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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 12 (Mai 1910)
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Das Temperament in der Isolierzelle
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Der Nachrichtenvogel: oder fröhlicher Abschied von Björnson
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Jelusich, Mirko: Die Wiener Vorlesung: Karl Kraus
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Friedlaender, Salomo: Der Verzweifelte und sein Ende
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Beachtenswerte Bücher und Tonwerke
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0098

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Krankhcitsbild anfängt. Immer werden solche
labilen Kranken Qläubige finden, die sie für gesund
halten, wie ja auch schwere Paranoiker und Queru-
lanten ihre Qläubigen finden; und die Psychiatrie
muß sich gerade von denjenigen Patienten die
schwersten öffentlichen Vorwürfe gefallen lassen,
die sie am meisten schützt, indem sie die Hand auf
sie legt. A. D.

Der Nachrichtenvogel

oder fröhlicher Abschied von Björnson

An der Stelle eines Wochenblattes, an
welcher sich sonst die wehmütige Monotonie
eines Froschkonzertes breit macht, hat kürzlich
Erich Schlaikjer versucht, der demokratischen
Leserwelt den Abschied von Björnson leicht zu ge-
stalten. Qeglückt ist es ihm, daß man Mark Twain
darüber vergessen könnte. Der Nekrolog beginnt
also:

„In Paris hat sich ein schwarzer Riesenvogel
erhoben und fliegt mit lautlosen Schwingen nach
dem kalten Norden hinauf. Er überfliegt den Rhein,
er fliegt über Deutschland dahin, er überfliegt das
fruchtbare Dänemark. Die Bucht von Christiania
wird sichtbar. Aus ihren stolzen Wellen steigen
die alten, grauen Felsen empor. Ihre Fluten sind
kalt. Die klare Winterluft aber läßt ihre ganze
Qröße durchsichtig werden.

Und nun ist es. als wachse dort oben der Vogel
ins Ungeheure hinaus. Er reckt seine Schwingen,
daß sie von dem einen Horizont zum andern rei-
chen. Er fliegt noch immer in lautlosem Flug, aber
während er still wie das Unheil dahinsaust, läßt er
wilde, heisere Schreie über die Berge gellen. Und
wo er vorüber kommt, geht unten ein Ruck durch
die Menschen. Seme Schwingen iiberdunkeln das
Land. Man hört den Schrei des Todes und hält in
jähem Schrecken inne.

Und immer weiter fliegt er, als solle auch die
ewige Einsamkeit der Polarregionen durch seine
gellen Schreie unterbrochen werden. Sein Schatten
fliegt über das ganze Land und seine Schreie er-
fiillen die ganze Luft. Sie erklangen zum ersten
Male, als er weit draußen die Bucht von Christiania
unter sich spürte; sie erklangen iiber dem Dächer-
meer der Iiauptstadt; sie erklangen über den einsa-
tnen Hütten in verlassenen Tälern; sie flogen ruhelos
iiber clie Riesenfelder der Qletscher. Sie klangen
immer weiter und weiter; sie verloren sich erst, als
sie ganz oben im Norden in Eis und Ein.samkeit und
starrer Oede verschwanden. Als sie aber ver-
schwunden waren, wußte das ganze Land, daß
Björnstjerne Björnson in irgend einem Haus des
unendlichen Paris gestorben war.“

Der unheimliche Vogel verwandelt sich schließ-
lich in fliegende Schreie.

Wie viel Aufwand und Verzweiflung, um ein
klaffendes Manko an Qeist so schlecht und kläglich
wie möglich mit Phantasie zu iibertiinchen.

Sie trifft den Leser wie der Tod Biörnsons Nor-
wegens Volk, vom König bis zum Arbeiter herab.

Wir dachten. naiv genug. dieses habe die Nach-
richt von dem Tode seines großen Sohnes ans den
Tageszeitungen erfahren. Schlaikjer weiß das
besser.

Er hätte nur nicht seinen lustigen Nachschrei
iiberwitzeln sollen mit den Schlußworten: ..Laßt
nns fröhlich von ihm scheiden.“ • J. A.

Die Wiener Vorlesung
Karl Kraus

Am 3. Mai hielt Karl Kraus zum ersten Mal in
Wien eine Vorlesung aus eigenen Schriften.

Die ganz exzeptionelle Bedeutung des Heraus-
gebers der „Fackel“ an dieser Stelle darzulegen,
hieße Eulen nach Athen tragen. Wer den „Sturm“
liest, kennt auch Karl Kraus, kennt seine unüber-
treffliche Sprachkunst, sein unheimliches Tempera-
ment und seine noch unheimlichere Treffsicherheit;
weiß, daß Kraus der erste Satiriker Oesterreichs ist,
umjubelt von fanatischen Anhängern und gefürchtet
von seinen Qegnern, denen keine andere Waffe
gegen seine wuchtige Angriffe, seinen schneidenden
Hohn, seine zermalmende Verachtung zu Qebote
steht, als ein starres, ununterbrochenes, impotentes
Schweigen . . .

Daß dieses Schweigen nutzlos ist, bewies die
Vorlesung. Der Saal war überftillt, als Karl Kraus
mit einigen raschen Schritten das Podium betrat
und nach einr knappen Verbeugung zu lesen begann.

Der Ausdruck der scharfen Züge ist kühl,
spöttisch, iiberlegen. Und bevor Kraus zu sprechen
beginnt, weiß man schon, daß seine Stimme klar
und scharf ist.

Kraus Ias zuerst ein bisher unveröffentlichtes
Essay „Heine und die Folgen“, in dem er den ver-
derblichen Einfluß Heines auf Lyrik und Journalistik
nachwies. Heine habe es seinen Nachfolgern allzu
leicht gemacht, den Esprit in ihren Feuilletons
leuchten zu lassen — auf Kosten des Qeistes.

Dann las Kraus „Die chinesische Mauer“, seine
schnell berühmt gewordene Arbeit, in der er das
Problem der beiden Rassen von allen Seiten be-
leuchtet. Man kennt den wuchtigen Anfang, der
dröhnend und unvermittelt niederfährt, wie ein ein-
schlagender Blitz: „Ein Mord ist geschehen, und
die Menschheit möchte um Hilfe rufen. Sie kann es
nicht.“ Kraus arbeitet hier mit den einfachsten
Mitteln und beweist dadurch seine große Künstler-
schaft. Außerordentlich fesselnd war es, den Vor-
lesenden zu beobachten. Wie sein Qesicht starr
und drohend wurde; wie seine Schultern sich raub-
tierartig hoben; wie seine Rechte in kurzen Rucken
iiber den Tisch zuckte, sich ballte, sich um eine un-
sichtbare Qurgel zu krallen schien, den Niagara von
Worten gestaltete, der auf die atemlos horchenden
Menschen niederbrauste, bis zu ienem titanenhaften
Schluß, in dem die angestaute Hochflut sich befreit
und majestätisch ausbreitet: „Die Knie mit Stricken
unter das Kinn geschnürt, das Qesicht mit unge-
löschtem Kalk beworfen, so verschwand die Leiche
im Koffer des Chinesen.“ —

Da der Beifall nicht enden wollte, entschloß
sich Kraus zu einer Zugabe: Er las „Die Welt der
Plakate“, diese witzige Betrachtung voll souve-
ränen Humors.

Alles in allem: ein außerordentlicher Abend,
getrübt nur durch den beschämenden Qedanken,
daß man es so lange versäumte, die Schönheit
Krausscher Sprachkunst verbunden mit der Schön-
heit Krausscher Sprechkunst auf sich wirken zu
Iassen. Denn nicht Kraus ist schuld, daß dies seine
erste Vorlesung in Wien war, sondern Wien.

MirkoJelusic

Der Verzweifelte

und sein Ende j

Von Mynona |

Isomar, einer der erhabensten alten Leute, zoi j
seine Kuckucksuhr auf, und eine große Gleichgültig' I
keit rann durch sein Herz, während über seitt £ I
Stirn langsam ein Rätsel lief. „Dachte eben,“ |
murmelte er, „wir sind die für uns selbst Verhüll]
ten. In meiner Jugend war mein Appetit frischei
Das Leben macht schläfrig.“ Er setzte sich in sei
nen Lehnstuhl. Kuckuck, lachte die Uhr. DeH
Qreis war es wirklich nicht zum kuckucken um
Herz. „Ach,“ seufzte er, „über die Medisance so
gar des Leblosen! Sie ticktackt auch nicht gerad
wohlwollend.“ Eine Fliege flog auf und summte
Da verzweifelte Isomar wie nur Uralte ver
zweifeln: ohne Wort, ohne Jammer — mechanisch
phlegmatisch, mürrisch, unsichtbar. Da nahm e
ein Scherchen und trennte mit zärtlichem Eigen
sinn die Lederpolster seines Sessels auf. In di £
Kuckucksuhr goß er in dünnem Strahl Wasser
fürte sie an den Mund und zernagte sie mit dei
Zähnen. Das dauerte sehr lange. Dann versucht«
der Qreis knurrig, sich auf den Kopf zu stellen, abe
seine Kraft langte nicht hin. Der Qreis holte einei
Tuschkasten und färbte sein Antlitz mit allen Far
ben; zugleich sank die Dunkelheit hernieder. Def
Qreis warf alle Decken aus der Bettstelle an dK
Erde und goß Tinte darauf. Der Qreis nahm auct
seine Bettstelle auseinander. Jetzt zog er sein
Kleider aus und warf sie aus dem Fenster. durc'
das ein feiner Regen sprühte. Der nackte Qreii
begann mit gleichmiitiger Miene langsam eine Ar
Menuett zu tanzen, bis er hinfiel. Der eine Flüge
des Fensters schlug im Winde zurück. Der Grek
betrachtete aufmerksam seinen in Dämmerung
emgetauchten Körper. Er schlug sich mit seinef
Rechten etwa wie ein Vater sein Kind: mit Schf'
nung, aber gehörig. Nicht lange saß er, da beganü
er sich zu wälzen, hin und her, her und hin, bk
seine Sinne sich verwirrten. Schließlich hustete erj
nicht weil er mußte. sondern mit Willen, immeif
hartnäckiger. bis sein Husten von selbst in eiij
Krächzen und Röcheln überging. Dazwischen stief
er Worte hervor wie: ..Du Duckmäuser. heh? Icl'
hab’ dich lange weg. Na! Wird’s bald? Tmmd
tust du. als ob du nicht da wärst, Heuchler. Schlei'
cher, ich will dich schon kitzeln. Tod, ein nettef
Name. viel zu pathetisch, feige Bestie. alte Fratze
Meuchler! Ich will dich schon reizen.“ Und in dei
Tat. Tsomar’n gelang es sehr leicht. zu sterben, wei
der Tod nicht so sehr vermeidet als die Lacherlich'
keit. Aber die Kuckucksuhr schlug doch nocl 1
einmal.



■ - - - ~ • - - - - - . -.

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Rflcksendun? findet in keinem Fali statt

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Albert Langen, München

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und Loeffler, Berlin

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