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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 49 (Februar 1911)
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König, Moritz: Pubertät
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Lasker-Schüler, Else: Alfred Kerr
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Pudor, Heinrich: Edward Carpenter über Walt Whitman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0397

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ein seltenes fremdes Tier berührt. Das Weib, ein
Weib.

Sie umfing ihn kollegial, um ihn auf den Mund
zu küssen. Da iiberflog ihn leiser deutlicher Wider-
wille. Er drehte ihr die Wange zu, auf der er ohne
besonderes Wohlgefiihl ihren kalten Kuss verspiirte.
Innerlich wehrte er sich gegen etwas Gewaltsames in
diesem Kuss, den er als Schändung eines geadelten
Symbols empfand.

„Nun, mach dirs bequem“, sprach sie ihm zu.
Sie zog an der Rouleauxschnur und begann sich ruhig
zu entkleiden. Atemlos wohnte er der Enthüllung des
niegeschauten GeheimnisSes bei. Das war selbstver-
ständlich ein Korsett. Wie es Puppen in Miederge-
schäften anhaben. Das durfte man wirklich sehen.
In zehn, zwölf Jahren vielleicht konnte er an eine
Heirat denken. Jetzt stahl er sich das einfach. Ein
Narr, der wartet. Ohne Tändelei, ohne Schwüre gab
man sich ihm, dem armen Burschen, hin. Kein Brief,
keine Treue wird verlangt. Aber die Mädchen.
Mussten sie nicht auf einen Zufall warten, um das
Leben kennen zu lernen? Sie mochten es leichter
haben, sich einfach hinzugeben, wenn sie ungeduldig
waren.

Nun sass sie lachend, übermütig neben ihm, die
bunten Tücher ihrer Kleidung waren sorglich nett hin-
gebreitet Nun war die Erfüllung so nahe, dass ihn
überirdische geistige Heiterkeit erhob: Heisse lächer-
liche Kneipengespräche frecher Freunde offenbarten
jetzt ihren Sinn. So eine darf nicht nein sagen.
Ihre Haut war leuchtend weiss. Das war die Sinn-
lichkeit.

Unter seiner täppisch-berührenden Hand dehnte sie
sich listig-fröhlich, brachte ihren Körper gutmütig-dar-
reichend zur Geltung. In ihr glättete sich das Leben,
nahm ergreifende Lustformen an.

„Schön, wie schön,“ lachte er gierig.

„Geh, was siehst denn da Schönes,“ lachte sie
müde-unterwürfig. „Es ist ja nichts daran“.

Er stotterte schmeichelnde demütige Worte, um
seine Erregung zu decken Aus dem Gewitter der
Sinne hielt er dann nur mehr das fest: das Weib war
der Lohn für den Tod. Musste es sein Wer sein
Teil an Erdenlust also erhob, übernahm auch die Ver-
gänglichkeit.

Lächerlich und frostig lagen nun die Kleidungs-
stücke umher. Ihren Leib sah er je zt grotesk in
seinen natürlichmenschlichen Verhältnissen. War ihr
Reiz nur in seiner Erregung gewesen? Verlegen, er-
kältet war das Beisammensein. Sie zog sich nach
einigen Hin- und Hergehen an. Alles war wie früher.
Aber Unbarmherzigkeit war hinzugetreten. Sein Gesicht
verhärtete sich, er war stille geworden. Sie mochte
Derartiges kennen Mit Ruhe betrachtete er sie, die
demütig seinen Rock herbeibrachte. Die Gestalt, das
Gehaben erschien ihm armselig, gemein. Was faselten
Zeitschriften von der Schönheit des Hetärentums.

Das Gefühl quälender Armut erhob sich stärker.
Die früheren Episoden seiner Mädchen schienen ihm
jetzt wieder strahlender, lebhafter, voll innerer Reinheit,
von der er jetzt durch diese Stunde weit geschieden
war. Einmal sass er auf einer Bank am See mit
einem reizvollen Mädchen. Das fiel ihm ein. In der
ansteigenden Harmonie solchen Beisamenseins mochte
körperliche Vereinigung das höchste Ziel sein. Heraus-
gerrissen als einziges war sie grausam, mörderisch.
Ein Verbrechen, dessen Schauplatz man ängstlich ver-
liess.

Viel später fand er heraus, das keiner Art von
körperlicher Lust die geistige Stufenleiter fehlt. Die
Lust floss dem Manne aus tausend fremden Quellen
zu, an denen er nicht trinken durfte. Das war jenes
damals dumpf, empfundene Zerstörende. Unsittlich
und dankbar war es, sich einer anderen Frau zu-
zuneigen, als jener, aie in Form und Reiz den Keim
des Begehrens verstreute. Der Frau muss das Tierische
mit dem Menschlichen vergolten werden. Sonst war
es Gräuel . . .

Er horchte in die Morgenfinsternis hinaus, ob das
Zukünftige nicht fern heranblühe.

Allred Kerr

Sylvester 1908 bin ich Alfred Kerr begegnet unter
künstlichen Balkansternen, zwischen schleierverhüllten

Angesichten schöner Haremsfrauen und fezbedeckten
Häuptern weissgekleideter Muselmänner. „Wissen Sie,
wer der Beduinenfürst war?“ (Wir grüssten uns nach
des Bosporus Zeremoniell und Sitte.) „Reissen Sie mich
nicht immer aus meinen morgenländischen Illusionen“,
antwortete ich meiner Begleiterin. Später hörte ich,
der Araber mit dem Seidenmantel sei Alfred Kerr ge-
wesen. Am besten gefallen mir seine Gedichte, sie
sind humorsüss und fallen ihm in die Hand. Aber
seine allerschönste Dichtung war ein spanischer Essay;
edes Wort trug eine Abendrotrose im Haar, jedes
Wort war eine Sennora, erhob sich und tanzte.

Ueber den Kurfürstendamm sehe ich ihn manch-
ma! nach der Kolonie heimwärts gehen. Dort wohnt
Alfred Kerr in einer Villa, die beneidet wird, sonst
pflegt man die meisten Kolonisten ihrer Villa wegen
zu beneiden. Hainlich birgt dieses nachtumheckte
Schlösschen seinen Dichter. Spät muss der Knti-
sierende die Kritiken niederschreiben, die sind blaunervig
wie er selbst und duften nach melancholischer Ironie.
Wir haben uns beide nur immer das schönste gesagt,
wir kennen uns nur im Gruss Mich dünkt, er träumt
von „Heinrich“ wie ein einziger Sohn, der sich einen
Bruder wünscht. Er träumt immer von seinem Bruder
Heinrich Heine Bald gleicht er ihm auf einen Nerv.
Aifred Kerr müsste durch die Strassen Paris wandern
wie der tote Bruder, mich stört des Lebenden cheva-
leresker Mantel, sein abgestäubter Hut. Warum denke
ich so? — Morgen lese ich im Tag seine gedichtete
Kritik über Hauptmanns Premiere.

Else Lasker-Schüler

Edward Carpenter über
Walt Whitman

Von Heinrich Pudor

Nun ist Carpenter auch im weiteren Deutschland
ein vielgelesener Autor geworden. Kürzlich erschien
in England sein Buch „Tage mit Walt Whitmann“, aus
dem hier einiges wiedergegeben sei.

Carpenter hat Whitman zweimal besucht, im Jahre
1877 und im Jahre 1884. Er sagt: „Wenn ich früher
gedacht hätte, dass Whitman exzentrisch sei, schwankend,
ungestüm, so hätte sicher schon mein erster Besuch
mich eines Besseren belehrt. Niemand könnte über-
legter sein, niemand könnte mehr Einfachheit im Wesen
haben, niemand besser wissen, was er tat, als Whitman,
und doch bemerkte ich an ihm eine strahlende Kraft,
die von ihm ausging wie von der Sonne, die den
Platz füllte, wo er sass, und dabei eine gewisse
Reserve, eine gewisse Melancholie und eine Art von
Zurückgezogenheit, sogar Unzugänglichkeit." Nach
einigen Worten der Unterhaltung schlug Whitman einen
Spazier-Bummel durch Philadelphia vor. Er setzte
seinen grauen Schlapphut auf, nahm meinen Arm und
ging zur Fähre hinunter.

Carpenter erzählt nun kurz, wie sie durch
Philadelphia gewandert sind, meist auf dem Omnibus.
Dann kommt eine sehr interessante Stelle: „AIs wir
zur Fähre zurückkamen, hörte man das letzte Glocken-
zeichen. Wir hätten das Fährbot noch erreichen
können, aber Whitman schien nicht eilen zu wollen.
Die Fähre stiess ab, und er setzte sich nieder, um
das Leben zu geniessen, indem er auf die nächste
Fähre wartete.“ Carpenter fügt hier hinzu: „Merke
Dir das Wort: Er setzte sich nieder, das
Leben zu geniesen, indem er auf das
nächste Fährboot wartete. Anstatt Dich
fühlen zu machen, wie andere es tun, dass der gegen-
wärtige Moment ein lästiger Zwang ist, von dem man
irgendwie loskommen muss, um irgend etwas Zukünftiges
zu erreichen, gab Whitman mir dieses herrliche Ge-
fühl des Gegenwärtigen, des Jetzigen, („nowness“),
diesen frommen Glauben, dass der gegenwärtige
Moment genossen werden kann.“

Also die grösste Kunst, unbeschäftigt zu geniessen,
scheint Whitman in vollem Masse besessen zu haben.

Nicht minder wichtig ist folgende Phase der Kon-
versation: Whitman sagte: „Seltsam finde ich diese
Vorliebe der Amerikaner für Vergoldung, ich meine,
dass sie, sobald sie etwas Geld gemacht haben, einen
Rappel bekommen auf Sofas (want to go in for sofas),

kostspielig möblierte Zimmer, Putz und Staat und der-
gleichen. Und doch scheint es eine Notwendigkeit,
dass sie so handeln müssen. Ich vermute es kommt
daher: jeder Mensch wünscht, sich so hoch wie andere
zu fühlen, dass er auch vom Besten haben kann.

Von der Zukunft seines Volkes sagt er dann: Die
Schöpfung einer grossen unabhängigen, demokratischen
Klasse von Kleingrundbesitzern ist die Hauptsache,
obwohl unserr Politiker niemals daran denken. Ich
bin zufrieden, wenn für Amerika freier Handel und
freier Wettbewerb aller Ausländer ein integrierender
Teil seiner Politik sein wird. Die Zukunft der Welt
liegt im offenen freien Verkehr und in der Solidarität
aller Völker. Wenn dieses Problem nicht in Amerika
gelöst wird, kann es nirgend geiöst werden.

Dann erzählt Carpenter von seinem letzten Besuch
bei Whitmann: Er war sehr freundschaftlich und zärtlich
und sass am offenen Parterrefenster, er genoss den
frischen Luftzug und sprach über seine „Leaves of
Grass*. „Was hinter den Grashalmen liegt, können
sehr sehr wenige, nur hier und da Einer, vielleicht
am ehesten noch Frauen, greifen. Es liegt hinter
jeder Zeile, aber versteckt, sorgfältig versteckt, indem
einige Sätze absichtlich dunkel gehalten sind. Ich
habe in meiner Natur etwas Eilendes, Fliehendes, wie
ein altes Huhn. Man Kann ein Huhn an einer Hecke
auf und ab wandern sehen, das sehr unbefriedigt aus-
schaut, aber sobald es einen verborgenen Platz erblickt,
legt es eilends ein Ei und geht fort als ob nichts
geschehen sei. So fühlte ich, als ich „Grashalme“
schrieb.“

Carpenter erzählt auch von seinem Besuch be»
Oliver Wendel Holmess und dessen Meinung über
Whitman: „Neulich plauderten wir, also Lowell, Long-
fellow und ich zusammen und kamen dabei auf
Whitman zu sprechen. Lowell sagte: „ich kann nicht
verstehen, warum man so viel Aufhebens von diesem
Whitman macht. Ich habe einen guten Teil seiner
Dichtungen gelesen, aber ich kann nichts darin finden,
ich kann nichts finden (J cant see anything in it).“
Na ja, antwortete Longfellow, ich glaube schon, der
Mann muss fähig sein, etwas Gescheites zu schaffen,
wenn er eine sorgfältige Erziehung erhalten würde.“

In seinem Buch spricht Carpenter auch von dem
Einfluss, den Emerson auf Whitman ausgeübt hat.
Emerson schrieb nämlich im Jahre 1856 an Thomas
Carlyle einen Brief, in dem sich folgende Stelle findet:
„Letzen Sommer erschien in New-York ein Buch, ein
wahres Monstrum, das schreckliche Augen und Buffalo-
Kraft hatte und unzweifelhaft amerikanisch war, und
das ich dir senden möchte. Es heisst „Grashalme“,
ist geschrieben und gedruckt von einem fahrenden
Buchdrucker in Brooklyn, New-York, namens Walter
Whitman; du wirst glauben, es sei der Katalog eines
Auktionshauses, und dann kannst du ruhig deine Pfeife
daran anzünden “

Endlich berichtet Carpenter, was John Townsend
Trowpridge tn seinen „Erinnerungen“ von Whitman er-
zähli: „Whitman sprach an jenem Tag davon, wie er mit
Emersons Schriften bekannt wurde. Er arbeitete als
Zimmermann in Brookiyn, indem er auf eigene Rech-
nung allein einfache Häuschen für Arbeiter baute. So-
bald er eines fertig hatte, fing er ein anderes an,
Häuschen von zwei bis drei Zimmern. Das war im
Jahre 1854. Er war damals fünfunddreissig Jahre alt.
Er lebte zu Hause mit seiner Mutter. Früh ging er
fort zur Arbeit und kam abends nach Haus mit seiner
Kaffee - Kanne, wie ein gewöhnlicher Arbeiter. Dabei
aber trug er meistens ein Buch und zwischen ihm
und seinem einfachen Mahl teilte er die Zeit der
Arbeitspausen. Einmal brachte ihn der Zufall ein Buch
von Emerson in die Hände. Und seit dieser Zeit las
er keinen anderen Schriftsteller. All sein unbestimmtes
Sehnen jagte beim Lesen dieser eiektrisierenden Worte
in Flammen empor. So denke sich man nun den
Zimmermann, der auf seinen Brettern sitzt, die Stulle
in der einen und die Kaffee-Kanne in der andern Hand.
Er gestand, dass er niemals Dichter geworden wäre,
ehe er sich selbst gefunden hätte, und dass Emerson
es war, der ihm half, sich selbst zu finden.

Carpenter erwähnt noch die letzten langen Jahre
der beginnenden Paralyse Whitmans, als er das Leben
kommen und gehen liess mit Gleichmut, ein Mann,
dem die Niedrigsten nahen durften, der von Hunderten,
die ihn gelesen hatten, geliebt wurde, dessen schwache
Seite das einfache Volke war . . .

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