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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 6 (April 1910)
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Scheu, Robert: Das Problem der Provinz
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0045

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WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE


Redaktion und Veriag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524. Anzeigen-Annahme und
Geschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / Amt VI 3444

Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,25 Mark / Halbjahresbezug 2,50 Mark/
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

^RSTER JAHRGANG BERLIN/DONNERSTAG/DEN 7. APRIL 1910/WIEN NUMMER 6

lNHALT: ROBERT SCHEU: Das Problem der
^ovinz / OTTO SOYKA: Tugecdkurs / ALFRED
OßLIN: Gespräche mit Kaiypso iiber die Musik
RTER BAUM: Aus einem neuen Roman / KARL
RAUS: Aphorismen / ADOLF LOOS: Ornament und
'«fbrechen/RENfi SCHICKELE: Tivoli Vauxhall /
r LSE LASKER-SCHÜLER: Zirkuspferde / A. D.:
hristentum mit Posaunen /BIMINI: Faule Ostereier/
ROGRESS: Fortschritt / TRUST: Ehrengerichte /
"WNONA: Mein Sohn

öas Problem der Provinz

Robert Scheu

Die Menschen in der Kleinstadt, ohne Zweifel,
leiden.

Diese Städte bisweiien mit größerer Ein-
^’ohnerzahl, als das klassische Athen sich ihrer
rühmen konnte, durch alle Verkehrsmittel unter-
^nander und mit den großen Zentren der Welt ver-
l^bpft, mit einem ununterbrochenen Strom von
nchrichten versorgt, von Telegraphenfäden
ntchsponnen, von iachenden Gärten umfriedet,
I R den köstlichen Vorbedingungen des Wohlbe-
laSens und der geistigen Selbstvertiefung ausge-
j attet, und dennoch ihres Friedens nicht froh, ohne
b eidenschaft und Schwungkraft, voll seltsamer
rauer liegen sie in ihren schönen grünen Tälern.
'/‘fn solite meinen, daß die behagliche Ruhe gieich
'nem Paimenhaus ihre edlen Gewächse ausblühen
* eÜe; daß die Menschlichkeit sich dort intensiver
j ad lustvoiler genießen mußte, wo sie in begrenzten
I ezirken, in durchsichtigen Verhältnissen sich
^icht durchschaut und alle Beziehungen dazu be-
nrnmt erscheinen, sich zu vertiefen, zu ver-
nnigen; sollte meinen, daß, abgelegen vom nerven-
‘'nizehrenden Verkehr die innere Sammlung gerade
* e Voraussetzung höherer und reinerer Leistungen
ndete, daß nicht nur ein größeres Bedürfnis,
°ndern auch ein größeres Vermögen zum
? eistigen Austausch den Verkehr veredelte, ver-
K‘ärte.

^ fm Gegenteil ist es eine Tatsache, daß die
fovinz jn (jen Lebensformen, Manieren, in den
p lnSen des Geschmacks, aber auch in der höheren
fc r°duktivität mit den großen Zentren nicht wett-
J‘ ern kann; daß es — zu unseren Zeiten — keiner
^instadt mehr geiingen kann, die geistige Führung
sich zu reißen oder zur Beachtung zu gelangen.
jj le soll man es erklären, daß künstlerische und
j^rarische Schöpfungen, sobald sie von einem
n. r°vinzort von Stapel gehen, nicht nur ihren Weg
2 lcht machen, sondern der Geburtsort sich gerade-
n als eine Verrammelung der Karriere erweist
^d trotz alien Schlagw'orten von Bodenständig-
c,t. Erdgeruch, Heimatkunst jenes Mißtrauen nicht
Itn * )esieS en ist, sei es nun gerecht oder ungerecht?
j 1 Qrunde genommen beweisen diese periodisch
„^ 11 wiederholenden „Entdeckungen der Provinz“
jj. r die große heimliche Verwunderung ob des
Nj^tsels, daß diesem gewaltigen Reservoir der
lo ati° n die gebiihrende Fruchtbarkeit nicht zu ent-
CKen ist. Und fühlt der Bewohner der Klein-

stadt sich nicht beengt, eigentlich abgeschnitten?
Wunderlich genug, daß sich die Menschen dort am
wenigsten genügen, wo sie einander am unge-
störtesten gehören; es ist fast ein Argument für
den Pessimismus; es sei denn, wir miißten an-
nehmen, daß ihnen dort irgend ein Aroma, ein
Zauber unbewußt fehit, ein Ingrediens, dessen sie
bediirfen, um einander schmackhaft zu sein.

Auf der anderen Seite die Springbrunnen-
städte, deren Pflaster berauscht, wo die Gedanken
aus dein Boden wuchern, wie das Naphta, das auf
den gesegneten Stätten unter elementarem Druck
aus dem Erdinnern an die Oberfläche drängt, der
Strom des Geistes in tausend Wasserfällen don-
nert! Ein Paris, dessen Fruchtbarkeit allstündlich
in Flammen ausbricht oder das erhabene London,
wo die gigantischen Werte aufeinanderprallen und
das Rasseln der Millionen ans Ohr schlägt; jene
w undersamen Zentren, deren Boden in Lüsternheit
zittert und den darauf Tretenden gleich einer
elektrischen Platte mit Spannug ladet.

Unsere Kulturstimmung hängt offenbar von
lokalen Imponderabilien ab. Darin steckt irgend
ein Geheimnis, eine Neuheit, die wir mit ver-
gangenen Zeiten nicht teilen. Und die Provinz
leidet! Verfolgen wir dieses geheime Siechtum, so
nehmen wir wahr, daß die großen Handeisemporien
davon offenbar verschont sind. Hafenplätze, See-
städte, Börsenplätze — ein Venedig, Neapel, Ham-
burg, sind imrnun. An den Piloten der Lagunen
zerschellt das Gespenst. Auch Marienbad, Karis-
bad, St. Moritz, Nizza haben davon keinen Hauch.
Die Sommerlustorte, wie klein auch die Einwohner-
zahi sei, tragen niemals die Spuren dieses Leidens.

Ja, das Charakteristische dieser Lustorte liegt
darin, daß sich von dort aus eine neue Renaissance
ausbreitet, kein Zweifei, eine große Renaissance
des Körpers. Der Leibesstolz, die Ritterlichkeit
haben sich im Widerstreit zur Nerven- und Papier-
kultur aus den Saturnalien der geplagten Mensch-
heit entwickeit, haben an Ausdehnung und Be-
deutung zugenommen, die Farbenfreude ist sieg-
haft erwacht — die Sommer- und Sonnenkuitur
triumphiert!

Wir haben Sommer- und Winterfarben, Som-
mer- und Winterfreunde, Sommer- und Winter-
Auffassung, und unzweifelhaft neuestens auch eine
Sommer- und Winter-Wertung.

Sport, Farbenrausch, Herrenmenschen und
Frauenflora und das Theater bezeichnen die Pflanz-
stätten der neuen Renaissance, und die Zeit naht
mit Riesenschritten, wo wir unsere ganze Jahres-
einteilung vom Sommer aus organisieren werden.

Wir erkennen aber gleichzeitig — nicht ohne
Schrecken —, daß die Kultur und das Geistesleben
in der Gegenwart überall an die Zentralisation von
großen materiellen Gütern gebunden ist. Dies war
sicherlich nicht zu allen Zeiten in solchem Maße
aer Fall. Die magnetische Anziehungskraft, nach
der sich die Kulturwerte an den Stapelplätzen der
materieilen Güter ringartig ansetzen, die
wachsende Schwierigkeit, abseits von diesen
Sammelstellen die Kulturstimmung zu bewahren,
Glanz und Reichtum als Voraussetzung geistigen
Wirkens — das sind Erscheinungen, die wir uns

nicht ohne Widerstreben einbekennen, weil ihre
Konsequenzen betäuben. Nach diesem neuen,
bösen Gesetz wird nur der Mitgenießende zur
schaffenden Gemeinde zugeiassen, in diesem Zeit-
alter der höchsten industriellen Produktivität.

Ueberall erweist sich das Erwachen der
Lebens- und Kulturstimmung, überhaupt das
Geistesleben davon abhängig, daß mächtige Güter
roulieren. Und wie die industrielle Monstre-Pro-
duktion die Voraussetzung dieses gesteigerten
Konsums bildet, so wären die frevelhaften Genüsse
unvollkommen ohne den Hintergrund des
städtischen Proletariats, dieser kupferroten Wolke,
die sich, der Explosion harrend, auf dem Horizonte
türmt. Im Vordergrund dieser biendenden
Finsternis steigt und rauscht der silberne Spring-
brunnen des Reichtums mit seinem stimulierenden,
agassierenden, teuflischen Reiz.

Der einzelne wird immer rücksichtsioser ge-
mahnt, daß die Ausübung geistiger Fähigkeiten vom
Besitz unzertrennlich wird. Ein großer nervöser
Reisedrang verschärft die Situation, peitscht
despotisch zur Konzentration der Genüsse. Ein
donnerndes „Get money“ durchhallt die Weit.
Die großen Investitionen, die der Industrie kaum
tioch gestatten, ihre Gewinne zu realisieren, finden
ihr Spiegelbild im geistigen Leben. Teure Sporte,
als Quelle von Einsichten und Sensationen, die zum
Bildungsbestand gehören, von denen man sich nicht
ohne Gefahr rapider Verarmung abschließen kann,
steigern die Sehnsucht nach Besitz. Ein bewußtes
Abseitsleben würde zu dem Resultat führen, daß
wir infolge unserer Papierkultur von der Welt der
materieilen Kräfte abgeschnitten blieben, ohne
einen Ersatz durch ein naives Naturleben einzu-
tauschen. Der Moment der körperlichen Gefahr
teispielsweise, das uns durch die Bureau-Kultur
entrissen wurde, iäßt sich in edler Form auf den
Zinnen der Gletscher wiederherstelien. Die kom-
merzielle Abhängigkeit mit ihrer Unterdrückung
der Affekte bedarf dringend der Erlösung durch
das Thcater, um jene Reinigung herbeizuführen,
die schon Aristoteles zur Hygiene der Seele
rechnete. Als Gegengewicht gegen die Boden- und
Heimatiosigkeit unserer kulturmischenden Zeit
pflegen wir das künstlerische Heim. Auch hier
aber sind kulturell wertvolle Gefühle an den Besitz
geknüpft. Nehmen wir Alles in Allem, so läßt sich
sagen, daß die natürliche urwüchsige Ausstrahlung
der Seelenkräfte und Spannungen von der Kultur
schrittweise ausgeschaltet wird. Die hierfür er-
fundenen, bis zur Vollkommenheit gesteigerten
Ersatzmittel sind aber durchwegs — teuer.

O alte Weisheit von der einfachen genügsamen
Lebensweise, wie unhaltbar wirst du in diesem
positiven Zeitalter, das in hoher Erleuchtung der
Genuß als wichtigstes Erfahrungsmittel erkannt
hat, in einem Zeitalter, das den Edelwert der Lust
festgestellt hat und die Machtgefühle turmhoch
wertet! Diese Machtgefühie, die immer schwerer
vom Besitz zu trennen sind, weil ohne die ma-
terielle Unabhängigkeit die Lauterkeit der Ge-
sinnung, die Tapferkeit des Auftretens kaum noch
aufrecht zu erhalten sind, wenn sie nicht geradezu
lächerlich werden. Seien wir aufrichtig, diese Zeit

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