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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 55 (März 1911)
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Mehr Kinder
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Kerr, Alfred: [Antwort auf eine Rundfrage]
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Benndorf, Friedrich Kurt: Alfred Mombert
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0442

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Alfred Kerr:

Empfängnis muss nach Wunsch vereitelt werden
dürfen. Wer nicht soviel Gedecke liefern kann, wie
Kinder da sind: der muss nur soviel Kinder liefern,
wie Gedecke da sind.

Hohe Bevölkerungszahl verbürgt nicht einmal poli-
tische Macht. (China.) Die grossen Einflüsse stammen
immer von kleinen Völkern. Der Glaube der Welt
kam von dem kleinen Judäa. Die Schönheit der
Welt von dem kleinen Griechenland.

Der Bundesrat sollte bessere Schutzmittel erfinden.

Dr. jur. Werthauer:

Die Konstellation für gesetzgeberische Arbeiten ist
augenblicklich im Interesse des Fortschritts der Mensch-
heit, soweit er durch bewusste Einflussnahme überhaupt
gehemmt oder gefährdet werden kann, ais eine äusserst
ungünstige zu bezeicnen; weil die Voraussetzungen,
nach denen die Wahlkörper zusammengesetzt sind,
nicht den Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen.

Deshalb ist ein Eingreifen der Gesetzgebung auf
keinem Gebiet zur Zeit wünschenswert. Es wäre
schon deshalb das Scheitern des Entwurfes zum Kur-
pfuschereigesetz nur zu begrüssen. Wenn man
Gesetze vorschlägt, welche einerseits die individuelle
Freiheit beschränken, andererseits dem Gesundbeten
und Aehnlichem das Wort reden, ist die Hoffnung
ausgeschlossen, dass etwas Kraftvolles, Einheitliches,
Freiheitliches zu Stande kommt.

Speziell die Frage, ob der Staat berechtigt sei, die
Nichtvollendung der Konzeption zu verbieten, ist schon
in ihrer Aufstellung eine Verhöhnung der Individualität
des Menschen.

Ein solches Verbot trifft, wie die meisten Mass-
nahmen dieser Art, natürlich nicht die Intelligenten,
sondern nur die bedauernswerte Masse der Armen; es
ist ein besonders exponierter Gipfel unsozialer Gesetz-
gebung. Die übliche Begründung, dass der Staat für
oder gegen die Schaffung des Nachwuchses Sorge
tragen müsse, ist wissenschaftlich haltlos.

Die Natur schafft so überreich, dass das Eingreifen
der Menschen ihr gegenüber verwegen erscheint. Selbst
wenn vorübergehend das Quantum nachlässt, so kann
es die Natur durchaus durch die Qualität ersetzen.
Jedem Volke ist, wie jeder Familie, nur eine bestimmte
Lebensdauer gegeben. Die Natur kann auch den
Untergang zur Schaffung neuer Werte nötig haben.

Der Staat ist seinem Begriff nach ein Zusammen-
schluss der Einzelnen, um ein geordnetes Zusammen-
leben zu ermöglichen. Wenn der Staat darüber hinaus
in anmassender Weise noch weitere Dinge zu seinen
Operationen verwenden will, so verletzt er sich selbst,
kann naturgemäss keinen Erfolg haben, und dient nur
der Hinderung und Zerstörung seiner eigentlichen
Zwecke.

Die Statistik versagt für die hier fraglichen Fälle,
aus ihr lässt sich ein Nachtei! nicht herausrechnea.
Wesentlich ist allein, ob Pflichtgefühl erlaubt, beliebig
viel Kinder in die Welt zu setzen, damit sie verkommen
oder andere sie ernähren. Oder ob wahre Pflicht
nicht mit absolutester Selbstsucht harmonisch ver-
bunden ist.

Man erzieht und belehrt schon in der Fortbildungs-
schule, im Vorbereitungsunterricht die Jugend im
weitesten Masse, damit soziale Not und Elend, Selbst-
mord und Kindesmord immer mehr verschwinden.

Die Judikatur des Reichsgerichts halte ich in
diesen Fragen nicht für richtig. Wenn eine Gesetz-
gebung eingreifen soll, müsste sie abändernd, in ganz
anderer Richtung gehen, als sie jetzt in Aussicht steht.

Daher bin ich absolut gegen die hier angeführten
Bestimmungen des Entwurfes eines Kurpfuscherei-
gesetzes.

Geheimer Medizinalrat Professor
Dr. Strassmann

Auch mir ist es wie Herrn von Schmoller nicht
möglich, die von Ihnen «’aufgeworfenen Fragen nach
allen Richtungen hin erschöpfend zu behandeln, ich

muss mich auf die Punkte beschränken, die mir als
Vertreter der gerichtlichen Medizin naheliegen.

Von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich zu-
nächst bemerken, dass das Thema einer Teilung be-
darf. Es muss besonders erörlert werden, inwieweit
ein Verbot von Gegenständen, die die Schwangerschaft
beseitigen sollen einerseits, von solchen, die beim
Menschen die Empfängnis verhüten, andererseits, be-
schränkt oder untersagt werden müsste.

Was den ersten Punkt anlangt, so erscheint es
mir unzweifelhaft, dass ein solches Verbot gerecht-
fertigt ist. So lange unser Strafgesetzbuch die Ab-
treibung als ein Verbrechen oder Vergehen ahndet, —
und wie unser gegenwärtiges Strafgesetzbuch, so wird
auch das künftige sicherlich diesen Grundsatz vertreten
— ist es eine offenbar unzulässige dreiste Verhöhnung
des Gesetzes, wenn Gegenstände, die diesem ver-
brecherischen Zweck dienen, unbedenklich verkauft
und vertrieben werden. Das geschieht bisher leider
im grössten Masstabe und grosses Unheil wird dadurch
gestiftet. Denn der anstandslose Verkauf der „Mutter-
spritzen“ wie anderer zu gleichem Zweck bestimmter
Apparate und Mittel muss unerfahrenen Frauen und
Mädchen die Ueberzeugung beibringen, dass sie mit
der Anwendung dieser Gegenstände etwas ganz legales
tun und verschuldet es so schliesslich, dass zahl-
reiche weibliche Personen an Ehre und Freiheit ge-
schädigt werden. Und was dem Mediziner noch be-
sonders bedauerlich erscheinen muss, auch an ihrer
Gesundheit, denn oft genug führt die Anwendung
dieser Instrumente seitens Unkundiger zu Verletzungen
und schweren, mitunter tötlichen Erkrankuagen. Das
Verbot von Gegenständen, die die Schwangerschaft be-
seitigen sollen, erscheint mir und in gleicher Weise
wohl allen meinen Fachgenossen dringend notwendig.
Ich habe es selbst angeregt, als ich in der Hauptver-
sammlung des preussischen Medizinalbeamtenvereins
vor einem Jahre über dem Vorentwurf zum Strafge-
setzbuch referierte, ohne irgend welchen Widerspruch
zu finden.

Die Gesundheitsgefahr ist aber auch bei einer An-
zahl von Gegenständen gegeben, die als Verhütungs-
mittel der Empfängnis ebenfalls in schwungvoller Weise
vertrieben werden. Reisende von Firmen, die sich
diesem bedenklichen Geschäftszweig widmen, ziehe.n imr
Lande umher und preisen als sicher und unschädlich
Instrumente an, die diese Eigenschaft keineswegs be-
sitzen. Ich denke dabei besonders an Instrumente von
der Art der sogenannten Intrauterinpessare: an einer
Hartgummischeibe, die vor dem Muttermund zu liegen
kommt, befindet sich ein längliches Ansatzstück,
das in den Gebärmutterhals zu liegen kommt
und so jenen Ring festhält. Das dauernde
Tragen eines Fremdkörpers im Innern der Gebärmutter
kann chronische Reizzustände des Organs und damit
eine schwere Gesundheitsschädigung der Frau bewirken.
Wenn es möglich wäre, den Handel mit diesen Gegen-
ständen zu untersagen, so wäre damit ein erheblicher
hygienischer Gewinn erzielt. Ich nehme an, dass bei
den vorgeschlagenen Gesetzesparagraphen nur daran
gedacht worden ist, solche gesundheitsschädlich en
Mittel zu verbieten und glaube nicht, dass jemals die
Absicht bestanden hat, das Verbot auch auf andere
Gegenstände zu erstrecken, die seit langer Zeit als
Mittel zur Verhütung der Empfängnis ebenso wie zur
Verhütung der Infektion weit verbreitet sind. Es wäre
meines Erachtens nichts dagegen einzuwenden, wenn
in dem Gesetzentwurf die Zulässigkeit des Verbots
Empfängnis verhindernder Mittel auf diejenigen be-
schränkt würde, die gesundheitsschädlich sind. Mit
einer solchen Einschränkung aber müssen meiner Ueber-
zeugung nach die vorgeschlagenen gesetzlichen Be-
stimmungen als eine wesentliche Förderung des öffent-
lichen Wohls begrüsst werden.

Weitere Antworten folgen

Alfred Mombert

Von Friedrfch Kurt Benndorf

Dieser Dichter kommt zu uns wie jener Fischer
in „Tausend und eine Nacht“, den ein Dämon, ein

Ifrid, befähigte, eine verzauberte Gegend mit Augen
zu schauen und in dem sonst unsichtbaren See da-
selbst die roten, biauen und goldenen Fische zu angeln.
Er kommt und redet begeistert von dem Wunderbaren
und zeigt es uris. Und wir verstehen ihn zuerst nicht
und brauchen Geduld, dass uns das Traumhafte zum
Glaubhaften werde. Dann aber lässt uns das Gehörte
und Geschaute nicht mehr los; es ist wie jene Zauber-
rune in der Baumrinde, davon Volker im Nibelungen-
lied erzählt: mann sinnt ihr nach und sinnt sie doch
nicht aus.

Wer solcherweise von Momberts Werken ergriffen
wurde, für den hat das Entdecken kein Ende; immer
wieder steht er am Anfang, wie bei der Betrachtung
der Natur. Vieles von dem, was ihm zuerst als schwer-
verständlich erschien, wird ihm dann selbstverständlich.
Und was ihm verschlossen bleibt, verbirgt vielleickt
die Wurzeln des seelischen Erlebnisses so tief, dass sie
unauffindbar sind (denn es gibt Nerven - Erglühungen,
Phantasie - Paroxysmen, die nur im Schaffensmoment
und nur für den Autor selbt mit ihrer Aussprache im
dichterischen Wort übereinstimmen.)

Mombert hat innere Stimmungen, die unter der Schwelle
der Wortausdrucksmöglichkeit zu liegen schienen, nun
doch „wortbar“ gemacht — er hat sie ins Bewusstsein
einer persönlichen Sprache erhoben — stellvertretende
„Ikonen“ dafür gefunden.

* *

*

Manchmal ist es beim Lesen, als führe man mit
der Eisenbahn tags in einen Tunnel ein: — piötzliches
Erblinken der Lampen in den Wagenabteilen, — ei»
dunkles Reich mit hellen Lichtern 1 —

Und immer stellt man sich einen vor, der fernab
vom Alltag wohnt, in einem Leuchtturm am Meer, in
einer Sternwarte auf dem Hochgebirge, — der ein
Nachbar der elementaren Natur ist und darum tiefer
in sich hinnein, kühner in die Welt hinaus schaut und
die Enträtselungskraft und den Ewigkeitsausdruck für
das ephemere Erleben gewinnt.

* *

*

Es ist, als verfüge dieser Dichter über eine grosse
geheime Gemäldegalerie, von deren Inhalt er in Worten
die deutlichste Anschauung gibt, sodass wir ihrer selbst
garnicht bedürfen.

* *

*

Momberts Dichtung suggeriert uns Stimmungen
durch überraschende, mehr oder weniger ausgedehnte
Bilderreihen — durch Umsetzung von Innenleben in
Landschaftliches und menschliche Szene innerhalb dieses
Landschaftlichen. Sie rückt die vergleichbaren Vor-
stellungen, die symbolischen Obergedanken direkt an
die Stelle der gegebenen Vorstellungen. Sie tauscht die
individuellen symbolischen Analogievorstellungen für
die konventionellen und wirklichen ein. Da jene ins
Unbestimmte und Unbegrenzte ausstrahlen, kann ihnen
der logisch erkennende und nur berechnende Verstand
ebensowenig beikommen, wie etwa den Symbolen einer
musikalischen Symphonie. Sie sind Natur und zugleich
Hieroglyphe. Sie sind unerklärbar wie Blumen.

* *

*

Fragt man danach, worüber das sinnende Antlitz
einer Marmorstatue sinnt, oder was ein Fels in der
Talheimlichkeit bedeutet, oder warum mich ein Menschen-
wesen anzieht? I Aller Sinn und damit alle Freude liegt
schon in der Existenz, und höchstens deren Charakter
und Beziehungsreichtum wünscht bestimmt zu werden.

Glücks genug ist es, zu fühlen, und nach dem
eigenen Temperament auszulegen, was ein Dichter sagt.
Zumal in der lyrischen Kunst ist jeder Empfangende
sein eigener Kommentator. Nur die Trivialität ist ein-
deutig.

* *

*

Wer Momberts Grundmotiv — das unendliche
Werden des Geistes in der Zwei-Einheit des materiellen
und mystischen Lebens — nicht klar erkannt und er-
füllt hat, ist beim Lesen seiner Gedichte in derselben
Lage, wie einer, der eine Orgelfuge anhört, ohne das
Thema deutlich aufgefasst zu haben. Er vernimmt nur
ein erhabenes Brausen.

* *

*

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