Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 52 (Februar 1911)
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [12]: Ein Volksroman
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Ich tanz in der Moschee
DOI Artikel:
Hiller, Kurt: Gegen "Lyrik"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0420

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Meer, das immer heftiger zu leuchten begann und
dann in unbeschreiblichen Farbenspielen aufflammte,
dass den Utopianern fast die Augen geblendet wurden.

Und die Sterne verblassten am Himmel.

Das Morgengrauen machte auch die Farbenspiele
im Wasser blasser.

Und plötzlich brach ein Sturm los, dass den
Utopianern die Kopfbedeckungen wegflogen.

Und in dem Punkte, von dem die grünen Streifen
ausgegangen waren, stieg eine Wassersäule in die Luft,
leuchtete ganz hellgrün und erreichte eine furchtbare
Höhe.

Und aus der Spitze der griinen Säule flogen rot-
gliihende Kugeln heraus in den Himmel hinauf.

Und danach schien sich das ganze Meer auf-
zuheben, und es entstand in ein paar Sekunden eine
zweite ungeheuerliche Wassersäule, die mindestens drei
Meilen breit war — und nun auch eine ungeheure
Höhe erreichte — und danach in weissen Strudeln
zusammenstiirzte.

Dabei brach der Sturm so heftig los, und gleich-
zeitig erzitterte der Felsenboden so furchtbar, dass alle
Utopianer zu Boden stiirzten.

Als die Qefalienen sich wieder aufrichteten, sahen
sie das Meer nur als ungeheure Schaummasse, aus
der immer wieder farbige Wolken herausqualmten,
sodass allen Hören und Sehen verging.

Und dieses grossartige Schauspiel hielt bis zum
Sonnenuntergange an.

Und der Utopianer bemächtigte sich eine un-
beschreibliche Erregung, die sich in ganz widersinnigen
Vermutungen Luft machte.

So kam es, dass sich plötzlich die Nachricht ver-
breitete, dieses unterseeische Ereignis wäre ein von
den Barbaren arrangierter Minenangriff — und der
Bartmann müsste Näheres darüber wissen.

Geheimpolizisten hatten auch zufällig den Bartmann
entdeckt und ihn in heftigster Form zur Rede gesteilt
und dabei sah Bartmann den Oberlotsen vor sich, und
der Oberlotse rief:

„Sie haben, mein Herr, vor einigen Wochen auf
unserem Leuchtturm Längeres und Breiteres darüber
geredet, was hinter der Erscheinungswelt zu suchen sei.
Sie sind in verdächtiger Weise mit einem Luftwagen
grade zum äussersten Leuchtturm gekommen, uin wahr-
scheinlich zu spionieren.“

„Das ist ja Iächerlich!“ schrie der Bartmann. Und
er war nahe daran zu erklären:

„Ich bin Euer Kaiser, Philander der Siebente!“

Daran wurde er aber durch das furchtbare Getöse,
das jetzt mit erneuter Kraft Iosbrach, und abermals
alle Utopianer zu Boden warf, verhindert.

XXXVIII

Die Kriegsingenieure

Glücklicherweise waren achtzig Kriegsingenieure
zur Stelle, die von dem Verdachte erfuhren und sofort
den Bartmann aus seiner schlimmen Lage befreiten;
sie erklärten einstimmig, dass hier von Minenarbeit
und Barbarentaten keine Rede sein könnte.

Bartmann aber war selbstverständlich der Mann
des Tages geworden, und die Utopianer brachten jetzt
die Bartmannschen Aeusserungen über das, was hinter
und unter der Erscheinung lebte, mit dem Untersee-
ereignis in anderer Weise zusammen, und es machte
sich überall die Meinung geltend, dass sich in diesem
Bartmann doch wohl ein grosses Ahnungsvermögen
ausgebildet haben müsste. Währenddem erklärten die
Kriegsingenieure heftig, dass sie für den Schutz des
Kaiserreichs volle Garantie böten; sämtliche Grenz-
befestigungen seien im besten Stande und an Barbaren-
angriffe könne garnicht gedacht werden.

Nun vvaren aber mit der Grenzbeschützung nur
tausend Kriegsingenieure betraut; diese hatten aber so
vollendete Maschinen in ihrer Hand, dass sie leicht
nachweisen konnten, wie gut Utopia geschützt sei.

Ein Heer gabs in Utopia nicht; das ganze Grenz-
schutzwesen wiffde von den tausend Kriegsingenieuren
ganz allein geleitet.

Bartmann aber hörte, dass der Staatsrat zur
Sturmküste kommen würde, und da zog ers doch vor,
so schnell wie möglich davonzufahren, um nicht erkannt
zu werden.

Die Schaumstrudel wurden nun allmählich weniger
heftig; die Tätigkeit des unterseeischen Vulkans schien
aufgehört zu haben.

Und nach drei Tagen hörte man eines Morgens
das Rauschen der Schaumstrudel langsam verklingen.
Und als es nun heller Tag geworden war, sah man —
statt des Meeres — einen grossen Sumpf.

XXXIX

Der Sumpf

Dass das Meer plötzlich verschwunden war, erzeugte
nun selbstverständlich abermals eine gewaltige Auf-
regung [im Kaiserreich Utopia. Und in kurzer Zeit
kamen alle Utopianer, sobald sie nur die nötige Zeit
hatten, zur Sturmküste, um sich das grosse Wunder
anzusehen.

Der grosse Sumpf war es allerdlngs auch wert
angesehen zu werden, denn die Formationen, die er
aufwies, hatten des Wunderlaren genug.

Zunächst machte sich der Sumpf durch unglaub-
lich viele schillernde Farben bemerkbar, und dann ver-
änderten sich die Schlammassen immerzu — es schob
und drängte sich das ganze Sumpfgebiet und blieb in
ständiger Bewegung und erzeugten Hügel und Täler
und kleine wandelnde Bergrücken, und besonders
interessant waren plötzliche Trichterbildunger, die für
kurze Zeit gestatteten, tief ins Innere zu blicken.

Aber die trichterförmigen Versenkungen schwanden
immer wieder, und die Mitglieder des Staatsrates und
die Männer der Wissenschaft standen ganz ratlos vor
diesem Schlammreich, und auch der Kaiser Moritz
sagte blos:

„Das ist ein Sumpf, in dem wir Alle zu Grunde
gehen könntenl“

Von dieser Bemerkung nahm man aber kaum
Notiz.

XL

Der ungeduldige Staatsrat

Die Mitglieder des Staatsrates waren nun auch
sämtlich zur Sturmküste gekommen, um das grosse
Naturwunder anzustaunen; das Meer trat immer weiter
zurück, und die Schlammberge des Sumpfes blieben in
ständiger Bewegung, und von den Männern der
Wissenschaft wurde immer wieder die Frage erwogen,
ob neue Ausbrüche des Erdinnern zu erwarten seien.

Der Utopianer bemächtigte sich eine immer heftigere
Erregung, und von vielen Seiten wurde nach dem alten
Kaiser Philander verlangt, der doch sonst bei viel
weniger wichtigen Gelegenheiten niemals mit inter-
essanten Meinungsäusserungen zurückgehalten hatte.

Und der Staatsrat beschloss dementsprechend, sehr
ungeduldig zu tun und beim Kaiser Philander in
Schilda anzufragen, was jetzt geschehen solle.

Diese Anfrage erschien ganz natürlich, da der
Kaiser Moritz in sehr missgelaunter Stimmung nach
Ulaleipu zurückgefahren war.

Aber aus Schilda kam nur ein kurzes Telegramm
des folgenden lnhalts:

„Der Kaiser Philander hat wirklich keine Zeit, sich
mit Naturereignissen, an denen er nichts ändern kann,
zu beschäftigen. Danken wir dem Geiste, der alles
lenkt, für das grössere Naturereignis, das ^larin besteht,
dass allen Utopianern kein Haar dabei gekrümmt ist.
Hoffen wir, dass die Utopianer auch für die Folge
gesund bleiben. Man beachte, dass Sumpfgegenden
stets ungesunde Dünste ausströmen, und demnach ver-
hindere man, dass die Neugierigen zu lange an der
Sturmküste verweilen.“

Dieses Telegramm trug keine Unterschrift und zur
Beruhigung der Gemüter nicht viel bei; die Bemerkung
von der ungesunden Sumpfluft wurde vielfach erörtert
und der Staatsrat sauste schleunigst mit den elektrischen
Hofwagen nach der Hauptstadt des Landes, allwo er
auch fürderhin äusserlich sehr ungeduldig tat, ohne es
innerlich zu sein, da die Tatenlosigkeit des Kaisers in
Schilda allen Mitgliedern des Staatsrates sehr wohl-
tuend vorkam.

XLI

Der kaltgestellte Humorist

Der Kaiser Moritz schrieb währenddem an Frau
Lotte Wiedewitt, Gemahlin des Kaisers von Utopia,
den nachstehenden Brief:

„Liebes Lottchen! Jetzt bin ich schon volle acht
Wochen Kaiser, und Du denkst sicherlich, ich schwimme
hier in der reinsten Glückseligkeit. Das ist aber nicht
der Fall. Ich finde mich in meiner neuen Stellung
einfach nicht zurecht. Die Leute sind hier zu ernst. Ich

hoffte, für die Stadt Schilda etwas Vernünftiges tun
zu können — das ist mir aber, wie Du wohl erfahren
hast, total missglückt. Nun sind mir noch manche
launige Einfälle gekommen — aber der gute Staats-
rat kam meinen launigen Einfällen nicht freundlich
entgegen Ich bin in Schilda zu Hause und nicht im
ernsten Ulaleipu. Hier ist alles prächtig und sehr
praktisch eingerichtet. Staatsverbesserungen kann ich
also nicht vornehmen. Und für Staatsverulkungen hat
man hier keinen Sinn. Ich habe hier das Lachen
verlernt. Ich bin kaltgestellt. Ich pfeife im Grunde
genommen auf allen Luxus und auf alle Bequemlichkeiten
ganz energisch. Schliesslich ist auch dieses Wohlleben
uur eine Beengung der Gedanken. Und daram sehne
ich mich nach Dir, liebes Lottchen. Du musst mir
das Lachen wieder beibringen. Der Sumpf an der
Sturmküste hat hier die die Situation noch ernster ge-
macht. Die Erhebung des Meeres muss ja wohl
kolossal ausgesehen haben; die kinematographischen
Bilder wirken ja einfach niederschmetternd.

Was soll ich aber, der ich doch eigentlich Moritz
Wiedewitt heisse, dazu sagen? lch wundre mich nur,
dass man bei all der Aufregung und bei den Erd-
erschütterungen so viel photographieren konnte Ich
habe so die Ahnung, als könnte uns der grosse Sumpf
ein grosses Unglück bringen. Und darum komm schnell
her. Du bist mir jetzt wichtiger als ganz Utopia.

Ich bin wirkllich in sorgenvoller Stimmung und ganz
wider meinen Willen zu ernst geworden. Setz Dich
gleich in den nächsten Zug und komme her.
Telegraphiere und kommel Ich bin Dein lieber Moritz
Kaiser von Utopia und Trauerklops.“

Und die Lotte Wiedewitt telegraphierte und kam.

Fortsetzung folgt

Ich tanze in der Moschee

Du musst mich drei Tage nach der Regenzeit
besuchen, dann ist der Nil zurückgetreten und grosse
Blumen leuchten in meinen Gärten und auch ich
steige aus der Erde und atme. Eine sternenjährige
Mumie bin ich und tanze in der Zeit der Flurea.
Feierlich steht mein Auge und prophetisch hebt sich
mein Arm, und über die Stirne zieht der Tanz eine
schmale Flamme und sie erblasst und rötet .sich wieder
von der Unterlippe bis zum Kinn. Und die vielen

bunten Perlen klingen um meinen Hals.o,

machmede machei'. hier steht noch der

Schein meines Fusses, meine Schultern zucken leise —
machmede machei', immer wiegen meine Lenden meinen
Leib, wie einen dunkelgoldenen Stern. Derwi, Derwisch,
ein Stern ist mein Leib! .... Machmede machei’
meine Lippen schmerzen nicht mehr . . . rausche —
süss tröpfelt mein Blut und meine Schultern beben
Düfte und immer träumender hebt sich mein Finger —
geheimnisvoil, wie der Stengel der AUahblume. Mach-
mede machei' fächelt mein Antlitz hin und her —
streckt sich viperschnell und in den Steinring meines
Ohres verfängt sich mein Tanz. Machmede mache'f,

machmede machmede.

Else Lasker-Schüler

öegen „Lyrik“

Man höre endlich auf, von „Lyrik“ zu reden.
Dieses Wort riecht fade und nach Allegorie; an eine
Leier erinnert es, die sehr geschwungen aussieht und
von seeienvollen Wurstfingern einer weiblichen Gestalt
(Muse) geschlagen wird; emphatisch gequetschter Speck
sind die Finger, die Gestalt aber blickt gen Himmel
und ist von Gulbransson gezeichnet.

Dazu kommt, dass viele Leute das y in „Lyrik“
wie i sprechen, wodurch der Wahn gefördert wird, ein
gutes Gedicht müsse sangbar sein.

. . Neben den Referaten über einen Ausschnitt
Welt (Roman, Novelle), neben dem auf die Beine ge-
stellten Stück Schicksal (Drama), neben den philoso-
phäden Mischformen (Dialog, Glosse, Essay) haben
wir nun einmal jene musikhafte Art: wie man aus

314
 
Annotationen