Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI issue:
Nr. 36 (November 1910)
DOI article:
Schur, Ernst: Die Luftseuche
DOI article:
Döblin, Alfred: Berliner Theater
DOI article:
Mellinger, Frederic: Fieber
DOI article:
Lasker-Schüler, Else: Gedichte
DOI article:
Lichtenstein, Alfred: Mabel Meier
DOI article:
Berliner Theater
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0293

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Ich begann den bacilllus Zeppelinensis zu ent-
decken. Ich niußte an mich halten; noch' war es
nicht Zeit.

So lconnte es nicht weitergehen. Jedermann,
fand ieh, war infiziert. Man mußte versuchen, die
unhaltbaren Zustände zu bessern, ehe der Taumel
in die übliche Verblödung und Verdummung über-
ging. Aber es gefang mir nicht, was doch sopst
so Teicht ist, eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu
diesem Zweck zu arrangieren. Die Leute sagten
mir: „Wer soll dorthin gehen; Sie Werden allein
dort sein!“ Auch eine Gesellschaft war nicht zu
gründen. Iöh stand allein. Auch 1 das sönst sö;
bel'iebte Mittel eines öffentlichen PreisaussChrei-
bens, offen für alle Mediziner, für alle Kurpfuscber,
wiollte (nicht ziehen.

War icb der einzige Verrückte' oder der ein-
zige Gesunde? Einsam 1 saßi iCh da. Meine Familie
hatte mich verlassen. Meine Frau war mit einem
Luftschiffer davongeflbgen, eines Tages ganz plötz-
l'ich; iCh sah sie nur noCh' in den Wolken ver-
schwinden. Meine Kinder besuchten eine der ge-
gründeten Luftakademien.

Dennoch, ich besChlloßi, nicht nachzulassen. Ich
studierte Tag und NaCht die Krankheit.

Zu diesem Zweck hätte ich mir mehrere Exem-
plare dieser Gattung, wie sie zu Dutzenden, ja Hun-
derten auf der Straße umherliefen, eingefangen. Ic'h
fütterte sie reiChlidh, Iieß ihnen alles Gute zukom-
men und beobachtete teie.

Man nahta mich als komischen Sonderling. Man
wollte (mich sehen. Die Leute strömten wie be-
sessen zu mir, füllten mein Wartezimmer, um-
lagerten meine Türen und drängten siCh in meine
Räume. Kaum konnte ;iCh mjch ihrer erwehren.
Auf der Straße (bildeten sich Aufläufe, wenn idh
kam. Man lächte offen über mich' und glaubte, jch
würde es nicht Imerken, weiil sie fest überzeugt
waren, |daß in (meinem Gehirn etwas defekt sein
müsse.

Ohne iZweifel, jm Mittelalter hätte man inich
gefoltert, igerädert und verbrannt.

Und dennoch, jch habe eine Entdeckung ge-
macht, auf die (ich stol'z bin.

Icfh hoffte, dadurch berühmt zu werden. Aber
ich vvurde schlließlich Ides Landes verwieSen und
müßte froh sein, niCht lebenslänglich in ein Irren-
haus interniert zu werden. Manche Faust drohte
mir jnach.

Die Tragweite meines |SchicksäIs wurde mir
erst klar, als idh anderswo mir eine Existenz grün-
den wollte. Die Luftseudhe herrschte überall;; alle
Länder waren verseudht. Und überall schob tnan
mich über die Grenze ab.

Ich werde mich Bchließlicli bei den Eskimös
zur Ruhe setzen müssen. Aber auch denen droht
die AnsteCkung, und idh gerate in die gefährliche
NaChbarschaft derer, die den Nordpolklaps häben.

Wo soll ich bleiben? Soll ich mich in die
Wüste vergraben oder mich bei den Höhllenbewöh-
nern einnisten? Wo ist ein seudhenfreier Ort?

Fieber

Von Friedrich Mellinger

Das längsame Hinundhertorkeln des großen,
blinkenden Uhrpendels hatte rnich mit seinem
sdhönpathetischen Ton sin eine ganZ zufriedene
Stimmung versetzt. Es war m,ir, als wenn Possart
Nietzsche lläse: — Eins! —

Oh r— Mensch! >— Gieb — Acht! —

Und nun auf einmäl der ganz unmotivierte
Schlüß imitten im Satz. „Das ist höchst unästhe-
tisCh, Herr von Possart, ein Kunstwerk unvolendet
sitzen J.U lässen und seiner Wege zu gehen! Sie
waren erst bei den Worten:

„Die — Welt — ist — tief —“.

Wollen Sie bitte fortfahren !“ — Aber er will nidht
Das macht mich nervös.

Und der graue Mehlsack mit dem Zucker-
wässerstimmdhen und den ewig gleidi 1 kühlen
Händen wollte erst in einer halben Stunde zurück
sein. Ob ich schnell aus dem Bett springe und
die Uhr aufziehe? — „Bleiben Sie aber redht schön
ruhig lliegen, bis |ich komme“, hatte die Jungfer
Maria gesagt, afe sie wegging. — Blödsinn! Raus
aus den Federn!

Donnerwetter, ich kann nicht mlal richtig gehen.

So. Die Gewichte sind wieder oben und Herr
von Possart redet weiter. Na also!

„Tief ist — ihr — Weh —

ACh, ich setze mich einen Augenbllck in den
sc'hönen, grauen Plüschsessel. Wenn ich mich 1 in
die gefütterte Decke mit dem alierliebsten Veilchen-
muster hülie, friere ich schon nicht; und das Bett
füftet jnZWiisChen etwas laus.

Nun kann ich Imiich auch im Spiegell bewun-
dern. r— Pfuj Teufef, seh ich „vergeistigt“ aus!
So hätte ich fnir mein fiebenswertes Abbild doch
nicht yorgestellt!,

„Weh — spricht: — Vergeh!“ — sagt Herr
von PosSart.

Es ist wejdhes, igefbes Licht im 1 Zimmer, und
von Hcr Chaiselongue ihcr weht ejn leiser, feiner
Duft von Azurea. — Noch immerü — Ja! — —
Hm, was denn?? —

Süße, süße Stimmung! —

Ich müß eine Zigarette rauchen, ich muß, „und
kostet es mein jLeben!“

Jungfrau Maria wird ein Gesicht machen, wenn
sie kommt! — Und wenn dann jhr sanftes Zureden
und freundfidfes SChlelten lihre bleichen Wangen
rötet, 'Werde ,iCh jhr zurufen: „Aequam memento
rebus in arduis servare mentem!“ —

(Zu komisch ! — Wie kommt dieser abgenagte
KnoChen aus ! der Sdhüfzeit in die gutversorgte
Speisekammer meines Gehirns?)

Dann .werde idh Sagen: „Maria! — Was ist
der Tod? — ,LJnd wenn schön!‘ sagt Schiller, ,das
Leben ist der Giiter höchstes nicht!‘ — Wedekinds
MoritzChen zum Beispiel behandelt diese Angelegen-
heit mit einer für seine wenn auch 1 inimer aller-
dings bereits sozusagen ein wenig angemöderte
Jugend mustergültigen Weishejt: „Dann steige ich
hinab jn mein |Grab, wärme miCh an der Ver-
wesung, und — llächle —“. Jungfrau Maria, denken
Sie, er lächelt! „Nu, was soll er sChon machen?“
Sagt iTubal, der preund Shyioöks, des Juden von
Venedig.

Possart gibt erzen sejnen Senf dazu:

„DoCh — afle — Lust — will — Ewigkeit —“,
Was ist denn das? — Hm, — iCh hätte doch wöhl
keine Zigarette —? iCh will miCh lieber wieder ins
Bett legen! — Teufel noc'h mal, zU sChwäch —;
es geht nicht.

Afeö sitzen bleiben!-Wenn doCh : der

Spiegel wenigstens nicht gerade gegenüber hinge!
WiderlliCh, sich immer ins eigene Gesicht zu starren.

Und dieser Zigarettenqualm! Im Spiegel sieht
es aus, afe (ob iCh auf einer Wolke sitze: ein
EngelChen ;i,m Nachthemd!

Ich SChwebe wirkllich auf der Wolke. — Will
nicht in das gemein schadenfrohe Gläs sehen; das
halte jch nicht pus!

Ich schwebe auf der Wolke, — imtner höher,

— immer naCh dem Takt der Uhr — längsäht —
höher —.

Icb weiß, — der Spiegel! sChwebt mit.

Ich weißi es, ünit geschlossenen Augen.

Ich ßehe — Alles — im' Spiegel — init ge-
sChllossenen Augen.

Da ist die kleine Yvonne mit den lebendigen,
läChenden Augen. Ja, das ist sie! — GanZ nackt;
süß nackt, — und zarte, graue Seidenbändchen
schweben ium siie, j— sie tanzt, und die Bänder
schließen sich ganz fest an ihren Körper, — jetzt
ist inur der Kopf frei — und die Arme, die sie
aüsgestreckt hält, leine lebendige, tanzende Mumie 1.

Wie die Augen heiß glänzen, — wie die Arme
sehnsüchtig, suchend Zittern!

Wolken, — aufwjärts! — langsäüi' — längsäm

— aufwärts!

Wie ihre Hände zittern, wie ihre Finger siCh 1
kraflen —

Der Kopf, — nein, der SChädel! Ich' bin daä 1,
ich bin das! Ih're Finger schließen sich' um den
SChiädel, sie sieht mit ihren flimmernden, heißen,
begehrenden Augen in die großen, leeren Augen-
höhlen, — jn die schwarzen, starren Kugeln, sle
Sieht auf sein wieißes, grinsendes Gebiß, und ihre
Lippen beben und zucken unter süßen SChüierzen.

Sie beWegt langsam die ausgestreCkten Arme,
sie niihert den Schädel ihren Lippen, den Köpf
beugt Siie jn den NaCken, — jetzt will sie ibre
Lippen auf den SChädel pressen, dorthin, wo früher
seine Lippen waren, da — kläppt der Unterkiefer
herunter. Ein Schrei!

Die Uhr ist wjeder stehen geblieben.

SChwester Maria steht entsetzt ,in der Tür:
„Aber — aber!“

,Bitte, Schwester, bringen Sie mich ins Bett!
— ICh bin sehr müde. Ziehen Sie auch die Uhr
wieder au'f. Possart hät den ICtZten Satz noch
nicht —‘

„Wie? — Bitte, was sagten Sie?“

,Wifl — tiefe — tiefe — Ewigkeith

Gedichte

Von Else Lasker-Schüler

In deine Augen ....

Bläu wird es in deinen Augen —

Aber warum zittert all mein Herz
Vor deinen Himmefn.

Nebel liegt auf meiner Wange

Und mein Herz beugt sich zum Untergange.

Von weit

Dein Herz ist wie die Nacht so hell,

Ich kann es sehn

— Du denkst an miCli — es bfeiben allei Sterne stehn.

Und wie der Mond von Gold dein Leib
Dahin sö sChnell
Von weit er sCheint.

Mabel Meier

Von Alfred Lichtenstein

Es war spät. Ich ging den Kurfürstendamm
entläng. In Abständen sah ich Leute, häufig hörte
ich die Geräusche von Fahrzeugen. An der Fa-
sanenstraße standen zwei; die ... sChämten sich,
afe ich nahe war.

Mädc'hen kamen, die sich vers’pätet hatten.
Wenige, die Geld verdienen wollten. ICh sah die
länge Dirne, die siCh jeden Abend in der Joachims-
thalerstraße herumtreibt. Ic’h erkannte sie an dem
Unterrock. Sie lachte zu rnir herüber —

Ich ging längsam. Ein Kriminalbeamter beob-
achtete mich. Ich ging weiter. Vor mir lief eine
Frau, die bl'ieb oft stehen und heulte.

Ich dachte nicht nach. Ich schaute zu den
Sternen und fand keinen Wunsch. Ich merkte, daß
ich ohne Beziehung zu mir bin. Ich betradftete
mich gleichgültig wie einen fremden Gegenstand.
... ICh schüttelte den Kopf, daß der alte Mann
so spät allein am Kurfürstendamm ging... Und zu
den Sternen murmelte... Und so sonderbar war.

ICh begegnete einer Dame, die sagte: Au —
Ich sagte : Darf ich Sie begleiten. Die Dame sagte:
Bitte. — Es war ziemlliCh dunkel.

Wir gingen miteinander; die Dame erzählte:
Sie heiße Meier, der Rufname sei aber Mabel.
Sie wohne am Kurfürstendamm. Bei Verwandten,
die hätten eine Rortierstelle. Im übrigen sei sje
Choristin am Metropoltheater.

Die Dame war nicht schön und nicht jung,
aber sie sah zugänglich aus. Ich hatte keinen
Grund schüchtern zu sein. —

Vor dem Haus, in dem die Daüie wohnte,
blieben wir stehen.

Ich machte den Vorschläg, nochl ein Hotel auf-
zusuChen. Die Dame schien nicht abgeneigt zu
sein, sie sagte: Nee! — ICh' sagte: Wieso? —
Die Dame sägte : Sie habe Trauer. — ICh fragte,
wer gestorben sei. — Sie sagte: Papa! — Ich
sagte: Sie wollen also niCht? — Ueber das Gesicht
der Dame kam ein Lächelü. Sie sChäute träuüie-
risch 1 zu einer Laterne —-

Berliner Theater

„Der scharfe Junker“; ähnlich lauten häufig
Ueberschriften von Leitartikelü linksstehender Zei-
tujigen, Diskussionsthemata von Volksversammlun-

887
 
Annotationen