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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 43 (Dezember 1910)
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Mombert, Alfred: Still ist es / Still
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Speidel, Ludwig: Alte Mädchen
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [3]: Ein Volksroman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0346

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Still ist es / Stiil

Es war sehr fern. Im Herbstgebiet,
durchklungen von dem Schall der vielen Quellen.
Mein Auge weltfrei offen im Aether.

Ueber gelben Blättern,
niederwehend bei kalten Brunnen . . .
die ferne Flöte.

Dort stand ich lange mit kristallnem Auge,
es zogen weisse Wolken durch die Zeit,
am Rand der Ströme blinkte dünnes Eis.

Ich blickte einmal auf: und es stand Einer nahe:
und dann erblickte ich immer ihn.

Denn Dieser stand mit Haupt und Schultern
als tragender Riese unterm Sterngewölbe,
hochstützend alle Herrlichkeit der Welt.

Auf seinem Antlitz,

auf seinem wundervoll erhellten Antlitz
erschien das dämmernde Bild der Welt,

Licht und Schatten, spielend um die Lippen,
herquellend masslos aus den Glanz-Bezirken.

Bei solchem stand ich ''mit kristallnem Auge,
es zogen weisse Wolken mii ums Haupt,
zu meinen Füssen blinkte das Eis.

Und danach kams: Auf seinen Lippen
entstand ein Wort. Nicht hörbar,
aber mir sichtbar. Sinkendes Licht,
aus seiner Welt hinsinkend in die meine.

Ich nahm sein Wort, ich nahm sein Licht, und

nahm dann

seine ganze Welt auf meine Schultern.

Das dämmernde^All, die strahlenden Lichter,
alle Glut-Gesetze.

Als wär das immer so gewesen,
so stand ich jetzt als Himmel-Träger,
indessen Jener langsam drunter wegging
wie der Welt-Schatten,
hinüberging ins Herbstgebiet
— traumaltes Auge —
dort hinzusitzen mit gestütztem Haupt,
wo kalte Brunnen verschüttet schluchzen
unterm ernsten Laub.

Und Glanz und Finsternis bezog mein Antlitz.
Hohe Vergessenheit. Erschienenes Sinnbild.

Stillfist es. Still

‘ Manchmal kommt noch ein Weib,
wie Erinnerung
steht es in sanfter Ferne,
beschauend mein beglänztes Auge,
den Weltbau, die Lichter,
die Adern meiner tragenden Hände;
und mein beschattetes Geschlecht.

Alfred Mombert

Alte Mädchen

Von Ludwig Speidel

Wie gewöhnlich, wenn die Weihnachtszeit herannaht,
habe ich wieder die Nase voll Tannenduft, und diese
von der Kindheit her vererbte angenehme Gewohnheit,
die ich noch jetzt in jedem Sinne grün nennen möchte,
stimmt mich mitteilsam, soweit ein von Natur so kurz
angebundener Mensch auf solche freigebige Bezeichnung
Anspruch machen darf. Doch schäme sich des Kindes
in ihm, wer da will — wir wollen nicht die Philister
sein, die altklug von der Höhe ihrer Weisheit herab-
schauen, wenn unseren Kindern der Wald ins Haus
wächst und in jedem Tannenwedel das Harz sich rührt
und das warme Gemach mit Wohlgeruch erfüllt. Das
ist der wahre Duft der Seligkeit, die Atmosphäre des
Kinderhimmels. Das riecht nach Glück und bringt es
auch, erschiene es nun in Gestalt von funkelnden Dia-
manten oder vergoldeten Wallnüssen. Ich höre es
wieder in den Wänden rieseln, als ob tausend geschäf-
tige Geister ihr Wesen trieben, die Türklinke knackt
leise, ohne dass jemand in die Stube tritt, und ein
Rascheln und Flüstern geht durch das Haus, welches
man nicht allein dem geschüttelten Rauschgold zu-
schreiben möchte. Die Familiengeister gehen um, zu-
mal der hundertfältig sich teilende Geist der Mutter,
die jedes Bedürfnis kennt und wahrt, vom aufgezoge-
nen Saume des zu langen Unterröckchens bis zum
Seelenheile des kleinen Naturheiden, der ihrem Schosse

entsprossen ist. Zwischendurch, wenn eine ferne Tür
aufgeht, erschallt frisches Kindergelächter, oder ein zärt-
lich fortgescholtenes neugieriges Gesicht guckt in das
Zimmer hinein. Aber die heranwachsenden Mädchen
sind schon vom Geiste der Mutter beseelt, denn wäh-
rend die Gute selbst, jeden Wunsch bedenkend den
Familienbaum rüstet, putzen sie für arme Kinder eine
kleine Tanne, auf deren Spitze sie ein nacktes Knäb-
lein setzen, welches sehr gesund aussieht, und von dem
in kindlichen Kreisen die Sage geht, dass es die Welt
erlöst habe. Und die Sage hat recht. Kinder, kleine
wie grosse — wenn sie gross geworden sind, heisst
man sie Genies — erlösen die Welt noch täglich, und
am heutigen Kindertage, ihr Kleinen, ist unsere Selig-
keit nur ein Abglanz der eurigen. Die kleinen Hei-
lande blicken uns aus ihren grossen Kinderaugen er-
staunt an, sie kennen die arge Welt noch nicht und
spielen lächelnd mit einer Passionsblume.

Wenn ich aber bei den Kindern dankbar zu Gast
sitze und mich an ihrer Seligkeit sonne, so muss ich
jedesmal der Stiefkinder des Glücks gedenken, denen
der Himmel nur graue Tage und öde Nächte beschert.
Ich will noch nicht von den Armen reden, denn was
ist arm und reich? Wir sind nie reich genug, um
den hohen Flug unserer Wünsche zu erreichen, und
selten so arm, dass wir nicht täglich einen Sonnen-
strahl der Freude empfangen könnten. Ich will von
wahrhaft armen Wesen sprechen, die so oft, wenn
alles sich freut, traurig beiseite stehen, traurig und un-
beachtet, wenn nicht gar verachtet. Diese Aschenbrödel
der bürgerlichen Gesellschaft, am Weihnachtstage, dem
Feste der Kinder, doppelte Aschenbrödel, sind — das
Wort will garnicht aus der Feder — die alten Mädchen.
Alte Mädchen! Mädchen und alt! Es besteht ein
solcher Widerspruch zwischen diesen beiden Wörtern,
dass sie selbst erstaunt sind, so hart nebeneinander
zu stehen. Mädchen — ein Geschöpf voll Verheissung,
eine blühende Anweisung auf Leben, Genuss und Glück!
Und alt — der Abgrund alles Unwünschenswerten.

So grausam aber diese Bezeichnung auch sein mag,
sie ist nicht grausamer als das Geschick der damit
bezeichneten. Ein altes Mädchen sein heisst ein
Schicksal tragen, an welchem eigene Verschuldung nur
in den seltensten Fällen einen bedeutenden Anteil hat
Man ist meistens ein altes Mädchen, wie man ein
Genie ist; ohne Verdienst oder Schuld; nur mit dem
schneidenden Unterschiede, dass dem Genie, weil es
das selbstverständlich Göttliche ist, alles als Verdienst,
dem alten Mädchen aber, weil es schicksalvolles Un-
glück trägt, alles als Schuld angerechnet wird. Es
gibtim strengsten Sinne notwendigerweise alte Mädchen:
Natur und Igesellschaftliche Verhältnisse wollen es so,
was aber notwendig ist, gerade das an mir verspottet
und verlacht zu sehen, ist das unbarmherzigste und
unerträglichste. Ein altes Mädchen fordert, wenn nicht
Mitleid, doch Mitgefühl heraus.

Schon in frühen Zeiten hat die Frage der alten
Mädchen die Geister beschäftigt. Mit seiner heiteren
Anschaulichkeit schiidert der Vater der Geschichte eine
babylonische Sitte, die es mit unserem Gegenstande
zu tun hat. „In jedem Dorfe,“ erzählt Herodot,
„wird alle Jahre einmal also getan: wenn die Mädchen
mannbar geworden, so mussten sie alle zusammenge-
bracht und auf einen Haufen geführt werden. Rings-
umher stand die Schar der Männer. Sodann hiess der
Ausrufer eine nach der anderen aufstehen und ver-
steigerte sie. Zuerst die allerschönste; dann, sobald
diese um vieles Geld erstanden war, rief er eine an-
dere aus, welche nächst dieser die schönste war, aber
alle mit dem Beding, dass sie geehelicht würden. Was
nun die Reichen unter den Babyloniern waren, die da
heiraten wollten, die überboten einander, um die Schön-
ste zu bekommen; was aber gemeine Leute waren,
denen es nicht um Schönheit zu tun war, die bekamen
die hässlichen Mädchen und noch Geld dazu. Denn
wenn der Ausrufer alle schönen Mädchen verkauft
hatte, so musste die Hässlichste aufstehen, und nun
rief er diese aus. bis sie dem Mindestfordernden zu-
geschlagen wurde. Das Geld aber kam ein von den
schönen Mädchen, und auf diese Art brachten die
schönen die hässlichen an den Mann. . .“ So weit
Herodot Dieser babylonische Methode, eine soziale
Frage zu lösen, hängt doch, vom übrigen Bedenklichen
abgesehen, ein grosser Fehler an: sie legt einen
schwankenden Massstab zu Grunde. Denn was ist
hässlich? Es gibt immer noch eine Hässlichere, also
keine unbedingt Hässliche. Hässlich sein, ist noch kein
Hindernis, reizend zu sein, und wie oft — es gehört
zu den Geheimnissen der Liebe — werden die schön-
sten Männern von hässlichen Frauen beseligt. Häss-
liche Mädchen, die ihre schöne Seele nicht an den

Mann gebracht haben, sind die [Minderzahl unter den
alten Mädchen.

Man wird aus allen möglichen Gründen ein altes
Mädchen, aber zumeist, weil die Natur die Geschlechter
ungleich ‘verteilt hat, und weil ,die Verhältnisse der
bürgerlichen Gesellschaft nicht danach angetan sind,
das gesamte Liebeskapital der Mädchen fruchtbringend
anzulegen. So sind die meisten alten Mädchen reine
Opfer. Alle die verschiedensten menschlichen Motive
spielen zwischendurch. Das alte Mädchen ist oft aller
Romantik voll. Sie hat einen Roman gehabt, einen
erlebten oder einen erträumten. Er ist ihr gestorben,
er hat sie für eine andere verlassen, oder er hat ihr
stilles Werben nicht bemerkt. Sie hat ihr Glück viel-
leicht versäumt, es unbedachtsam ausgeschlagen, oder
es ist nie so nahe an sie herangetreten, dass sie es
mit der Hand erreichen konnte. Sie sieht sich von
der höchsten Aufgabe der Frau ausgeschlossen, und der
Kummer darüber geht ihr zeitlebens nach, wenn sie
nicht zufällig eine Amazone ,oder eine Heilige ist.
Manche nennen sie glücklich, denn wenn sie die Freude
nicht habe, so fehle ihr dafür auch das Leid. Dass
sie aber die Freude des Leids nicht hat. das ver-
gessen die meisten. Glück im höchsten Sinne zu ge-
währen, ist ihr benommen. Frauen können so be-
glücken. dass in ihnen selbst, sogar unter Kummer und
Sorgen, eine FüIIe des Glücks wohnen muss. Oder
ist nur diese überschwengllche Fähigkeit, beglücken zu
können, ihr wahres Glück? Ein unberührter Schatz
von Liebe ruht oft in dem Herzen alter Mädchen und
geht ungenützt mit ihnen zu Grabe. Ihre verfehlte
Bestimmung können sie nicht vergessen, selbst wenn
sie ihr Leid ins Kloster tragen. Die Nonne noch
spielt mit der Liebe, mit der Ehe. Da ihr das Nächste
nicht erreichbar gewesen ist, streckt sie die Arme
nach dem Fernsten aus; aber nur, um es ihren Bräuti-
gam zu nennen. Schöner sieht man aite Mädchen in
irdischer Tätigkeit walten, indem sie, wenn auch inner-
lich verblutend und ihre Tränen verschluckend, zu
Schutzgenien ihrer jüngeren Geschwister, ihrer Familie
oder gar fremder Kinder v erden. Würden sie hassen,
so hätten sie ihr Los verdient.

Ich sehe etwas Heiliges in guten alten Mädchen,
wie überhaupt im Unglück, wo über der eigenen Ver-
schuldung, falls sie vorhanden ist, eine höhere Macht
entscheidend gewaltet hat. Man wird mich wohl am
Ende als den Pindar der alten Jungfern verlachen. Sei
es drum! Tausende mögen mich verspotten, wenn ich
am heutigen Freudentage nur einem jener Wesen, die
zu den Opfern der Gesellschaft gehören, mit einem
einzigen Worte wohlgetan habe.

Am 25. Dezember 1876

In diesen Tagen erscheint der dritte Band der Schriften von
Ludwig Speidel: Heilige Zeiten / Weihnachtsblätter / Verlag Meyer
und Jessen / Berlin

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

VII

Schilda

Der geheime Regierungssekretär Käseberg hatte an
dem Morgen, der dem Frühlingsfeste folgte, sehr zag-
haft sein |Bett verlassen und sah nun, während er
seinen Morgenkaffe schlürfte, sehr zaghaft hinaus auf
die Hauptstrasse von Schilda; der geheime Regierungs-
sekretär fürchtete, und nicht mit Unrecht, dass man
ihm bald die Fenster einwerfen würde mit schweren,
kantigen Steinen; die Tätigkeit der Herren, die in dem
dreieckigen Rathause zu Schilda fest angestellt waren,
hatte der Stadt Schilda noch keinen Vorteil gebracht,
und die Geschäfte standen still.

Die alte Stadt Schilda war vor vielen Jahrhunderten zu
Grunde gegangen, aber die neue Stadt Schilda war vor
ein paar Jahren von Originalen erbaut worden — von
Originalen, die sich vom Volksgeist emanzipiert hatten.
Anfänglich brachte diesen Originalen der Humor man-
chen Vorteil, dann aber zog der Humor nicht mehr,
da es den Utopianern viel zu gut ging, sodass das
neue Schilda bald in Vergessenheit geriet. Nun waren
die neuen Schildbürger nicht sehr fleissig, sie waren
sehr querköpfig und unpraktisch, und da sie zudem

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