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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 7 (April 1910)
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Fortschritt
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Minimax: Der rote sonntag
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Aus dem Lumpensack
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Walden, Herwarth: Herr Lippowitz
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Beachtenswerte Bücher und Tonwerke
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0058

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Vatikan gemacht habe — während man gleichzeitig
auf vornehme Art die Drohung nur halb ausspricht,
diese Zuwendungen würden jetzt ihr Ende haben.

Es ist schrecklich, in welche Aufregung die
„sonderbare“ Affäre die ganze Tagespresse stürzt.
Da ruht ja kein Telegraphendraht! Es ist eine hoch-
politische Aktion. Denn, wie niemand auf den Qe-
danken kam, der Papst, bekanntlich ein sehr feiner
Musiker, habe es nicht nötig, in seinem Hause so
etwas gräßlich Ordinäres und tief Antimusikali-
sches wie einen Männergesangverein empfangen zu
müssen — so kam auch der entrüstete Kölner Män-
nergesangverein gewiß nie auf den Qedanken, den
„Empfang bei Sr. Heiligkeit dem Papst Pius X.!!!“
als ganz gewöhnliche Reklame zu verwenden. Nein.

Das fortschrittliche Kneipzimmer

Eine Berhner Tageszeitung empfiehlt auch in
die Gemütlichkeit den modernen Fortschritt ein-
zuführen:

„Das Kneipzimmer. Es ist noch nicht sehr lange
. >r, da war ein besonderer Weinkeller ein Luxus,
den sich nur die Villen und Palais reichbegüterter
Familien leisteten. Im Laufe des letzten Menschen-
alters (wenn man diesen etwas unbestimmten Zeit-
raum auf die iiblichen 30 Jahre rechnet) hat sich
ber die Lebensführung auch der bürgerlichen Kreise
so gehoben, daß jede größere und bessere Wohpung
auf diesen ebenso nützlichen wie angenehmen
Kellerraum Anspruch macht. Aber ein damit eng
zusammenhängendes, besonders in Hamburger Häu-
sern gepflegtes Buen Retiro hat sich bei uns, in der
märkischen Architektur, noch recht wenig einge-
bürgert: es ist das urgemütliche, eigens zu diesem
Zweck geschaffene Kneipzimmer. Dieser köst-
liche Raum findet seinen Platz am besten im Keller
selbst, unweit des Flaschenlagers, oder doch im
Erdgeschoß; er ist dann mit dem Weinkeller sowohl
wie mit den Familien- und Qesellschaftsräumen
durch je eine besondere Treppe verbunden. Seine
Ausführung und Ausstattung muß den feinen Takt
des Besitzers zeigen; das ganze darf nichts Ueber-
ladenes bieten, sondern muß eher etwas einfach-
derbes, landsknechtsmäßiges haben, das etwa, was
aF ' ~> Zecher als „saufsam und seßhaft“ be-

K* rroxxröJK+ö OnoJLrr» . 'im.

•„ * C'oV'- ^ ^ W UlUlV >'VClve, dlll UtölCll Clll

Hpo-pn -«endes Kreuz- oder Tonnengewölbe,

T„iri Charakter. Dunkles Holzwerk, Täfe-
lung und eisenbeschlagene Tiiren vermitteln die
rechte Stimmung. Das Hauptmöbe! ist natürlich
der große Kneiptisch in der Mitte mit Holzstiihlen.
Mit ihm hat sich die moderne Tnnendekoration schon
* eingehend beschäftigt und die übliche, aber etwas
eintönige kreisförmige oder rechtcckige Form durch
Verwendung des Ovals und unregelmäßig verteilte
Ausbuchtungen für die Kneipanten abwechslungs-
reicher gestaltet. Man kann auch eine Einrichtung
nach Art der Bauernstuben wählen: in der Ecke
neben dem Kachelofen eine Wandbank und ein in
die Ecke geschobener Tisch. Ein solider Kredenz-
schrank birgt die Trinkgefäße aus Zinn und Qlas;
Zinngeräte werden überhaupt vorteilhaft bei der
Ausstattung des Raumes eine große Rolle spielen.
Im übrigen sei man mit dekorativen Elementen. vor
allem Bildern und Sprüchen, sparsam — „es kann,“
wie ein feinsinniger Beurteiler betont, „vor einer
Uebertreibung dieses Schmuckes, wie es in fast
allen „altdeutschen Kneipen“ zu rügen ist, nicht ge-
ntig gewarnt werden. Ebenso wenig wie im Speise-
zimmer durch bedeutenden Bilderschmuck die Auf-
merksamkeit von den kulinarischen Qenüssen ab-
gelenkt werden darf, ebenso wenig soll auch im
Kneipzimmer der Blick durch Sprüche angezcgen
werden, bei denen man nur die Wahl hat, daß sie
entweder Qemeinplätze sind, oder der augenblick-
liehen Stimmung Gewalt antun“. Das Fenster
schließlich erhält natürlich Butzenscheiben, die hier
wirklich einmal am Platz sind; neben ihm oder in
einer Ecke, jedenfalls in geheimnisvoües Halbdunkel
gehüllt. findet eine lustige „Wandapotheke“ ihre
Stätte, deren Likörschätze nicht zu knapp bemessen
sein dürfen. So auseestattet, dürfte das Kneipzim-
mer sicherlich eine Bereicherung des modernen
Wohnungsbaues darstellen.“

In einer Posse von Johann Nestroy (aus der
nebenbei jener englische Schwank, der zur Zeit im
Neuen Theater aufgeführt wird, ziemlich glatt ge-
stohlen ist) versucht ein moderner Mensch, der in
die alte Ritterzeit versetzt wird, sich mit seiner Um-
gebung durch die „Pitter“-Worte: „baß, „stracks“
und „traun“ zu verständigen. O wie unrecht hatte
Nestroys Satire, wie unrecht hatte doch alle Puber-
54

täts-Entrüstung gegen die Butzenscheiben-Kon-
serven! Denn siehe, heräuf zieht die Modernität
einer liberal wählenden mittelalterlichen Kunst mit
Diaphanien für Junggesellen. P r o g r e ß

Der rote Sonntag

Echo der himmlischen Heerscharen

Die himmlischen Heerscharen waren am
Sonntag erstaunt, als sie den „Vorwärts“ lasen und
fcald darauf tatsächlich massenhaft rote Versamm-
lungen unter freiem Himmel sich abspielen sahen.
Beim Anblick einer Berliner Festwiese aber brachen
sie in helles Qelächter aus. Sie bemerkten nämlich
dort ein kleines Hündchen, das sich hundemäßig an
einer Pappel erging, und sie erkannten in ihm gleich
den Qeist des entschlafenen Liberalismus, welcher
auch jetzt nicht den Mut zu einer menschenmäßigen
Inkarnation gefunden hatte, aber doch nicht fehlen
wollte.



Die gute Disziplin

A!s in Treptow um Va3 Uhr die Abstimmung
über die verlesene Resolution erfolgte, erhoben alle
begeistert die Hände. An Tribüne I aber kletterteein
Photograph auf den rotbehangenen Rednerwagen,
und auf seinen Zuruf verharrte die Menge noch fast
eine Minute lang mit erhobenen Händen in Em-
pörung über das Dreiklassenwahlrecht. —

*

Unter den Heiligen

AIs sich die Versammlungen zerstreuten, stand
der heilige Antonius von Padua auf, ging in seinen
Pantoffeln hin und her, seufzend: „Sogar den
luftigen Himmel verpesten sie jetzt mit ihren
Phrasen. Und nichts um der Seele willen, und alles
um den Bauch.“ Da klopfte ihn der greise Fran-
ziskus auf die Schulter: „Beim heiligen Gehorsam,
laß das Jammern. Sie lieben den Himmel und die
Freiheit, und sie haben den starren Mut und Hunger.
Ein einziger unter ihnen ist mir lieber als hundert
Deiner „Gerechten“. —

. .. .. Minimax

Aus dem Lumpensack

Noch einmal Herrn Richard Strauss: Liebes
Modejournal, Musik soll tief sein bis zum Unsinn,
aber Ihre Musik ragt in die geistigen Höhen des
2X2 = 4. Werter Bacchant, Sie haben die Be-
geisterung jenes hinkenden Gauls, dem man
Pfeffer unter den Schwanz gerieben hat.

*

Ern Professor tadelte das Tendenziöse in der
Kunst, das Exotische, Praktische, Parteiische et
cetera. Als ein Schüler dies hörte, zog er gläubig
der Kunst solche Gewänder ab, und zurückblieb
zu seinem Schrecken — der Professor.

*

Doch istKunst nicht identisch mitGynäkoIogie.
*

Medizinische Kuriosa. Bei seinen Beobach-
tungen Berliner Schauspiellebens soll ein kleiner
Kritiker, ein wahrhaft klauender Siegfried, in
dankenswerter Weise verunglückt sein. Er wid-
mete in letzter Zeit auch der Darmperistaltik
der Schauspieler seine Aufmerksamkeit und stu-
dierte gespannt die Mimik der rückwärtsigen
Muskulatur, analysierte die Flatus und Exkrete.
Er soll aber dabei einer grossen Schauspielerin
zu nahe gekommen sein, rasch erfasst und in
unglaublich schneller Zeit zu Darmexkret assimi-
liert — der demnach wohl als sein Urzustand an-
zusprechen ist — zum Teil aber noch erkennbar
ausgestoßen sein. Der Arzt agnostiziert ihn als
auf unrechtem Wege entleerte Mißgeburt (embryo
foecalis Jacobi). Man plant nunmehr in Schau-
spielerkreisen, auch sein Blatt in größerem Um-
fange zu solchen medizinischen und verwandten
Zwecken heranzuziehen. R. R.

Herr Lippowitz

Dem Sturm ist das Glück widerfahren, daß
er vom „Neuen Wiener Journal“ nicht bestohlen,

sondern beschimpft wurde. Da uns aber d'
Schere des weit über die Grenzen Oesterreicft
bekannten Diebsblattes noch immer mehr imP°
niert als seine Feder, so wollen wir uns mit dies e
gar nicht einlassen und uns ausschliesslich
jene halten. Es ist die weitaus schneidigste Scheri
die man in der deutschen Publizistik jetzt hM
Ungemein anerkennend hat sich einmal die „Frafl^
fnrter Zeitung“ über sie geäußert:

Apachenjournalistik. Im ersten Morgej
blatt vom 8. März dieses Jahres brachten wir un'j
dem Titei „Eine Seelenleserin“ einen ArtiHj
unserer Pariser Mitarbeiterin Anne Jules Ca9‘
Am 14. März erhielten wir von Frau Jules Ca*;
folgenden Brief: „Der Zufall spielt mir einliegendf
widerrechtlichen Abdruck meines Artikels in dj
Hände, ohne Quellenangabe, ohne meinen NafflJ'
zu nennen. Das ist doch unerhört! Wollen S 1;
mich wissen lassen, was ich zu tun habe, odef n
die „Frankfurter Zeitung“ für mich eintritt. V*
ist ja geradezu Apachenjournalistik!“. Das Bl3j
das diesen widerrechtlichen Abdruck gebraC’
hatte, war das „Neue Wiener Journal“ (HeraU 1
geber J. Lippowitz). Wir protestierten in eih*
Zuschrift an diesen Herrn energisch gegen d4
unserer Mi’arbeiterin zugefügte Unrecht und
hielten zu unserem Erstaunen am 25. März v®
Herrn Lippowitz ein Antwortschreiben, das nebf
einer ausfälligen Bemerkung über den „unkolleg
aien“ Ton unserer Zuschrift folgende Stelle efl s
hält: „Im vorliegenden Falle handelt es sich U 1
eine Arbeit unserer siändigen Pariser Kord
spondentin Anne Jules Case, welche uns den b £
treffenden Artikel „Die Seelenieserin“ selb*
überwiesen hat. Wir haben also allen Grut^
uns darüber zu wundern, dass uns unsere Koif®
spondentin einen Artikel, der ihr noch dajj
als Originalartikel honoriert wird, anbietet, nacfl
dem diese Arbeit vorher in der „Frankfurt(
Zeitung“ zum Abdruck gelangt ist.“ Nach diesf
„Aufklärung“ hätte also Frau Case sich bei Uij
über einen widerrechtlichen Nachdruck beschwef
und unsere Hilfe gegen diese Art von Apachef;
journalistik angerufen, gleichzeitig aber den fraj
lichen Artikel zum Originalpreise dem „Neue
Wiener Journal“ überwiesen. Einige Kennth
unserer Pappenheimer hat uns vor einer verfrühb
Entrüstung über Frau Case geschiitzt. Wir sandti
der Dame den Bief des Herrn J Lippowitz m
der Bitte um Rückäußerung ein und erhielten a<
30. März folgende Antwort: „Nein, das geht dt<j
wirklich über alle Erwartungen. Ich bin staff
Diese dreiste Lüge ist geradezu empören
Hier haben Sie meine feierliche Erklärung üb
den wahren Tatbestand der Angelegenheit: I
ist mfr gar nicht eihgeräiien, aäm „Nöuen vV'ie*“:
Journal“ den für die „Frankfurter Zeitung“ aL
Originalartikel eingesandten Beitrap „Eine Seeleh;
leserin“ anzubieten. Dergleichen „journalistische ,
Streiche liegen mir fern und gehören nicht zu d®
Schule, aus der ich stamme. Als schlagender Bßj
weis aber für meine Korrek heit in dieser Ahj
gelegenheit dient doch die Tatsache, daß ich selb«,
Ihre Aufmerksamkeit auf diese Angelegenheit lenkte-.
Wir haben auch keinen Momeni an der Korrekthei(
von Frau Case gezweifelt, wohl aber war es Ufl
von vornherein klar, daß Herr Lippowitz mit seine’j
Behauptung verblüffen wollte, wohl unter de
Vorraussetzung, daß Frau Case als gelegentlich“
Mitarbeiterin des „Neuen Wiener Journal“ nich'
den Mut haben werde, ihre Ehre zu verteidige 11
und ihren „Brotgeber“ öffentlich zu überführeij
Herr Lippowitz hat sich in dieser Annahme geirb
Wir übergeben den ganzen Akt der Oeffentlichkei’
und erklären damit Herrn Lippowitz als für u« s;
erledigt.

Viel peinlicher sind freilich jene seltenei 1
Fälle, in denen das Neue Wiener Journal sich
dazu hinreißen läßt, einer anständigen Scheerefl'
leistung eine selbständige Meinung anzuschließefl
Einen Nachdruck aus dem „Sturm“ würden wi (;
schließlich hingehen lassen; wenn es sein mufr
in Gottesnamen auch ohne Quellenangabe. AbeJ
nur keine Originalansicht! Sonst muß der Her(
Lippowitz es sich gefallen lassen, daß man si|
ihm nachdruckt. Und durch die ganze deutsch e
Presse ist kürzlich die folgende Originalgemeinheij
des „Neuen Wiener Journals“ gegangen:

Dr. Sigwart Graf zu Eulenburg
Helene Gräfin zu Eulenburg
geb. Staegemann
Vermählte

Liebenberg • Den 21. September 1909 • Leipzig
Wir müssen gestehen, daß Fräulein Staegb
mann ziemlich vorurteilslos und kouragiert is'
wenn sie es riskiert, in die etwas anrüchig ge
wordene Familie des Liebenbergers hineinzuj
heiraten. Trust

" ' ^

Beachtenswerte Bücher und Tonwerk^

Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Fall statt

HEINRICH MANN: Die Jagd nach Liebe/R 'man
Albert Langen, Verlag, München
EMILE VERHAEREN: Gedichfe

Axel Juncker, Verlag, Berlin _J

Verantwortlich für die Schriftleitung: Herwarih Walden Berlin.HaienS*“.
 
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