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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 17 (Juni 1910)
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Minskij, Nikolaj M.: Tolstoi- der russische Luther
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [8]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0137

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vielen anderen zusammen sein Leben vereinfachte
*jnd unter das Volk jing, sondern um die besondere
^rt, mit der er es getan hat — nicht wie alle —
und aus anderen Motiven und mit einem anderen
2iel. Vor seinem Auftreten wurden alle, welche
die Vereinigung mit dem Volke anstrebten, entwe-
der von konservativ-politischen Ideen wie die
Slavophiien, oder von revolutionär-politischen
ideen wie die Demagogen, inspiriert. Tolstoi
strebte als der erste nach Vereinigung mit dem
voIke weder aus politischen, noch ökonomischen
Qründen, sondern aus rein religiösen, und in die-
sem religiösen Moment liegt die ganze Neuerung
ünd das Außerordentliche seiner Tat, zum minde-
sten für die Russen. Wer erfahren will, was Tol-
stoi für Rußland ist, muß sich vor allem in der
^rage zurechtfinden, was die Reiigion Tolstois be-
deutet. Ich werde mich bemühen, auf diese Frage
eine möglichst knappe und genaue Antwort zu
?eben.

II

Bis zu Tolstoi bestand bei uns ein zweifaches
Verhältnis zur Religiosität — die naive Bejahung
ünd die naive Verneinung. Die Naiv-Bejahenden
n»hmen zu ihrem Wahlspruch das Wort Tertullians
»Credo, quia absurdum“ — ich glaube an das Wun-
derbare, an die Uebertretung der Oesetzmäßig-
*eit, ich nehme das alles an mit dem Glauben, weil
nian es eben mit dem Verstande nicht annehmen
kann.

Die innere Haltlosigkeit einer solchen Religiosi-
tät hat Dostojewski krasser ausgedrückt, indem er
sagte: wenn er die Wahl hätte zwischen der Wahr-
neit und Qott, würde er Qott der Wahrheit vor-
z'ehen. Mit diesen Worten wollte er natürlich das
Qöttliche über das Menschliche erheben, im Qrunde
jjber tadelte er das eine wie das andere. Das
Menschliche indem er zugab, daß unsere Wahr-
neit sich gegen Qott erweisen könne, aber auch die
pottheit tadelte er, indem er zugab, daß sie
ijn Widerspruch zur Wahrheit erscheinen
^önne. Auf diese Weise erlangt er, Gott in der
^erneinung der Wahrheit und des Verstandes
suchend, die verneinte Qottheit, und es ist kein
^under, daß Dostojewski in der russischen Wirk-
** chkeit „die Besessenen“ vorschweben, und daß
Wladimir Solowjew das Finale der ganzen Welt-
Seschichte in Gestalt der Sage vom Anti-Christ er-
Schien. Von den Neo-Christen ist es jedoch
^ekannt, daß in ihren Betrachtungen Teufel.
^nti-Christen und Satane umherflattern wie Fleder-
hJäuse vor dem Qewitter.

III

Im Qegensatz zu diesen Anhängern der For-
•bol „Credo, quia absurdum“ tauchten bei uns in
'ten sechziger Jahren die Anhänger des Verstandes
Jnf, aber des begrenzten und selbstzufriedenen,
^nrzsichtigen Verstandes, der nicht bloß das Wun-
J* er und die Ueberlieferung verneint, nicht nur die
Schule der alten Religiosität, sondern die Religio-
s|tät selbst und alle ewigen Fragen des Seins „sehr
e*nfach“ löst, indem sie sich über sie in derber
Weise Iustig machten. Sie wollten die russische
'^irklichkeit von dem angefaulten Scheinwesen
Jeinigen und überschätzten dabei, ohne es selbst zu
öemerken, das Leben und schufen so, von den
■etzten Absichten erfüllt, die trübe Wirklichkeit;
^ährend der Realismus die Qöttlichkeit des Lebens
'jerneinte, erlebte der Nihilismus eine zweite Ge-
öurt, und die nihilistische Fröhlichkeit führte zur
J-angeweile. Die Seele fühlte sich beengt, und es
n3lf weder das Sezieren der Frösche noch die Ver-
?|higung mit dem Volke, noch das politische Eifern.
°er Realist, der unter das Volk ging, lief im Qrunde
v°n seinem ungöttlichen Leben zum ungöttlichen
-■eben des Volkes über. Der russische Nihilist schuf
r as unterirdische Rußland, unterirdisch nicht allein
Jj 11 Polizeilichen, sondern auch im allgemeinen Sinne.
Jjenn indem er über das Leben an Stelle des gött-
' chen Himmels der Ewigkeit die Decke der
nerisch-zwecklosen Existenz schob, verwandelte
er äie ganze Welt in ein Kellergewölbe.

rv

In ihrem Kampf mit der Religiosität ver-
e,niKten sich unsere daheim gezüchteten Realisten
um Beispiel mit dem Westen, zitierten Büchner und
"Pencer und vergaßen dabei, daß der Westen zu
einer Kultur nicht den schmalen Pfad des kühnen
vP°ttes, sondern den mühsamen und ruhmvollen
ek der religiösen Reformation durchschritten

hatte. Unsere Realisten flbersahen das große
historische Qesetz: ein Volk reift nur für die höhere
Kultur, das nicht in den anfänglichen Qlaubensarten
erstarrt, sie auch nicht leichtsinnig verwirft, sondern
sie innerlich umgestaltet, sie durch den geheimnis-
vollen Prozeß der Reformation führt, in dem die Per-
sönlichkeit gleichsam noch einmal geboren wird und
sich veredelt, wie der Traubensaft sich im Pro-
zeß der Qärung veredelt und aus der süßlichen
Flüssigkeit der edle Wein wird. In dieser Be-
ziehung können alle westlichen Völker in zwei
große geistige Rassen geteilt werden. Die höhere
Rasse, zu der die Völker mit der Wiedergeburt im
Prozeß der Reformationsgärung gehören und die
niedrigere Rasse derjenigen Völker, die in der
religiösen Orthodoxie verharrten oder sich aus
dem Feuer der Vorurteile in die Flammen des
Atheismus warfen.

Der Unterschied zwischen diesen beiden ist
eingewurzelt und organisch und erscheint in allen
Formen des Schaffens und der Betätigung, selbst
in solchen, die sich gleichsam in dem einen Punkt
weder mit den religiösen Vorurteilen, noch mit der
religiösen Aufklärung berühren. Nehmen wir bei-
spielsweise eine Sphäre, die der Religion fern
Iiegt und in diesem Augenblick für uns eine so all-
tägliche Bedeutung hat, wie die Reinlichkeit und
Hygiene des Körpers, so sehen wir, daß der Kultus
der Reinlichkeit in jenen Ländern herrscht, in
welchen der Einfluß der Reformation mehr oder
weniger stärker war und umgekehrt. Demnach
müssen wir annehmen, daß der Prozeß der Refor-
mation nicht nur infolge der Wahrheiten, zu denen
er führt, von Wichtigkeit ist, sondern auch, und
dies viel mehr infolge jener Festigung, die in ihm
die Persönlichkeit, richtiger der Verstand der Per-
sönlichkeit erlangt, indem er Qott erforscht und
sich im Unendlichen bejaht.

Ein Volk, das durch die Reformation gegangen
lst, gleicht einem Organismus, der aus widerstands-
kräftigen, für den Kampf ausgerüsteten Zellen be-
steht, indeß die kleinen Zellen wie vorher bis zum
Prozeß der Reformation schwankend und willen-
los bleiben. Man muß leider zugestehen, daß das
russische Volk — als Qanzes — der Reformation
nicht teilhaftig geworden ist. Die russische Per-
sönlichkeit hat die religiösen Zweifel noch nicht
überwunden, die letzten unlösbaren Fragen des
Lebens in der Einsamkeit mit dem Qewissen nicht
gelöst, die hohen Rechte der Vernunft nicht bejaht
und deshalb auch sich selbst nicht bejaht, denn
Persönlichkeit und Vernunft sind gleichbedeutend.
Die russische Altgläubigkeit schritt nicht vor,
sondern zurück. Das Sektierertum aber, das als
ein Reflex der von außen herübergewehten, einst
befreiten, mächtigen, aber längst veralteten, ver-
witterten deutschen Reformationsidee auftrat,
konnte das Qehege nicht verlassen und erwies sich
als ohnmächtig, auf die gebildeten Klassen einzu-
wirken, die bereits, wenn auch durch fremde
Worte, von der Freiheit der wissenschaftlichen
Kritik erfahren hatten. Das russische Volk, das
außerhalb der Reformation geblieben ist, war
bisher verurteilt, im Hinterhof der Kultur zu
weilen.

V

Als erster Verkündiger der religiösen Refor-
mation in Rußland, als zeitgenössischer Luther
erscheint Tolstoi, der im Qegensatz zu den heiteren
Realisten die Qöttlichkeit des Lebens bejahte, aber
gleichzeitig im Qegensatz zu den Anhängern des
Absurden aus der Religion alles Unvernünftige aus-
schaltete (was auch seine Lehre von der deutschen
Reformation unterscheidet). Das Leben ist
göttlich. In der Welt vollzieht sich nicht der
menschliche, sondern der göttliche Wille — das ist
die grundlegende religiöse These, mit der Tolstoi
die Sünden des russischen Nihilismus gesühnt und
den Dingen ihren absoluten, hohen Wert wieder
zurückgegeben hat. Aber die Göttlichkeit des
Lebens wird nicht als ein besonderes Qesicht
eines blinden oder hellen blendenden Glaubens
aufgefaßt, nicht auf Grund von Ueberlieferung und
Büchern, sondern von der Persönlichkeit, durch
ihren eigenen Verstand, welcher der höheren Reife
erreichbar ist und durch eine höhere Erkenntnis er-
iangt wird.

In einer seiner Broschüren warnt Tolstoi vor
lalschen Bropheten, die behaupten, die Wahrheit
rrehr als irgend etwas zu lieben. Wer die Wahr-
heit mehr als irgend etwas Iiebt, der liebt wirklich

nichts. Bei Tolstoi ist Wahrheit mit Oott gleich-
bedeutend. Tolstois Religion ist die Religion des
mystischen Verstandes, die Religion ohne Qlauben
an das Wunder. - .,

Im Zeitalter des Zweifels und des Unglaubens
auftretend, bewies Tolstoi, daß die wahre Rellgion
den Unglauben nicht fürchtet. Darin besteht die
Neuerung und die machtvolle Verkündigung: der
religiösen Reformation Tolstois. . <

vi .'jS

Indem Tolstoi der Welt die absolute hohe Be-
deutung wieder zuerkennt und die höheren Rechte
der Verstandespersönlichkeit bejaht, ist er für
uns einer der größten Kämpfer für dle
Kultur. Dies bedarf einer Erklärung. Wenn män
in Tolstoi nur den Moralisten sehen will, mflßte
man ihn zu den Feinden der Kultur zählen. ToJstöf,
der die Passivität predigt, zum Pfluge ruft, die
Medizin und Astronomie verneint, über den Kampf
mit den Bazillen lacht, eine Symphonie von Beet-
hoven niedriger stellt als ein Bauernlied urid Über
Shakespeare spottet — dieser Tolstoi legte offen-
bar nicht den Qrundstein zur Renaissance unserer
Kultur. 6

Wie Tolstoi leben — die Erde beackern, den
Militärdienst, das Bezahlen von Steuern ver-
weigern, der Welt den Rücken kehren und sich !n
eine Dorfeinöde zurückziehen — ist gewiß leichter.
Aber alles verändert sich, wenn man Tolstöis
Moral als etwas innerlich Erlebtes erkennt urid als
Reflex unserer alten, fruchtlosen, schwärmerischen
Liebe zum Voike und wenn man die Unabhängig-
keit, die ganze schöpferische Qröße Tolstois in
seinen religiösen Predigten sucht. Als religiöser
Denker, als Kämpfer für das Recht des Verstandes
ruft Tolstoi vorwärts zur Philosophie, zur Wissen-
schaft, zu den höheren Formen der Kulturtätigkeit.
Das Dorf wird nie die Religion ohne den Qlauben
begreifen, und wenn es die Lehre Tolstofs an-
nimmt, so wird es sie sofort verunstalten, sie in
Sektierertum verwandeln — ohne Priestertum
in einen neuen Qlauben, in einen neuen Kult der
Wunder und Qebete. Wenn man Tolstoi als
nissischen Luther betrachten soll, so ist er ein
Luther der Städte und nicht der Dörfer, der Intelli-
genz und nicht der dunkeln Massen. Mit der Kraft
und Offenheit seiner Worte hat Tolstoi verkündigt
daß der Verstand, der das Wunder sowie die äußere
Qesetzmäßigkeit verneint, in der Welt eine höhere
göttliche Qesetzmäßigkeit voraussieht. Tolstoi hat
diese Wahrheit ausgeSprochen, aber nicht ver-
wirklicht. Er entwarf den Plan zu einer neuen Reli-
gion und überließ es seinen künftigen Anhängem,
nach diesem Plan zu bauen. Und wie sich die kom-
mende Qeneration Rußlands zu diesem Vermächtnis,
zu Tolstois religiösem Problem. verhalten wird.
davon hängt unsere Zukunft ab. Ich sage das nfcht
weil ich die praktischen Aufgaben des Lebehs
niedriger stelle, sondern, weil zwischen dem prak-
tischen und dem religiösen Verstand ein unzerreiß-
bares Band besteht. Ob wir uns im Kampf
mit den Japanern, im Kampf mit dem alten Re-
gime, im Kampf mit den Bazillen als Sieger er-
weisen werden — alle praktischen Fragen der
russischen Wirklichkeit hängen davon ab, ob die
russische Kultur-Persönlichkeit den Wunsch
und die Kraft in sich finden wird, in der Einsamkeit
mit dem Qewissen das religiös-philosophische
Problem des Daseins überhaupt durchzuleben urid
dsrüber nachzudenken.

Das Qespräch über Tolstoi ist kein müßiges,
sondern das tägliche geistige Brot unseres Werkel-
tages. Das Schicksal sandte uns einen neuen
Luther, den Verkünder einer neuen Reformatton,
aber sie verkörpern und verwirklichen könrien
nur wir selbst. „ , ■ .

Berechtlate Uebergetzung rau» dem Ru8*i8chen von
Luiae Flachs-Fokschaneanu

Daniel Jesns

Roman

Von Paul Leppin

Siabeata. Fertactmy

Seit jenem Abend, als er seine Mutter döm
buckligen Iesus preisgegeben hatte, war über Josef
eine tiefe und seltsame Traurigkeit gekommen.
Seine wilde, unbändige Seele floh vör dem Erlebhis

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