seine Nahrung;
denn Stille und Schrecknis sind sich nicht fremd,
die Lähmung und Bannung sich nicht fremd. So
atmet die Kunst, und ihre Atemnot heißt „Zufall“;
denn er kehrt nicht wieder, ist unmeßbar, er, der
besser Abfall hieße. —

Nimm Deine Harfe und singe. Laß mich Dir
sagen, mein schwermütiger Freund, der so ängst-
lich dem Schlafe naht: Du verlierst Dich nicht, ver-
gißt Dich nicht in Deiner Kunst; wohl raubt sie Dir,
was Du Dein Wachsein nennst, aber Du gehst nicht
auf im Wachsein. Das Wohlbekannte, Wiederkeh-
rende, Gleiche, immer Gleiche, hält auch Dich um-
faßt. Tief ist die Schlaftrunkenheit der Welt.
Nichts raubt einer Dir. Ich leide Tod? Ich tue
Tod. Ich bin Tod. Nimm Deine Harfe und spiele.
Verlierst Dich, gewinnst Dich in der Welt, sehn-
suchtgestillt, denn die Kunst strömt hin, eintönig,
gewaltig bannend und rätsellos wie die Welt, und
bist selber von dieser Welt. „Mutter“ sagst Du,
wenn Du singst.

Musiker:

(Richtet sich auf, sieht ihr eine Weile in die Augen,
sitzt neben ihr, still.) Ach ich will mich versenken
und verlieren. Schwer fasse ich meine eigene
Weisheit „ich leide nichts“, ich, leidgefüllt bis an
den Rand. Was sind Wünsche und Lüste und
Ohnmacht? Der Schmerz ist ein Irrtum, ja er tut,
als wäre ich schon und verlöre mich. Doch er ist,
— was kümmert es ihn, wie er heißt! Und Schmer-
zen und Lüste weisen iiber mein Jetzt hinaus: und
darum lügen sie nicht, noch irren sie; flüstern und
brummen: „Du leidest, komm, Du bist noch nicht;
die Welt ist nicht vollendet, sie wächst über Dich
hinweg.“

Ich soll nicht glauben, daß hinter dieser Welt
noch eine andere sich versteckt; ich darf es nicht
glauben. Dann ist — Recht hast Du — das Gleich-
maß, in das meine Augen die Welt geschlagen
sehen, Zusammenhang der Dinge; dann tritt aber
ein Wunderbares hervor in den Zusammenhängen,
Qesetzen, Formen, ein Fertiges, Bestimmtes, Vor-
handenes, ein Inhalt der Welt. Das Blech klingt
anders als das Holz, es macht nichts aus, ob der
Olympier darauf geprägt ist oder ein Veilchen.
Schlaftrunken liegt sie da, sagst Du, Kalypso, die
Welt; sie wirft sich ruhelos und gähnt; sie lodert
auf und verbrennt nicht gleich dem Olympier. So
lst sie doch fertig, oder drängt auf Vollendung. So
muß sie doch ein Ende haben, ein Ziel! Eine Satt-
heit, eine leidlose, lustlose Stille!

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