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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 4 (März 1910)
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Altmann, Wilhelm: Berliner Zukunftsopern
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Hardekopf, Ferdinand: Höfliches Bekenntnis
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R., R.: Der rote Dalai Lama
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Döblin, Alfred: Zirkuspantomime
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Kurtz, Rudolf: Neue Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0034

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zu liebenswürdige Königliche Opernhaus nicht
bietet, ein Institut, das planmäßig Opern der
lebenden deutschen Tondichter aufführt, „d i e
deutsche Oper“, das werden jene Neugrün-
dungen nicht sein, die lediglich aus reinen geschäft-
lichen Qriinden erfolgen.

Möchten sich doch einmal Mäcene finden, die
uns diese „Deutsche Oper“ schenkten und sie so
versorgten, daß sie unbekiimmert um den Zuspruch
des Publikums neuen Talenten ihre Pforten öffnen
kann.

Höfliches Bekenntnis

Hans Jäger, der Verfasser der „Christiania-
Boheme“, ist kiirzlich gestorben. Die Feuilleton-
Bureaukraten haben ihm ein paar lexikographische
Sätze nachgestammelt. Sie wußten nichts von der
aufreizenden Analyse dieses Boheme-Romans, des
besten, der je geschrieben worden ist. Als neulich
der gute Alkohol-Dilettant Bierbaum das Zeit-
schriftliche segnete, da traten die Feuilletons aus
ihren Spalten vor Tränenjauche all der Schmierer,
die sich gar zu jählings verlassen fühlten. Ihr Evan-
gelium war der „Stilpe“ gewesen, dies bohemische
Kochbuch, dieser kandierte Totentanz, diese Be-
trunkenheit aus der Wurzener Qosen-Perspektive.
Es war genau das Buch, das, wild geworden, dei
Sohn der „Waldschänke“ zu Connewitz bei Leip-
zig schreiben mußte. Daß Bierbaums Bedeutung
im Sozialen gelegen hatte, in der Arbeitgeberrolle,
die er als Herausgeber des „Pan“ und der „Insel“
gespielt, das notierte keine jener skrophulösen Zei-
lenschindmähren . . . Wir aber wollen wenigstens
bekennen, wie wir diesen H. Jäger geliebt haben;
ihn, den norwegischen Parlamentsstenographen,
den sein Buch um den idiotischen Erwerb brachte;
den ehrlichsten aller Dekadents; ihn, der uns im
regenfeuchten, geheimnisbergenden Radmantel vor
Augen steht, wie ihn Munch gemalt, im Cafe, beinr
Absynth . . . Hübsch ist’s auch, an jene Szene der
„Christiania-Boheme“ zu erinnern, darin Björn-
stjörne Björnson, der Qroßmeister zeitgemäßer Fen-
chel-Honig-Phraseologie, sich so namenlos peinlich
benimmt. Der Held des Romans, in schlinmisten
sexuellen Nöten, geht zu Björnson. Von diesem
skandinavischen Beicht- und Altvater erhofft er
Rat. Und Björnson, ängstlich, bürgerlich, dennoch
prall-würdig um den Schein der Freigeistigkeit
bemüht, weiß dem Armen kaum ein einziges arm-
seliges, menschliches Wort zu sagen. Eine bour-
geoise Gänsehaut breitet sich hier aus. Seitderri
Jäger diese Seiten schrieb, ist Björnson für die Bo-
hemes tot (für die Bohemes, über die heute jedes
sumpfige Normalhirn ein paar verächtliche Cliches
parat liegenhat; über die jenen Blödianern das ge-
ringste zu verraten nicht lohnt; die aber in zeitlose
Heiterkeit fallen, so oft einer jener Wische ihren
Blick passiert). Stefan Wronski

Der rote Dalai Lama

Der Dalai Lama ist aus Tibet vor den Chine-
sen geflohen; er ist nach Kalkutta gegangen. Als
er um Hilfe bat, haben ihm die Engländer zwar
nicht sein Land, aber unumschränkte Gewalt über
alle Tapetenmuster gegeben; er darf jetzt in einem
gelben Hause wohnen und soviel Qebetnrühlen
drehen lassen, wie nur ein Esel treiben kann. —
Das niedere preußische Volk wandert, aus dem
Hause seiner Wahlvertretung vertrieben, auf dem
Wege der Sozis; es darf in einem roten Hause woh-
nen und soviel Versammlungen abhalten, soviel
blutige Fahnen schwenken, wie die farbenblinde
Luft verträgt; es darf auch in den Tiergarten spa-
zieren, sich heiser schreien und blutige Köpfe
holen. Aber nach Tibet, nach Tibet wird es nicht
ziehen. Denn der echte Deutsche kommt immer,
wenn er nach Tibet will, durch die Stadt Hornberg.

R. R.

Zirkuspantomime

Auch ich war zu „Marja“. Es ist ein wahrhaft
interessantes Stück. AIs darin nämlich ein Fürst
eine unbemittelte Jungfrau in edelster Absicht an
sich pressen will, hält auch sie seine körperliche
Untersuchung für opportun und prüft die Klopfemp-
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findlichkeit seines Schädels mit einem Säbel. Was
der Säbel krumm nahm, den Fürsten aber be-
stimmte, seine große Mütze aufzusetzen und Tän-
zerinnen kommen zu lassen. Diese vertraten den
Grundsatz: „Jeder seine eigene Großmama“; nach
Generationen konzentrisch geordnet, besangen sie
ihn mit denr Liede: „Schnürsenkel, Urenkel, Hen-
kell-Trocken und Rindfleisch in einem Zirkus bei-
sammen sind, oh Fürst“. Ihr Busen imitierte patrio-
tisch das heimatliche Flachland, doch hob er sich
zuweilen gummigekräftigt, wie eine Blähung von
Harden. Sie trugen Stulpenstiefel aus demselben
Leder, aus dem Bab seine Aufsätze für ein Theater-
blättchen schneidet. Aus Mangel an Anklang in
Europa zogen sie gemeinsam nach Sibirien, wo sie
aber unter ihren Armbändern, die an die Beine ver-
rutscht waren, und unter dem Berliner Lokal-An-
zeiger, welcher in Schnipseln regnete, sehr zu lei-
den hatten. Da die Herrschaften, von dem langen
Wege beschmutzt, nicht freiwillig baden wollten,
so entschloß sich die Regierung zu einem Gewalt-
streich. Nach Absperrung des Treptower Parkes
Iieß sie das Publikum „Stille Nacht, heilige Nacht“
singen, drängte es dann unversehens auf eine rasch
aufgebaute Rutschbahn, und, dem Trieb gehor-
chend, nicht der eigenen Not, flogen sie hinab, nach-
dem sie rasch mit sechs Eisbären ein Schutz- und
Rutschbündnis, eine Art Eis-BIock, abgeschlossen
hatten. Das Eis der Eisbären schmolz aber in der
Wärme des Bades, die Bären liefen weg, und so
war das Volk wieder mal allein. Entrüstet sang es
die zweite Strophe von „Stille Nacht, heilige Nacht“.
Begeistert fiel die Polizei mit Säbelhieben ein, und
so hatten wir Berliner wieder einen genußreichen
Tag in Sibirien verlebt. Alfred Döblin

Neue Bücher

Von Rudolf Kurtz

Der Insel-Verlag in Leipzig hat ein „Hesperus
Jahrbuch“ herausgegeben, das aus unveröffentiich-
tcn Arbeiten von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt
und Rudolf Alexander Schröder zusammengestellt
ist. Homer, Euripides, Pindar und Dante werden
in einer neuen deutschen Form geboten, Verse von
Schröder und Borchardt, ein Essay von diesem
iiber Stefan George schließen sich an. Dieser
Essay ist ein Beginn, der mit bedeutender Haltung
und gelehrter Pedanterie zugleich versuclit. die
gewaltige, fruchtbare Erscheinung des zeitgenössi-
schen Lyrikers, in die deutsche Entwicklung einzu-
reihen, der versucht, in dem beherrschten Pathos
eines männlichen, sich seiner Nation verantwort-
lich fühlenden. Geistes die im tiefsten Sinne gesell-
schaftliche Bedeutung des willig Vereinsamten dar-
zustellen. Die Architektur dieser Prosa scheint mir
das Bedeutendste zu sein, was seit Jacob Grimms
„Kleinen Schriften“ in ähnlichem Tonfall in Deutsch-
land publiziert worden ist. Und der gleiche Schrift-
steller reicht in seiner „Ode mit dem Granatapfel“
einem Unterirdischen mit so unsäglich verdeut-
lichender Gebärde die Hand, so unwirkliche, einer
tiefen Wiedererinnerung sich entringenden Töne
quellen hervor: daß man besttirzt suf eine neue
Feinheit des Hörens sich einstellt. Ich schweige
von dem Euripides Hofmannsthal, ich schweige
auch von Schröders Fragment einer Homerüber-
tragung für das Erste. Aber die Tatsache, daß der
Name Rudolf Borchardt in diese sichtbare Form
gestellt wird, der abseits nur einem Gespräch ilbcr
philologische Gegenstände (das mehr benutzt als
genannt wurde),einerRede übereinenDicfFer.cim m
"dünnen Versbuch unterzeichnet war, verleint dem
Hesperus Jahrbuch eine Bedeutung, die es aus den
gewöhnlichen Erscheinungen weit heraushebt. Sein
Besitz gehört zu den Verpfichtungen der Bücher-
leser, die ein Interesse an der Literatur vorgeben.

Eine andere Neuausgabe des Insel-Verlags
sind die „Nachtwachen des Bonaventura“, deren
Verfasser — seit Jahren ein beliebtes Streitobjekt
gelehrter Detektivlust — nunmehr in einem ganz
ganz Abseitigen von Heines nie begriffenen Lob
sekundenlang belichteten Zigeuner von Franz
Schulz entdeckt worden ist. Die spöttischen, von
bunten Lichtern, Alkoholdunst und grinsendem
Wahnsinn zärtlich umkreisten Träume des peripa-
thetischen Nachtwächters, in denenllaß und seibst-
ironische Vergeistigung zu einem geschwinden
Rankenspiel sich kräuselt, sind in dieser schönen,
wohltuend gedruckten Ausgabe jedem Freunde
spätromantischer Künste zu empfehlen.

„MercksSchriftenundBriefe“ vo f
Kurt Wolff ausgewählt, zeichnen das Profil ein e
glatten, sorgfältig auf seine Haltung bedachte
Höflings, dessen vielstimmige Flöte Echo zu jede B(
Frage gibt. Und unter dieser spiegelnden Gewand'
heit die Bitterkeit des Bewußtseins einer ruinierte
Existenz — ein Bewußtsein, das sich in dem bös?

i\

Drang zu desillusionieren Ausdruck schafft. D
hausbackene Klugheit des Schriftstellers entspric 5
dem Bild eines treuen Familienhauptes, das wir
dieser Zeit von jedem Gatten zu erwarten habe
Alles Sonderliche einer von vielen Magneten abg
lenkten Existenz flüchtet sich in das essentiel
Leben halb vertraulicher, halb für die Leser V
schriebener Briefe — und gern erleben wir Wk
lands begeisterte Freundschaft, Goethes stürrti*
sche Hingabe. Die Gelegenheit, Goethe in seim
reichsten, strahlendsten Zeit in unmittelbart
Frische sich Ausdruck geben zu sehen; WielanQ
bedachtsame Bereitwilligkeit in den hellcn Farb‘j
einer innigen Freundschaft lebhafter rinnen z[

"i

I

sehen, die Klugheit des angenehmsten Lebensphih
sophen ohne die gezierte Ueberlegenheit seiner g
druckten Lebensweisheit spielend sich ergießen
fühlen — wer wäre ein Freund jener Zeit, der ä
dieser Merck-Auswahl vorüberginge.

Im Verlag Albert Langen München ist Rab4
lais Gargantua erschienen. Die billige Rabela> s
Ausgabe von Gelbcke leidet an mancher steifen
danterie, an einer zu ängstlichen Nähe des Orig 1
nals, die dieser derben, kraftvoll berstenden Sprac^
eine gewisse matte Gedämpftheit, die Iautlose Stiljj
der Grammatikstunde gab. Regis’ gelehrtenh»'
künstelnde, archaistisch in tauben Spielereien
starrte Verdeutschung ist nur in einer Luxusai'-
gabe zu haben. Jetzt können wir die heitere Wei- “
heit des Pfarrers von Meudon, die brutal la» 1
Atmosphäre betrunkener Tischgespräche. die doC
einer innigen Menschlichkeit voll sind, in dies e
freien Umdichtung von Dr. Owlglaß und Engelbc'
Hegaur hören. Fröhlich hat man auf philologisc»
Kiinste verzichtet, genießerischer Takt bildet nac
was eben heiter an Rabelais empfunden wurde, <j (
nun — als ein Standbild — nach Stunden guter Hi>
gabe an pantagruelische und panurgische Humo f
vor unseren Augen sich erhebt: roh und mensC'
lich, derb und kühn, ein weiser Mönch und lache' 1
der Bacchusdiener. Und nicht geringeres Lob vf'
dient Hegaurs Erneuerung des Simnlizissimus. o
mit kennerischer Schonung den Tonfall des rencH
ner Schultheiß um eine Nuance dem rnoderi»'
Schriftdeutsch annähert, ohne die innig hingegebe' 1
Naivität, die Weltfremdheit und Glaubenstrei'
Simplizii zu zerstören. Wenn es eine Aufgabe
— es ist eine — dem deutschen Volk eines seitlj
herrlichsten Güter zugänglich zu machen, so ist sj
gelöst; und es bleibt nur übrig, das Wagnis d'
Verlags anzuerkennen, ein so umfangreiches Buj
in würdiger Form für geringes Geld herauszugebcj

t

(

Beachtenswerte Bücher und TonwerJ

Ausführliche Besprechung vorbehatten
Rücksendung findet in keinem Fall statt

MAX BROD: Ein tschechisches Dienstmädchen
Verlag Axel Juncker, Berlin

JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ; Dramen/BaH
der Neuausgabe der gesammelten Werke
Verlag Paul Cassirer, Berlin

BRJUSSOFF, VALERIUS: Erduntergang
Verlag Hans von Weber, München

CLAUDEL PAUL: Mittagswende / Drama
Verlag Hans von Weber, München

HEINRICH MANN: Die kleine Stadt / Roman
Leipzig Inselverlag

SHAKESPEARE IN DEUTSCHER SPRACHE / Hera»
ge'oen und zum Teil übersetzt von Friedrich Gu !
dolf /Gesamte Ausstattung von Melchior Lech.b
Erster Band: Die Römerdramen

PETER BAUM: Im alten Schloss / Novellen
Berlin Verlag Paul Cassirer

ELSE LASKER-SCHÜLER: Die Wupper/Drama
Berlin Verlag Erich Oesterheld & Co.

Gegen Ende des Monats erscheint die d re'
hundertste Nummer der Zeitschrift Die Fackel,H e'
ausgeber Karl Kraus. Das Werk des kühnen Manf ,(
und großen Wortkünstlers wird noch immer in DeutsH
land nicht genügend gewürdigt. Es sei daher an die 9‘
Stelle nachdrücklich und eindringlich auf die Fad' 1
hingewiesen.

Verantwortlich für die Schriftleitung:
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE
 
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