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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 48 (Januar 1911)
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Friedlaender, Salomo: Der gebildete Wüstling
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Kalischer, Siegmund: Claire Waldoff
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Walden, Herwarth: Varieté, [2]
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Adler, Joseph: Lokales
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Beachtenswerte Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0390

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knospe wie eine Nuss zu zerknacken — krach! und
da haben wir die Bescheerung. Es muss mit dem
Bankrott der Kultur enden; denn dass aller Leib,
auch aller Mädchenleib Seele werde, das will Kultur.
Und da darf man doch nicht schamlos wie Benno —

-lassen Sie mich abbrechen und Worte wie Thränen

verschlucken.

Claire Waldoff

. . . Der alte Herr aber, wenn ihm die Reden der
dummen Leute zu Ohren kamen, lächelte verschmitzt:
er wusste schon, was er an dem niedlichen Porzellan-
figürchen hatte. Jede Nacht, wenn alle anderen
Menschen längst schliefen, kam Püppchen von ihrem
Sockel, der am Kopfende des Bettes auf der Kommode
stand, herunter, setzte sich auf den Bettrand zu Häupten
des alten Herrn, streckte das freche Stumpfnäschen in
die Höhe, liess die Beine ins Bett baumeln und sang
mit ihrem dünnen Porzellanstimmchen die wunderlichsten
Lieder. So von Knoll, dem Grenadier, der mit seinem
Herrn bei der Offizierswitwe in Einquartierung lag, die
eines Nachts liebegliihend in sein Zimmer kam:

Willst Du mich li—ieben oder ha—hassen?

Und er stand stramm und sagt: jawoll!

* *

*

Das grösste Geheimnis ihrer Wirkung ist: sie sieht
garnicht so aus. Ihr hat ein giitiger Gott die Gabe
des Kontrastes in den Leib gelegt. Bei ihrer Freundin
Yvette sehen wir es voraus.

La couer de ta mere . . .

nur wird sie den Kopf nicht, wie eine deutsche Schau-
spielerin, voil Verachtung zuriickwerfen, und dennoch
wird aller verlangender Leichtsinn der Liebe in ihren
Worten zittern:

pour mon chien!

Ihren Bruder Otto Reutter, aus dessen Gesicht
sofort der Komiker mit den unbeweglichen Zügen
herausspringt, übertrifft Claire Waldoff noch dadurch
an Wirkung, dass sie ein kleines Mädchen ist: sie
sieht „jarnich“ so aus. Ein kleines Mädchen, das
plötzlich lachend dasteht und freundlich nickt. Oben
ein grosser Hut, unten ein Jungfräulein, das in den
Frühling tanzt, aber dazwischen der Kopf, und in dem
Kopf der schmale, schiefe Mund, von dem jene Stimme
sich löst — denn sie löst sich und wird ihr eigener
Herr — in der der Leichtsinn und freche Ueberinut
der ganzen Welt Triumphe feiert, zu denen der begabte
Schauspieler Arme und Beine und ein grösseres
Quantum Alkohol brauchen würde.

Und er stand stramm und sagt: jawoll!

Die Stimme, nur unterstützt von einem Zucken
der feinlinigen Brauen, ist plötzlich der Grenadier
Knoll geworden. Ebenso plötzlich der Schusterjunge,
dessen heissem Sehnen die Dame ohne Unterleib nicht
Genüge tun kann:

Das schönste sind die Beenekens, die Beenekens,
die Beenekens . . .

Inzwischen ist der Körper des kleinen Mädchens
tot. Das Gehirn, die Kunst lebt ein unerhörtes Leben
frecher Freude, wird Stimme, verfolgt uns, setzt sich
nachts mit baumelnden Beinen auf den Bettrand zu
Häupten des Bettes und springt uns in den erstaunt
aufgehobenen Kopf:

Das schönste sind die Beenekens, die Beenekens,
die Beenekens
ohne Ende.

Siegmund Kalischer

Variete

In reinerer Luft unter dem Sternenhimmel des
Wintergartens. Das Variete befreit von der
schwülen Schwere der Geistlosigkeit des Theaters.
Man ist jenseits von Kitsch und Böse. Es darf nicht
den mit üblichen Massstäben der Kunst gemessen

werden. Das Variete ist trotzdem Kunst, Ausdruck
der Persönlichkeit. Aber die Persönlichkeit äusSert sich
hier nicht gefühlsmässig, sondern körperlich. Mit
der Ansicht ist der rlchtige Blickpunkt gefunden. Sie
erklärt die künstlerische Wirkung dessen, was wir in
der Kunst sonst Kitsch nennen. Gold, Silber und
Flitter scheint im Theater banal und verlogen, weil es
die Arbeit der Phantasie verhindert. Im Variete wird
durch diese Betonung der Linien und Formen die sinn-
liche Aufnahmefägkeit gesteigert, ja überhaupt erst ge-
geben. Denn hier woilen wir nur mit den Augen sehen.
Nichts hinzutun und nichts hinwegnehmen. Natürlich
entzückt sich die unkünstlerische Mehrheit der „gebil-
deten“ Zeitgenossen am stärksten bei Darbietungen, die
überhaupt nicht ins Variete gehören: der seriöse
Sänger, das patriotische Bild, der — Humorist beru-
higen ihr Kunstgewissen. Der Bürger vermag nur
millionenfach gedachte Gedanken nachzudenken, ver-
schleimt in „Humor“ oder Sentimentalität. (Der Er-
folg der Operette und des Feuilletons!) Er besitzt
keine Phantasie uud keine Anschauung. Selbst seine
Sinnlichkeit geht durch den Verstand. Erst die ganz
nackte Tänzerin erregt ihn. Oder er muss ihr ge-
danklich wenigstens das Trikot abstreifen. Er kennt
nicht die Naivität des Schauens. Er ist für das
Variete verdorben, wie für die Kunst.

Im Wintergarten sah ich die herrliche spanische
Tänzerin Leonora und den komischen Reckakt „The
3 Ernest.“

Im Passagetheater sah ich die vorzüglichen Ex-
zentriks „Mazuz and Mazette“ und die Schwestern
Christians. Erheblich störte mich ein beliebter „Meister-
chansonier“, der sich sehr komisch und sehr wichtig
vorkam. Das Publikum brüllte seinenä Refrain mit.
Berliner „Temperament “

Trust

Lokales

Ballbericht

In die Vornacht zur Trauerfeier für Raphael Löwen-
feld fiel der „Schlagerrevue“-Bali des Schriftsteller-Klubs.
Das traf sich wahrscheinlich für manche Grösse der
Kunst und Literatur sehr gut. Sie fuhr, nachdem sie
sich totgelacht und lahm getanzt hatte, gen Charlotten-
burg, um sich von dem professionellen „Gedenk-
redner“ Fulda hinreissen zu lassen.

Die Grössen unsrer Kunst und Literatur bedrücken
keine Sorgen, sie sind vergnügt und zufrieden, sie sind
ihrer Theaterdirektoren, ihrer Verleger und eines hero-
isch geduldigen Publikums gewiss, ihre Wegbereiter,
verzückte Schmöcke, sind ihnen hündisch ergeben. Und
eine dieser Seelen, selbst eine Grösse in der lyrischen
Dichtkunst, schrieb für den Lokal-Anzeiger einen reizen-
den Bericht über das Ballfest.

Für den Mittelpunkt, die Schlagerrevue, fand er
noch den Superlativ: faszinierend, aber schon „Johann
Strauss schwingt das Szepter, und einschmeichelnde
Walzerklänge locken, Terpsichore begeistert zu huldigen“.
In einem Nebenraume war die Tombola etabliert. Der
lyrische Schmock: „Liebenswürdige Frauen ermahnen
uns, der Glücksgöttin die Hand zu reichen, und es
lohnt sich, denn prachtvolle Gewinne locken demjenigen
als Lohn, der den geringen Einsatz wagt “ Aber der
der Sänger vergisst nicht über sein Talent die Pflicht,
und er notiert: „Exzellenz Dincklage-Lampe gehört zu
denen, die dem Rollen des Glücksrades interessiert
zuschauen“. Und bei Tisch: „Da sass mir zur Rechten
eine schwarzharige Rheinländerin in gelbem Seidenbrokat,
die Person gewordene Antwort auf die Frage: Haben
die Frauen Humor?“ Ehe noch der Lokal-Anzeiger
diese Frage auswarf, hätte der Schmock die Wahr-
nehmung machen können, dass jede Marktfrau mehr
Humor und Witz besitzt als ein „Kollege“ oder etwa
Rudolf Herzog, der erfolgreiche Verfasser der Hanse-
aten, der nebst seiner liebenswürdigen Gattin Frau
Minnie, zu den Grössen des Festes zählte. Aber
er nicht allein, Victor Blüthgen auch, und von andern
hervorragenden Persönlichkeiten sah der Schmock vor
allem den Polizeipräsidenten von Jagow.

Doch zum Schluss wird er wieder lyrisch.

„Johann Straussens Walzertöne locken neuerdings,
und abwechslungsreich, wie die Erzählungen Schehere-
sades, lösen künsterische Unterhaltung und Tanz sich

ab, und der Schönheit huldigend und von der
Freude getragen, gleiten die Stunden der Nacht
dahin.“

Die schwarzharige Rheinländerin muss, als sie am
andern Morgen den lyrischen Gedankenniederschlag
ihres geistreichen Tischnachbars las, gar herzlich ge-
Iacht haben; vorausgesetzt, dass sie noch mehr ist
als die Person gewordene Frage: Haben die Frauen
Humor?

Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft

„Von den bekannten Persönlichkeiten aus den
Kreisen der Kunst und Literatur sah man Sigmund
Lautenburg, Dr. Artur Dinter und Kadelburg, dessen
Husarenfieber erst vor einigen Tagen in den Spielplan
der Schillertheater aufgenommen worden.“

Das „Husarenfieber“ war für die Schillerbühnen
angenommen worden, Raphael Löwenfeld konnte sterben.
Aber an seinem Verdienst, die Kunst dem Volke ge-
schenkt zu haben, soilen die letzten Ehren, die ihm
die Ersten unserer Literatur erwiesen haben, wenig
schmälern können.

„Alle Widerstände und Anfeindungen wusste
der rastlos Tätige zu überwinden; seine Glaube
an das Volk, an den unstillbaren Hunger des
Volkes nach Kunst hatte Recht behalten.
Kaviar fürs Volk nennt Hamlet zu hohe
geistige Kost. Vom Publikum des Schiller-
theaters haben wir erfahren, dass für das
deutsche Volk keine Kost zu teuer und zu
fein sein kann, wenn man sie ihm nur an-
bietet. Denn zu den unveräusserlichen
Menschenrechten zählte für Löwenfeld auch
das Recht auf Kunst.“

Im Namen der „gedunsenen“ Claudius-
Literatur, des falschen „geflickten“ Lumpenkönigs,
der um die Liehe der Königin Kunst buhlt, führte
Fulda einen Stoss hinreissender Polemik gegen Hamlet,
der niemals in einem „Dummkopf“ zu hohe geistige
Kost für das Volk erblickt hätte. Des Volkes un-
stillbarer Hunger nach Kunst wird mit einem
„Husarenfieber“ befriedigt und zum geilen Appetit mit
einer aufgewärmten Kost, die sich schon in Theatern
für Snob und Halbwelt bezahlt gemacht hat, prosti-
tuiert.

„Hinreissend und ergreifend waren die Worte
Fuldas.“ Hinreissend? Wozu? Aber ergreifend
müssen sie gewesen sein, galten sie doch einem Manne,
dessen Ringen nach etwas Grossem, an der Macht
der hohlen Grössen unserer zeitgenössischen Literatur
zerbrach.

J. A.

Beachtenswerte Bücher

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Rücksendung findet in keinem Falle statt

MAX DAUTHENDEY

Die geflügelte Erde / Ein Lied der Liebe
und der Wunder von sieben Meeren

Verlag Albert Langen / München

RAINER MARIA RILKE

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge / Zwei Bände / Zweite Auflage

Inselverlag Leipzig

MARQES

Revue / Erscheint sechsmal im Jahre, am
fünfzehnten jedes zweiten Monats / Jahres-
bezug fünf Francs / Auf Japanpapier zehn
Francs

Paris / 5 rue Chaptal

MERCURE DE FRANCE

Halbmonatsschrift / Einzelheft ein Franc
fünfzig Centimes

Paris / Mercure de France / 26 rue de Conde

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich-Ungarn
I. V.: Oskar Kokoschka

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