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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 4 (März 1910)
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Scheu, Robert: Bildung
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Kraus, Karl: Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0030

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möge seiner rohen Sinne, seiner trüben Wahrneh-
mung, seines dumpfen Gedächtnisses. Die Mehrzahl
der Menschen sieht nur verschwommene Umrisse,
verwechselt, hört schlecht, insbesondere fehlen die
Qualitäts- und Quantitätsmaßstäbe. Zu sehen, daß
Menschen nicht sehen können, erbittert. Gleich-
wohl ist dies die verbreitetste menschliche Eigen-
schaft. Das Generalisieren, das überstürzte Ur-
teilen, blind-mechanische Reagieren auf alle Reize,
die hemmungslose Torheit, — das sind die Geißeln
des menschlichen Verkehrs.

Der triviale Mensch denkt statt in Elementen,
in groben Komplexen. Wundt behandelt einmal die
Frage, ob die Tiere denken, und kommt zu dem
Resultat, daß nicht einmal die Menschen regel-
mäßig denken. Belauscht man die Gespräche alter
Betschwestern, so wird man gewahr, daß sie ganze
Sätze sagen, die man schon anderswo gehört hat,
daß sie Gespräche aus fertigen Sätzen bilden, die
Sprachbestandteile geworden sind. Sie konver-
sieren sozusagen in lauter Sprichwörtern. Es ist
unzerlegtes Denken. Ihre Gehirne gleichen den
Kinderbaukasten, die fertige Fenster, Tiiren und
Tore enthalten, woraus das Kind nur eine be-
schränkte Anzahl von Kombinationen bilden kann.

Eine falsche Psychologie hält das Einfache für
das Aeltere, das Zusammengesetzte für das spä-
tere, baut darauf Sprachlehre, Sprachunterricht
und ähnliche Disziplinen. Noch unsere Urteils-
lehre krankte bis vor kurzem darunter. Jetzt er-
kennt man immer deutlicher, daß Urteilen gleich-
bedeutend ist mit Zerlegen, Herausholen der Ele-
mente aus dem Inhalt des Zusammengesetzten.

Die Trivialität entsteht nun dadurch, daß die
trüben Intellekte, so wie sie in der Anschauung mit
ganzen Umrissen operieren, auch begrifflich und im
Empfindungsleben zurückbleiben, in ganzen Kom-
plexen statt in Elementen denken. Insofern dies ein
Zurückbleiben in der Differenzierung, der höchsten
ethischen Pflicht ist, empfinden wir trivale Men-
schen als widerlich, abstoßend und schädlich.

Es ist offenbar, daß die Trivialität durch alles
begünstigt wird, wodurch größere unzerlegbare
Denkkomplexe bereit gestellt werden.

Das tut aber die kulturlose Bildung ganz all-
gemein. Der gebildete Mensch offenbart seine in-
nere Trivialität viel aufdringlicher als der Unge-
bildete, beziehungsweise, Bildung kann geradezu
trivial machen, indem sie ganze Komplexe von An-
schauungen, Kenntnissen, Parteimeinungen, an die
Hand gibt, die unberührt ins Bewußtsein eingehen.
Der Gebildete verfügt aüßerdem noch iiber ein
gerütteltes Maß Begriffstrivialität und wird dadurch
zu einem Schrecken der Schrecken, zum enfant
terrible der Bildung.

Das Bürgertum züchtet diese Trivialität in der
Schule. Es braucht sie, weil es den Bildungsschein
als soziale Versicherungsprämie zahlt.

Das offenbart sich besonders eklatant in der
sogenannten Frauenbildung. Frauen werden durcli
unseren Bildungstrieb besonders gern ins Rationa-
listisch-Triviale verschoben. Soll man daraus
schließen, daß die Frauen in ihrem Wesen trivial
sind? Ehe wir diesen verzweifelten Gedanken
fassen, wollen wir lieber annehmen, daß die Bildung
ihr wahres Wesen verschleiert und ihnen eine
Maske aufzwingt; oder aber, daß sich echte und
wirklich tiefe Frauenwesen gegen derartige Bil-
dung instinktiv wehren und lieber aus ihrem Fa-
milienleben, Geschäft, Schauspielerberuf und der-
gleichen zu ihrer Bildung gelangen, die zugleich
zweckmäßig und kulturvoll ist. Das Vorurteil
gegen gelehrte Frauen ist wahrhaftig nicht Eifer-
sucht der Männer, sondern gerade die besten und
von Frauenwert durchdrungensten fühlen sich
durch die Beobachtung betrübt, daß die Frauen in
der Bildung verflachen oder ihre inmanente Flach-
heit offenbaren.

Alle zwecklose und kulturlose Bildung rächt
sich als Trivialität, untergräbt die Anschauungs-
kraft, zerbricht das Rückgrat der Willensenergie.
Daher umgekehrt bedeutende Menschen oft wider-
strebend und mühsam lernen, weil sie ihre Bildung
organisch erleben wollen. Die schmerzvoll emp-
fundene Unwissenheit, wie wir sie etwa beim
Proietariat finden, hat kulturell als treibender
Faktor einen höheren Wert als die blasierte Sattheit
des planlos überfütterten Philisters.

Klassenherrschaft und hohe kulturelle Bildurig
wäre im Prinzip nicht unvereinbar. Aber eben des-
wegen, weil es theoretisch möglich ist, beweist die
Schulkrise auch eine ständische Schwäche und
Zersetzung der Herrschaftsinstinkte. Unsere ge-
bildeten Klassen wagen es gar nicht, die Schule

2t»

ernst zu nehmen, weil sie mit ihrer sonstigen ver-
fehlten Oekonomie in Konflikt gerieten. Das Klas-
senprivileg muß beispielsweise auf dem Prüfungs-
wissen bestehen, weil die Prüfungen die Assekuranz-
prämien sind, durch die bestimmte Stellungen ga-
rantiert werden. Wie könnten sich beispielsweise
Militärprivilegien halten lassen, wie könnte man
eine Hierarchie der Vorrechte aufbauen, wenn man
andererseits Individualitäten, Persönlichkeiten er-
ziehen wollte?

Die hart angegriffenen Gymnasial-Professoren
üben allerdings Gamaschendienst. Aber das ist ihr
Zweck, das Bürgertum kann einen Dippold nicht
entbehren, so wenig wie seine Gendarmerie, seine
Polizei, die ihm allerdings zeitweilig lästig werden,
die es gelegentlich bewitzelt, aber im Bedarfs-
falle doch immer wieder ruft. Das Gymnasium ist
die systematische Selbstschwächung der Bour-
geoisie, die unbewußte Rache, die sie an sich selbst
übt, geängstigt von der Doppelfurcht vor dem Ge-
schlecht und dem Genie.

Die soziale Ordnung zittert vor dem Ge-
schlecht als jener Gewalt, die die gesatzte Ordnung
am rücksichtslosesten durchbricht. Darum muß das
Geschlechtsleben schon in der Schule als unsittlich
gebrandmarkt und verdumpft werden. Eine zu
reiner Geschlechtlichkeit erzogene Jugend möchte
alle Hierarchien sprengen und die Prostitutions-
ordnung hinwegfegen. Noch mehr wird das Genie
gefürchtet, der Todfeind aller privilegierten Mittel-
mäßigkeit, der geborene Bedränger der Korruption
und Pfründen. Die Genialität zu brechen, ist daher
der leitende Gedanke des Gymnasiums, seine stän-
dige Wachsamkeit. Alle Anstalten sind darauf ge-
richtet, es rechtzeitig zu erkennen, um es recht-
zeitig zu zermürben.

Der Spießer, der das Genie im Leben nieder-
tritt und es aushungert, warum sollte er es in der
Erziehung freigeben? Wie soll das Bürgertum,
das sich am liberalen Leitartikel berauscht, im-
stande sein, eine Schule zu schaffen, die zur Pro-
duktivität erzieht?

Der gesunde und starke Standpunkt eines Bür-
gertums wäre der, daß es sich zutraute, das Ge-
schlechtsleben und die Genialität in sich aufzusaugen
und diesen Mächten seinen Platz einzuräumen.
Dann wäre es allerdings gerechtfertigt und gerettet.
Wir sehen aber, daß es diese Kräfte verleugnet,
fürchtet und mit allen Mitteln zu Tode peinigt.
Was es dabei eintauscht, ist die Korruption.
Wären die privilegierten Klassen imstande, Bildung
in Kultur umzuwerten, wäre sie imstande, mit
dem Genie Frieden zu machen und dem Ge-
schlechtsleben ohne Lüge und Tartufferie gegen-
über zu treten, dann dürften sie allerdings auch
jene Rekrutierung der Lehrer und Schüler wagen,
die zur Gesundung der Schule erforderlich ist. Die
wahre Reform der Schulen müßte damit beginnen,
daß wir die törichte Furcht vor den erhabensten
Naturgewalten über Bord werfen und gleichzeitig
die Korruption unseres ganzen sozialen Lebens mit
Feuer und Schwert bekriegen.

Stil

Von Karl Kraus

Man kann nicht leugnen.daß dem Schriftsteller
Bildung zustatten kommt. Wie schöne Gleichnisse
lassen sich nicht gestalten, wenn man die Termini
der verschiedenen Wissengebiete bei der Hand
hat! Es kommt also darauf an, sich dieses Material
zu beschaff^n. Wahrlich, man braucht es fast so
notwendig wie Papier und Tinte. Aber haben Pa-
pier und Tinte einen schöpferischen Anteil am
Werk? Bin icii kein Schriftsteiier, wena ich die
Vergleichswelten nichtselbst bereisthabe? Bin ich
nicht imstande, den Gedanken durch Beziehung auf
einen chemischen Vorgang zu erhellen, weil ich
diese Beziehung bloß ahne und mir der Fachaus-
druck fehlt? Ich frage einen Gelehrten oder ich
frage ein Buch. Aber in solchem Falle leistet auch
das Fremdwörterbuch alle Dienste. Eine Kenner-
schaft, die ich mir aus einem Fachwerk holte,
würde die künstlerische Fügung sprengen und dem
Schein der Erudition den Vorrang lasscn. Es wäre
die hochstaplerische Erschleichung eines Makels.
Die Nahrung des Witzes ist eine landläufige Ration
von Kenntnissen. Es darf ihm nicht mehr vorge-

setzt werden, als er verdauen kann, und unmäßiges
Wissen Iäßt die Kunst von Kräften kommen. Sie setzt
Fett an. Nun gibt es Literaten, denen es eben
darum zu tun ist. Ihnen ist die Bildung nicht
Material, sondern Selbstzweck. Sie wollen be-
weisen, daß sie auch Chemiker sind, wenngleich
sie es nicht sind; denn Schriftsteller sind sie
bestimmt nicht. Das Material kann man sich
beschaffen wie man will, ohne der geistigen
Ehrlichkeit etwas zu vergeben; die schöpferische
Arbeit besteht in seiner Verwendung, in der Ver-
knüpfung der Sphären, in der Ahnung des Zusam-
menhanges. Wer schreibt, um Bildung zu zeigen,
muß Gedächtnis haben; dann ist er bloß ein Esei.
Wenn er die Fachwissenschaft oder den Zettel-
kasten benützt, ist er auch ein Schwindler. Ich
kenne einen Publizisten, der sich lieber die fünf
Schreibefinger abhacken ließe, ehe er in einem po-
litischen Leitartikel, der jene dürrste Tatsächlich-
keit der Welt behandelt, die der Welt leider unent-
behrlich ist, das Wort „Balkanwirren“ gebrauchte.
Er muß „Hämuskomödie“ sagen. Und solche Gei-
stesschweinerei findet im heutigen Deutschland
Anklang! Eine typische Figur der Lokalchronik ist
jener „Unhold“, der vor Schulen den heraus-
strömenden Mädchen Dinge zeigt, die sie in diesem
Alter noch nicht sehen sollen. Was bedeutet aber
seine Schädlichkeit gegenüber einem Treiben, mit
dem die Schulweisheit vor dem Leben exhibitio-
niert? Die unerhörte Zumutung, uns bei Bespre-
chung der verworrensten Balkanfragen auch noch
in die klassische Geographie verwickeln zu lassen,
empfinden heute die wenigsten als Plage. Wäre es
selbst kein Defekt, mit dem hier geprotzt wird,
wäre der Anblick der Elephantiasis eines Gedächt-
nisses nicht abscheuerregend, so bliebe der Zustand
noch immer als jene ästhetisierende Sucht be-
klagenswert, die der Fluch unserer Tage ist. Denn
die Erörterung von Balkanwirren ist eine Angele-
genheit des täglichen Hausbrauches und hat mit
der Kunst, also auch mit der Literatur als der Kunst
des Wortes, nicht das geringste zu schaffen. Der
Verschweinung des praktischen Lebens durch das
Ornament, wie sie Adoif Loos nachweist,
entspricht jene Durchsetzung des Journalismus
mit Geistelementen, die zu einer katastrophalen Ver-
wirrung geführt hat. Die Phrase ist das Ornament
des Geistes. Anstatt nun die Presse geistig trocken
zu legen und die Säfte wieder der Literatur zuzu-
führen, aus der sie „gepresst“, der sie erpresA
wurden, steuert die demokratische Welt auf eine
Renovierung des geistigen Zierrats hin. Die Phrase
wird nicht abgeschafft, sondern in den Wiener
Werkstätten des Geistes modernisiert. Feuilleton,
Stimmungsbericht, Schmucknotiz — dem Pöbel
bringt die Devise „Schmücke dein Heim“ auch
die poetischen Schnörkel ins Haus. Ein halbes
Jahrhundert lebten sie von Heine, aber dieser
Zauberer, der der Unbegabung zum Talent verhalf,
steht nicht zu hoch über der Entwicklung, die er
verschuldet hat. Jetzt münzen sie Peter Altenberg
in Zeilenhonorar um (ohne daß er etwas davon
hat).

Ein Ornamentiker auf eigene Faust lebt nun in
Berlin; wenn er seinen Namen nennen soll, sagt er
schlicht: „Der im Grunewald“. Geboren ist er nicht
im Mai, sondern unterm Weidemond. Sein Kampt
gilt nicht demKaiser,sondern einem „Zoliernsproß“
Der nicht in Korfu manchmal weilt, sondern in Kory-
pho. Als Politiker ist unser Mann kein Chamäleon,
sondern er gleicht dem „Tier mit den zwei Pigment-
schichten unter der Chagrinhaut.“ Er enthüllt nicht
das homosexuelle Vorleben seiner Gegner, sondern
„er spreitet die Spinatgartenschande aus“; aber seine
Gegner haben es sich selbst zuzuschreiben, denn
sie haben zwar nicht den Verdacht päderastischen
Umgangs erregt, aber „der Ruch der Männer-
minne haftet an ihnen“. Sein Rechtsanwalt, der
schlicht Bernstein heißt, kehrt nach dem Prozeß
nicht nach München zurück, sondern „der Antaios
ringt wieder auf heimischem Boden.“ Sonst ist aus
dem Leben unseres Künstlers noch zu erzählen,
daß er Karlsruhe nicht kennt, wohl aber die
„Fächerstraßenstadt“; das Schauspiel „Frühlings-
erwachen“ noch nicht gelesen hat, aber den „Lenz-
mismus“, dessen Inhalt „das Männern der Knaben,
das Böckeln der Mädchen“ ist; Sherlock Holmes
nicht auf der Bühne gesehen hat, aber den „Ram-
pendoyle“ kennt; Hurenwohnungen meidet, aber
ein „Tarifeden“ empfiehlt; von der Existenz
Shakespeares nichts weiß, aber den „braven Bill“
zitiert; die Sitte des Interviews mißbilligt, aber „der
Interview“ das Wort spricht. Wir hören seinen Aus-
ruf „Freut euch und strählt die Miauzer!“ Welche
 
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