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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 51 (Februar 1911)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [11]
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König, Moritz: Der Liebhaber
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0412

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Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

XXXIII

Die Besserungsanstalt

Am nächsten Tage liess sich der Herr Bartmann
überreden, den Direktor der Besserungsanstait aufzu-
suchen. Doch wie erschrak er da, als er einsah, dass
da seine Nerven gebessert werden sollten

Ih, da wurde der Herr Bartmann mächtig fuchtig
und schimpfte auf die Künstler, was Zeug und Leder hielt.

„Hier sollen,“ rief er aus, „die faulen Utopianer
noch fauler werden! Wer ein bischen lebhafter ist,
der wird in eine Nervenbesserungsanstalt geschickt, da-
mit er die verdammte Lebhaftigkeit wieder verliert.“

Der Prior eines Klosters war gerade zugegen, als
der Herr Bartmann iiber die Natur der Besserungsan-
stalt ins Klare kam; der sehr liebenswürdige und sehr
gebildete Prior bat den Herrn Bartmann, doch mit ihm
in sein Kloster zu kommen, da könnten sie ja über
das Leben und über das Sterben das Längere und
Weitere reden.

Und der Herr Bartmann steckte sich eine Zigarre
an, pfiff sechsmal ganz lange in einem hohen Tone
und folgte der Einladung.

XXXIV

Das Kloster

Zwei Tage weilte der Herr Bartmann in dem alten
Kloster, das mitten in einem grossen, grossen Garten
lag. Der Prior des Kiosters, der den Herrn Bartmann
hierhergeführt hatte, sass am Abend des zweiten Tages in
seinem Bibliothekszimmer und schaute hinaus in die
blühende Sommerpracht — Berge, Hügel, Felsen und
Täler waren architekonisch reichgegliedert und boten
mit ihren ßlumenmassen ein sehr buntes und doch
sehr stilles Bild; von den Maschinen, die bei der
Gartenkultur verwendet wurden und die Handarbeit des
Menschen fast gänzlich überflüssig machten, sah man
nichts — aber die Bewohner des Klosters, nur Männer,
gingen in den Laubgängen und über die Parkterassen
vereinzelt oder zu zweien.

Das Kloster übte keinerlei Zwang auf seine Be-
wohner aus; wer nicht mehr bleiben woilte, verliess
das Kloster, und die da blieben konnten tun und iassen,
was sie mochten; nur bestimmte Vorschriften, die ledig-
lich einer gegenseitigen gesellschaftlichen Rücksichtnahme
entsprachen, mussten innegehalten werden, aufgenommen
wurden in dem Kloster allerdings nur diejenigen, die
von den Verwaltungsdirektoren auserwählt waren.

Und der Herr Bartmann kam zu dem Prior in
sein Bibliothekszimmer, und dieser erklärte nun seinem
Gaste dieses:

„Es ist nicht richtig, wenn Sie, Herr Bartmann,
überall in der Natur nur das ungeheure lebhafte Lcben
sehen wollen die Natur zeigt uns auch ebensoviel
Sterben, das lebhaft nicht genannt werden kann.“

Und die beiden Herren blickten beide hinaus in
die friedliche Blumenlandschaft, die nicht lebhaft schien
und auch nicht das Gegenteil vorstellte.

Der Herr Bartmann steckte sich wieder eine Zigarre
an und dachte nach und sagte leise:

„Ich meine auch das Leben nicht so einfach, wie
wirs auf der Erde mit unseren Augen zta sehen ge-
wohnt sind. Wenn ich vom Leben der Natur sprach,
so wollte ich da das Wort Leben so aufgefasst wissen, dass
es auch das Sterben in sich einschliesst.

„Schon gut,“ erwiderte der Prior, „indessen möchte
ich doch bemerken, dass sie gerade überall eine sehr
hochgespannte Lebhaftigkeit zu sehen wünschen, und
dieser möchte ich eine weiche müde Schläfrigkeit
gegenüberstellen. Diese Schläfrigkeit, Schlaffheit — diese
grosse Stille ist doch auch nur in der Natur und ist
doch auch sehr wohltuend. Und ich glaube, Sie können
sagen, dass Sie die Aktivität suchen und ich die Passi-
vität. Aber u'enn ich auch als Geistlicher denke, so
nehme ich die eine Seite der Natur ebensogerne hin
wie die andere. Das ist eben der priesterliche Stand-
punkt, der nicht zwischen den Dingen sondern über
ihnen ist — so wie die Priester eigentlich über dem
Kaiser und über dem Staatsrat stehen.“

Herr Bartmann war versucht, zu bemerken, dass
er als Kaiser auch über den Priestern stehe, doch der
Prior schien seine Gedanken zu erraten und sagte
einfach:

„Wenn der Kaiser mit den Priestern Hand in Hand
geht, dann steht er auch über den Priestern. Ob man
dieses auch über den Kaiser Philander sagen kann, der
sich jetzt in Schilda -- gerade in Schilda — augen-
scheinlich nur mit mat .ematischen Arbeiten befasst —
das erscheint mir doch sehr zweifelhaft.“

„Vom Sterben in der Natur,“ sagte der Herr Bart-
mann, „habe ich als Mensch eigentlich keine Vorstellung,
denn ich bin doch noch nicht gestorben — wenigstens
weiss ich momentan noch nichts davon. Und deshalb
halte ich für notwendig, zunächst das Leben im Auge
zu behalteu

Der Prior lächelte und kam wieder auf die Passi-
vität zu sprechen und meinte, der Herr Bartmann sollte
mal sehen, auch der Passivität feinere Seiten abzu-
gewinnen.

Herr Bartmann versprachs, aber die Geschichte lag
ihm noch nicht, und er sehnte sich jetzt gerade sehr
nach einer sehr lebhaften Lebensfrische, und deshalb
fuhr er in seinem Sebastianischen Luftwagen am
nächsten Morgen zum nächsten Verkehrszentrum.

XXXV

Das grosse Hotel

Zum Abschied hatte der Prior noch seinem Gaste
feierlicht gesagt:

„Vergessen Sie aber nicht, dass die übergrosse
Lebensfülle für uns nur die eine Seite der Natur dar-
stellt. Ebenso energisch die Natur int Entsteheniassen
ist, ebenso energisch erscheint sie uns auch im Ver-
gessenlassen.“

„Hoho!“ versetzte da Herr Bartmann, „die Natur
ist also immer überall sehr energisch! Selbst die
Selbstmordstimmungen sind wie alle Nordstimmungen
immer sehr energisch.“

„Fragt sich noch I“ rief der Prior, aber da fuhr
der Herr Bartmann schon fort und war zur Mittags-
zeit im grössten Hotel von ganz Utopia in einem
Verkehrzentrum, das an Lebhaftigkeit nichts zu wünschen
übrig liess

Hier machte der Herr Bartmann eine Reihe neuer
Bekanntschaften und musste erfahren, das seine Reden
im Luftrestaurant auf dem grossen Künstlerfest sehr
ungenau kolportiert waren; die Künstler hatten dem
Herrn Bartmann Dinge in den Mund gelegt, die er
niemals geäussert hatte — bald sollte er ein Geister-
seher sein — und baid eine Mönchsnatur. Aber
gerade diese Reden, die alles entstellten und nach ver-
schiedenen Seiten aufbauschten, machten den Herrn
Bartmann zu einer berühmten Persönlichkeit, die von
Neugierigen sehr bald iiberlaufen wurde.

Eines Morgens machte sich aber im Hotel eine
grosse Unruhe bemerkbar; die Zeitungen brachten
merkwürdige Nachrichten von der Sturmküste, dort
sollte das Meer immerfort die Farbe wechseln und
sehr unruhig sein, ohne dass ein Sturm ausbrach.

Der Herr Bartmann wollte mit seinem Luftwagen
hinfahren, doch der Führer des Wagens weigerte sich,
da die Sturmküste von allen Luftfahrzeugen der Stürme
wegen gemieden wurde.

Und so fuhr der Herr Bartmann mit einern der
schnellen elektrischen Züge auf einer Seilbahn zur
Sturmküste, und viele Gäste des Hotels fuhren eben-
falls dorthin.

XXXVI

Das unruhige Meer

An der Sturmküste, die aus gewaltigen, ganz steil
zum Meer abfallenden Felsen bestand, war die Luft
ganz still und sehr warm.

Das Meer zeigte, obgleich der ganze Himmel
dunkelblau und ohne Wolken war, überall bunte Stellen,
als wären grosse Teermassen hineingeworfen. Und
dazu schäumten die Wellen ganz unregelmässig, und
einzelne Wellenberge erhoben sich plötzlich zu un-
gewöhnlicher Höhe. Und dazu gurgelte es überall,
und ein seltsames Brausen ertönte, das offenbar nicht
von den Wogenkämmen ausging

Am Ufer waren Alle darüber einig, dass ein unter-
seeisches Ereignis vor sich gehe. Die Logierhäuser
auf der Höhe der Strandfelsen wurden verlassen, da

man mit vulkanischen Erschütterungen rechnen musste.
In jeder Minute kamen immer mehr Utopianer zur
Sturmküste, und die Seilbahnen zeigten bald lange
Reihen von elektrischen Wagen, die stehen blieben und
von den Reisenden nicht verlassen wurden.

Als es Nacht gewordeH war, machte das Meer einen
unheimlichen Eindruck; bis auf Meilen hlnaus flackerten
immerzu bunte Stellen auf, und das Getöse ward
immer stärker, als stürme ein furchtbarer Orkan über
die Wasser. Und dabei blieb doch die Luft ganz
ganz still, und das wirkte so furchtbar unheimlich, dass
viele Utopianer vorzogen, so schnell wie möglich
wieder abzufahren.

Herr Bartmann wurde um Mitternacht von dem
Herrn Citronenthal angesprochen, der in Begleitung des
alten Herrn mit der Schnupftabaksdose auch zur
Sturmküste geeilt war. Die drei Herren unterhielten
sich sehr Iebhaft über das bevorstehende Naturereignis,
und der Herr Citronenthal sagte:

„Herr Bartmann, man spricht ja jetzt überall von
Ihnen. Man bringt das uwruhige Meer mit Ihren
Aeusserungen über intime Kunst zusammen. Sie
wollten immer, das die Utopianer das sähen, was hinter
oder unter unserer Erscheinungswelt liegt. Jetzt sind
wir gezwungen, an das zu denken, was überall dahinter
wirkt und darunter iebt.“

„Nicht doch!“ versetzte Herr Bartmann, „so habe
ichs nicht gemeint.“

Doch er kam nicht weiter, es zeigten sich plötzlich
hellgrüne Streifen auf dem Meere, die strahlenförmig
von einem Punkte wie Radspeichen ausgingen. Und
dabei wurde das Meer zwischen den grünen Streifen
dunkelviolett und die dunkelvioletten Teiie des Meeres
bekamen zinnoberrote Flecke, die jedoch sehr rasch
immer wieder verschwanden und an anderen Punkten
auftauchten.

Ganz entsetzlich kams abcr jetzt allen Utopianern
vor, ais das Meer immer ruhiger wurde, sodass
schliesslich das ganze Meerbrausen verstummte und
dafür nur ein unheimliches unterseeisches Gurgeln
hörbar blieb.

Fortsetzung folgt

Der Liebhaber

Von Moritz König

Gedeckt von dichten Büschen Rosenlorbeers lauerte
eine kleine Masse, unbewegt, wie ein gespanntes Wiid-
kätzchen. Melis wars, der Fünfzehnjährige, vom Plebejer
Kodrus im Handwerkerviertel. Die Augen treu auf
das noch matte Weiss des Vestalinnen-Palastes gerichtet,
das Täfelchen mit der Botschaft in der Hand Ein
Häuflein Sestertien galt die Todesgefahr.

Schon setzte der Vogelchor ein, aber er klang dem
Knaben nicht ungebändigt und wirr wie draussen. Nicht
nur die Mauer hielt den Ton fest. Ein Höheres, Un-
greifbares dämpfte die Stimmen. Melis war frei von
Beklommenl.eit. Sein Proletariersinn wich nur der
Gewalt, kannte nur Gefahr und Lockung der Sinne.
Das Jupiterbild woj er nach Metall. Jetzt dachte er
nur an das gewaltsame Ergreifen oder Einbringen des
Botenlohnes in die arme Elternkammer. Er sah die
grosse Schwester mit dem Husten, den ihr die Klage-
frauen angezaubert hatten.

Ein dumpfer, brüllender Tuba-Ton zerriss sein
unruhiges Sinnen, scheuchte das Häutchen Schlafs von
den wieder gespannten Augen. Wilde Frauenschreie
des Morgenopfers schollen durch den Garten, be-
schwörend und hallend. Das schreckliche Ausieben
von Frauen durch die Stimme, in der alles gepresste
Herzweh sich ausschreien durfte, in der die Entbehrung
des Mannes aufklagte. Ein sanfter Gegengesang wogte
in den Ozean der Disharmonien hinein und glättete
ihn. Ueber allem erhoben sich die weissen Flügel
eines hellen Organs. Ein klagendes Lied, vielleicht
der Vesta gewidmet, mit Antiphonien dunkler Stimmen
beantwortet. Gold mit Schwarz-Samt durchwirkt.

Melis empfand es, wie wir das aufgehende Gitter
eines zwanzig Jahre verschlossenen Herrschaftsgartens
empfinden, das wir als Bettelkinder anstaunten. Später
ergoss sich Helligkeit. Unweit behauptete sich der
massige Rundtempel, der den Hügel beherrschte. Auf-
gehoben von dem Gesange sah das Kind rötliche
Feuerschatten durch die weissen Säulenbogen dringen.
Jetzt mochte das Opfer zu Ende sein und seine Auf-
gabe begann.

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