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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 6 (April 1910)
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Fortschritt
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Walden, Herwarth: Ehrengerichte
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Friedlaender, Salomo: Mein Sohn
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Beachtenswerte Bücher und Tonwerke
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0050

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olle, gesclimacklose Freilicht-Aufnahnie „Die
Stunden“ der Pariser Firma Qaumont, deren öde
Langeweile heute kein Berliner Vorstadt-Kino mehr
zu bieten wagt. Dieses letzte Bild also, das mit
Kunst gar nichts zu tun hat, stellt einfach eine Irre-
fiihrung des bedauernswerten Publikums von
Volksschullehrern dar, die doch nun zu der Ueber-
zeugung gelangen müssen: wenn ein richtiger
Oberlehrer sagt, das da ist Kunst, dann wird es
wohl irgendwo in der Welt unter gebildeten Leuten
als Kunst gelten!

Die Schulbehörden sind selbst aus so denk-
unfähigen Elementen zusammengesetzt, daß von
dieser Seite niemand den „wissenschaftlichen“
Kientop-Oberlehrer zurechtweisen dürfte. Hat der
Herr vielleicht einmal Qelegenheit gehabt zu lernen,
dass die Qriechen nicht nur die Vokabeln -tk™
(ich teile Ohrfeigen aus) und X!Zl&£U(l» (ich schreibe
schlechte Zensuren) sondern auch sogenannte Kunst
hinterlassen haben, von der inan sich heute noch,
Eintritt vollständig frei, überzeugen kann. Oder
kann ein Schulrat dem Herrn am Ende begreiflich
machen, daß die Engländer nicht nur die alt-
englische Qrammatik, sondern auch die induktive
Wissenschaft (ohne Baumwollernten und Shackle-
ton) fabriziert haben? Ach, die oben erfragte Qe-
legenheit hat der Herr wohl ebensowenig wie seine
Kollegen gefunden, und was kann wohl ein Schul-
rat anders als irgend eine Medaille für fremde
Dienste in Empfang nehmen und sie Sonntags an
seinem Holzbein spazieren führen. Denn das weiß
man ja längst: „Pädagogen“ werden heutzutage
meistens nur jene Müdesten und Unbegabtesten,
die in der Wissenschaft oder in der Kunst endgültig
Schiffbruch erleiden.

Die Urania ist ein Institut, das seinen harm-
losen Besuchern den Qlauben beibringen will, wenn
sie Maulaffen feil hielten, genössen sie wissenschaft-
lichc Belehrung. Wer dieses Bestreben durch an-
geblich wissenschaftliche Vorträge von der oben
charakterisierten Art' runterstü‘zt, und der Sache
noch durch volle Nennung seihes pseudowissen-
schaftlichen Titels vor dem Namen den nachdrück-
lichen Eindruck des Ernstzunehmenden zu verleihen
sucht, dem muß einmal öffentlich in sein Fort-
schritts-Handwerk hineingeredet werden!

Wer war Jesus?

Oder:

Die Unterschicht und die Volksberührung

Die Frage wird schon im Voraus erschöpfend
beantwortet durch einen Prospekt mit Photo-
graphie, der den Montags-Zeitungen beilag. Auf
dem Bilde sieht man einen pausbäckigen Herrn mit
gestutztem Schnurrbart und gepflegtem Henri-
quarte, dessen Bonhommie auf einen Weißbierwirt,
dessen lange Haare aber auf einen Künstler
schließen lassen. Wer ist das? Es ist Dr. Max
Maurenbrecher, wie sein Prospekt sagt, „der
Sohn des bekannten Leipziger Geschichts-
professors. Er, der vielgenannte sozialdemo-
kratische Schriftsteller . . .“ Er „hat,“ wie sein Pro-
spekt sagt, „schon in jungen Jahren die Aufmerk-
samkeit der Oeffentlichkeit auf sich gelenkt. Ohne
Zweifel ist er ein Redner mit eigenen starken Qe-
danken.“ Ferner bekennt der Prospekt von dem
Dr. Max Maurenbrecher ebenso bescheiden wie
aristokratisch überlegen:

„Durch seine sozialpolitische Tätigkeit im
nationaisozialen Verein und innerhaib der sozial-
demokratischen Partei hat er eine tlichtige Kennt-
nis der Gefilhlswelt der Unterschicht bekommen
und ist darum auch imstande, den sozialen Cha-
rakter des Urchristentums schärfer zu erkennen
a!s Gelehrte, denen die Volksberiihrung fehlt. Er
spricht klar und offen und verschleiert niemais.
Seine Vorträge, die bei aller wissenschaftlichen
Objektivität oft von dem leidenschaftlichen Pathos
einer aus schweren Kämpfen gewordenen Ueber-
zeugung durchgliiht sind, sind darum auch fiir dem
Gegner ein ästhetischer Genuss. Auch mit seinen
religions-historisch-kritischen Arbeiten hat Mauren-
brecher auf die Kreise der theologischen Fach-
gelehrten in allen Lagern und auf die Gebildeten
in dem nichtkirchlieh interessierten Publikum
grossen Eindruck gemacht.“ —

Halloh, Ihr Boys aus der Unterschicht! Halloh
old Billy, dem die Volksberührung fehlt! Kommt
alle rein, jeder Hörer nimmt vollständig umsonst
entgegen ein Beefsteak mit zwei Kartoffeln. Außer-
dem redet der schönste Mann des Jahrhunderts;
Männer und Frauen ! Karten bei Wertheim !

Progre ß
4h

Ehrengerichte

Seinem neuesten Laster, der iiterarischen
Selbstbefleckung, frönt der Herausgeber der Schau-
bühne jetzt auch in der Lessing-Lublinski-Affäre,
mit der er seiner literarischen Konstitution bereits
urbekömmlich viel zugemutet hat. Seine Qewissen-
losigkeit grinst vergnügt dazu, wie Theodor Lessing
in einer dilettierten Reimsache dreiunddreißig Au-
toren, unter denen sich mehrere Mitarbeiter der
Schaubiihne befinden, Esel nennt. Die dreiund-
dreißig Autoren hatten in der Schaubühne erklärt:

Die Unterzeichneten drücken gelegentlich des
Artikels „Samuel zieht die Bilanz“ von Theodor
L essing in Nr. 3 der Schaubühne ihr Bedauern
darüber aus, daß es keine Ehrengerichte für Jour-
nalisten gibt.

Dieser lauwarme Quß wirkt freilich nicht er-
quickend. Aber man weiß, es gibt vorsichtige Au-
toren, die es mit Verlegern nicht gerne verderben.
Ein mildes, unverbindliches Protestchen dagegen
wird gerne unterschrieben (so eine liebe deutsche
Harmlosigkeit, worin man Jemanden einen Schurken
nennt, aber vor Zeilenschluß dem Manne im
übrigen seine Hochachtung nicht versagt). Die For-
mulierung der literarischen Anstandsforderung muß
mit Massen !n Szene gehen, unter denen die Naivität
auch Pseudoberühmtheiten nicht entbehren zu
können glaubt. Welch niederschmetternder Ein-
diuck, wenn selbst Ferdinand Avenarius unterr
schreibt. Was für ein Verbrechen muß begangen
sein, daß auch notorisch konnivente Herren unter-
zeichnen. Und mit den gangbaren Namen der Be-
dächtigen wächst die Qier nach Unterschriften und
manscht mitten unter die Namen ernsthafter Schrift-
steller einen Haufen über alle Zweifel erhabene
Kitscher, die künstlerisch noch unter Theodor
L.essing und Siegfried Jacobsohn rangieren. Jenen
aber traue ich zu, daß sie auch dieses unterschrie-
qen hätten.

Die Unterzeichneten erklären den Artikel:
, Samuel zieht die Bilanz“ von Theodor Lessing in
Nr. 3 der „Schaubühne“ für eine geistlose und un-
witzige Anhäufung von Schimpfworten ohne kriti-
schen und satirischen Wert. Sie stellen fest, daß
Herr Theodor Lessing kein kiinstlerisches Ehrge-
fiihl besitzt und keine menschliche Scham empfin-
det, und unwürdig ist, sogar in solchen Zeitungen
und Zeitschriften gedruckt zu werden, in denen der
kiinstlerische Einwand und die literarische Fehde
durch hämische Verhöhnungen des äußeren Men-
schen und seiner Lebensart ersetzt sind. Immer
haben Gassenjungen durch Johlen und Kotwerfen
zu erkennen gegeben, daß sie einen soignierten Voll-
bart jeder geistigen Potenz vorziehen.

Die Unterzeichneten legen, soweit sie Mitarbei-
ter der Schaubühne sind, ihre Mitarbeit nieder und
bedauern, daß es kein Ehrengericht gegen den Her-
ausgeber von Schaubühnen gibt. T r u s t

Mein Sohn

Von Mynona

Mein Sohn, ein gewisser Herr Lehmann, dem
ich vom Tage seiner Geburt an ein mir verwunder-
liches Interesse gewidmet hatte, ist heute ein
dicker, melancholischer Mann von rund dreißig
Jahren, der mir unsympathisch ist, weil er unge-
setzlich verfährt. Er rechtfertigte sich mir gegen-
iiber mit der Einwendung, man mtisse sich be-
weisen, daß man nicht bloß aus Qutmütigkeit bei
der Stange bleibe. „Du sollst nicht töten,“ sprach
ich zu ihm mit väterlicher Stimme. Siehe da! er
fiel mir zu Füßen, zog aus seiner inneren Rock-
tasche ein braunes seidenes Tuch, darin lagen wohl
eingewickelt mehrere Revolver, ein Fläschchen
Qift, ein Strick. ein Döschen Pfeffer, kurz lauter
Sachen, die Argwohn erregten. „Ich soll nicht,“
schluchzte mein Sohn, „allein ich muß es erst
können“. Er tat die Sachen wieder in seinen Rock
nnd vollfiihrte einen Freudensprung. Bald darauf
ermordete er meine Frau, eine schöne Matrone,
die ihn mir geboren hatte. Ich machte ihm ernst-
liche Vorwürfe. Aber mein Sohn, bei aller Zartheit
ein harter Charakter, mißhandelte mich auf das
Roheste, so daß ich zum bösen Spiel gute Miene
machte. Versteht sich, daß mein Sohn dem Qericht
jedesmal ein Schnippchen schlägt. Bloß mir hat er
es angeboten, daß ich der Mitwisser seiner Schänd-
lichkeiten sei; und schließlich muß ein rechter

Vater seinem Kinde auch ein paar Mal durch di«
Finger sehen können. Ich billigte seine eigentüm-‘
liche Methode, sich zu einem gesitteten MenscheHi
zu erziehen, keineswegs: aber sie imponierte mif
Es genügte, daß er jemanden liebte, alsbald sanf
er auf die grausamsten Mittel, Partei gegen sicl
zu nehmen: er zwang sich zur Ermordung allel
Triebe und Qegenstände seines Herzens. „Nur so,-
aigumentierte er, „bekommt man sich in eigend
Qewalt.“ Bei diesen Worten weinte ich laut aufi
„Du liebst mich nicht, mein Sohn,“ stöhnte icL
„denn ich lebe noch.“ „Hoho!“ lachte er: „Ich be-
darf eines Mitwissenden, es ist eine Schwäche —-I
wer weiß, Du hast etwa Hoffnung.“ Am vorigeflj
Mittwoch ertränkte mein Sohn seine Braut, ef
teilte mir es brühwarm mit: „Ich kann darübefj
weinen oder Iachen — wie ich eben will,“ frohlockte'
er, „ich habe eine vollkommene Freiheit iiber alle
Bewegungen meines Qemütes erlangt.“ „DanH
laß es doch endlich!“ raunte ich ungeduldig-
„Jetzt,“ sagte er, „wo es mir Spiel geworden ist.
ein liebliches Spiel der Selbstfolterung, nicht zU
vergessen, wie es Dich quält, Papa? — Qeduld.
alter Herr! Du bist noch nicht an der Reihe.“ —'
Hierauf schoß er mir unversehens mit dem Re-
volver meinen Nasenknorpel weg und schickte
unsere Dienstmagd zum Arzt. Ich tröstete michj
mit einem Rückschluß auf die Stärke seinefj
Sohnesliebe. In der folgenden Nacht erdrosselte
er meine Lieblingstochter Angelika. „Das rächßj
der Himmel!“ rief ich aus, ich verlor alle Selbst-
beherrschung, mir graute. Lehmann wurde mifi
vollkommen unheimlich. War dieses Ungeheuef
wirklich mein Sohn? „Alterchen, Du bist ein
drolliger Kerl,“ amüsierte er sich. „Ich gebej
übrigens zu. daß die Möglichkeit des Todesi
schrecklich ist: aber wie, wann, wo wir sterben, ist
recht sehr — Nebensache und sollte niemandeti
ernstlich aufregen.“ „Du bist irrsinnig,“ schrie ich
ihn an, „Deine Vernunft ist beim Teufel; wenn Du
jetzt kein Ende mit Deinen Mordübungen machst.
geh ich zum Qericht, ich hätte es schon beim Todc
Deiner Mama tun sollen.“ — „Vater,“ sagte mein
Sohn und sah mich auf eine unbeschreibliche Weise
an, „Sie werden sofort Qift kriegen. Zuvor jedod 1
töte ich Ihre alberne Logik. welche die unendlichc
Vernünftigkeit des Wahnsinns lästert.“ Er gah
mir, so viel ich weiß, einen furchtbaren Klaps atif
die Schädelkapsel. „Jetzt schweige, Idiot, der DH
nun bist,“ brüllte er, rauchte, in meiner Stube hü 1
lirid her gehend, eine Zigarre, und entfernte sid 1
verdrossen. Inzwischen kam ich wieder zur Be-
sinnung, in meinem Speisezimmer fand ich dic
Dienstmagd in Qestalt einer Leiche, ein Anblick.
der, trotzdem ich durch meinen Sohn abgehärtd
dagegen war. mir doch dermaßen zusetzte, daß id 1
zu pfeifen aufhörte, ich hatte gerade eine Verdischc
Arie zwischen den Lippen gehabt. Ich kam mehf
und mehr in eine wehmütige Stimmung. Plötzlid 1
geriet mein Herzschlag in immer rasenderei 1
Qalopp. zugleich machte mir das Atmen Schwierig'
keiten, und glühende Nadelspitzen stachen i 11
meinen ganzen Körper. Kein Zweifel! Ich waf
während meiner Qeistesabwesenheit vergiftd
worden. Mit dem letzten Aufgebot meiner Kraft
nahm ich ein Brechmittel, es wirkte, und ich bc-
gann, mich zu erholen. Da kehrte mein Sohr>
zurück. Du lebst?“ fragte er ungläubig lächelnd.
„Ich lebe,“ antwortete ich fest und würdig. Das
schien ihn nicht einzuschüchtern. Er zog ein Blatt
aus der Tasche und rechnete einige Minuten-
„Vater,“ verkiindete er mir sein Resultat, „Du hast
die Lebenskraft von vier Rossen. Theoretisch
bist Du tot. und moralisch bist Du es fiir mid 1
längst. Hierauf schickte er zum Arzt. „Herf
Doktor, erklärte er diesem, „mein Papa, der altc
Herr. den Sie dort pfeifen hören, ist vor etwa einef
halben Stunde gestorben; bitte konstatieren Sic j
das und fertigen Sie einen Schein aus.“

Beachtenswerte Bücher und Tonwerke

Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Fall statt

RENE SCHICKELE: Der Fremde/Roman
Morgenverlag, G. m. b. H., Berlin
PETER BAUM: Gott. Und die Träume /Gedichte
Axel juncker. Verlag, Beriin
KARL KRAUS: Sittlichkeit und Kriminalität
Verlag Rosner, Wien

Veräntwortlich für die Schriftleitung:
ERWARTH WALDEN / BERLiN-HALENSEE
 
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