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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 37 (November 1910)
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu, [5]
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Soyka, Otto: Schule
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0300

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Es berauscht, dem edlen Weine nachlebend,
aber es berauscht die Seele.

Das Licht verfällt, dunkler schon nisten sich
die Schatten in die Winkel, und ein kalter Windzug
inacht sich auf und fröstelt durch das dreifacb
weite Mittelfenster, durch das eben noch gütig die
Sonne ihre scheidende Wärme reichte.

Jäh bricht der Gerufene auf:

„Die Stunde ist gekommen!“

Opfer

Der Mond ist scbon herauf.

So groß und verstört.

Bleich streift sein noch' zarter Schein die wirr-
zerrissenen und qualvoll gekrümmten Oelbäutne, die
wie Klageweiber erscheinen voller Ausgelassenheit
Ieidenschaftlichen Schmerzes.

Leise öffnet sich die Pforte.

„Wartet hier, wachet und betet, denn die Stunde
eurer Entscheidung naht.“

Und die ergebenen festen Schritte des starken
Bewußten verloren sidh, und seine Gestalt ging
ein in das Dunkel einer Gruppe von finsteren ge-
drängten Bäumen, die einer Grotte Grund ver-
wahrten.

Linde Himmelshilfe tröstete den Einsamen, von
seinen Freunden Einsamen.

Dann kam er zurück.

Sie aber, die schwachen guten Kinder des Dies-
seits, die des SeelisChen schon zu viel crtrugen,
sie schliefen.

So fand der hohe Meister die Gekauerten.

Noch zog schmerzlich in seiner Seele der Kampf,
die Todesangst des Geschöpfs, alles Fleisches Teil,
auCh wenn der Göttliche gekommen ist, in uns
zu wohnen.

Noch einmal warb der Heiland herwandelnd
um die Mitbitte seiner Jünger.

Und rang weiter, und voller Frieden kam.

Als er nun wiederkehfte und schlimimern fand
der Gefährten Gebet — tla waren die Welten ge-
trennt: sie die Menschen, die über die Grenze hohen
Mitgefühls nicht zu kommen vermochfen, er der
mit des Leidens Wehen vom Menschlichen sich
loszureißen beginnende Gott.

Nachsichtig bedauernder Vorwurf: „Daß ihr
nicht einmal das vermochtet!“

„DoCh nun ist meine Stunde gekommen.

Siehe, schon nahet, der midh verraten soll!“

NoCh ein herbes, wie 'Brandinal herbes Be-
gegnen: ein Begegnen seiner göttlich'en mit den
unlautersten Lippen, und getrennt sind Meister Und
Jünger, der Hirt gesChlagen und die Herde zerstreut.

Sie gehn urid folgen — tatlos, ziellos, kaum
bewußt.

So fremd ihnen Alles, so kleinlaut bis Zum
Zweifel fremd, da seine glaubenerhältende Kraft
ihnen fehlt.

Trotz allen Zuspruchs, aller Arbeit an ih'nen.

Sie werden irre nun, und auch' er, der noch
ehelang dem Verräter gezürnt hatte, der feurige
Bekenner und Vorsprecher, dreimal verrät auch er
der Seele näCh.

Da aber trifft auch das Zeichen ein, das einmal
dem Uebereifrigen sein vorausschäuender Meister
gesagt hat: der Hahnenruf — und die Reue faßt
daS große Kind, läuternde Scham der Reue, daß
er sich verhüllt und meidet.

Aber die Angst, sie bleibt.

Diese ihre Angst, diese ihrer Aller Angst ragt
zwischen ihnen und der hohen, duldenden Gestalt,
deren Schitnpf urid Qual vor ihren Augen stcht, und
sie springen nicht Zu.

Wie es die Sonne verlangt, zur Erde ihre be-
Iebenden Strahlengüsse zu senden, so neigt jauch
der Gnade Gefäß stetig sich vor, so bedrängt es
auch den Geist, von seiner unerschöpflichen Fülle'
an Bedürftige abzugeben.

Aber nur die Starken, die Geistesstarken, die der
Stimme der Vollendung schwacli werden und sich
das hemmende Tages-Ich, den Alltag abtun lund
das tierhaft unerfahrene Kleinleben — die es aus
sich vermögen, können sie tragen. Nur die, welche
Gewalt brauchen, reißen das Reich der Himmel
an Sich.

Wer vom Geiste ist, prüft und sichtet seine
Last, Iegt Altes ab und nimmt Neues an die Stelle.

Der Schollensohn aber, der sturnpf gebliebene
Knecht der Gewohnheit, trägt alles weiter, so wie
er es übemommen hät.

204

fcw i

Bieten wöllen solche Menschen etwas — Gott
etwäs anbieten. Es ist aber Entartung, Sünde
ist es.

Zum Nehrnen sind sie zu bequem, nicht zu
demütig.

Sogar die Jünger, noch sind sie Menschen,
ungeweihte Menschen, und der mit seinen Leiden,
seinem Leiden um die Gottespflicht der seelischen
Heilung ins Göttliche Enthobene bleibt ihnen fern
und entrückt.

Noch können sie nichts mitteilen, weil sie selbst
nichts besitzen.

Auch später, als schon der Keim des rein er-
schwungenen Geistes mit seinem goldgrünen Licht-
saft des Felsens dürre Wucht gesprengt hät — sie
getrauen sich nicht: es muß etwas zerrissen sein.
VerschüChtert stehen ihre Empfindungen.

So geisterhäft, so nicht mehr gleich und eben
mit ihnen, kommt der Erstandene denen vor, die
zuletzt so feige sich erwiesen.

Und nun nach der überwachten Nacht am
Tagessaum das hingezögerte Unterkunft heischende
Urteil, die langen Pausen, die liebloser Hohn vor-
ausnehrnend zu füllen siCh bestrebt.

Als Zielscheibe, als Söldnerzeitvertreib muß der
König der Könige von den Sklaven der Gewalt den
Spott der Ehreibietung erdulden iim qualvollen Mum-
menschanz der Dornenkrönung.

Dann Aerger öer Männer über ihre palmen-
schwingende Begeisterung von gestern, blutdürstig
heischender Aerger, losbrechend äm Wutruf:

„Jesus, den Nazarener, ähh kreuzige, den Täu-
scher kreuzige!“

Der Echteste, Täuscher erscheint er dem Pöbel!
Verklärtes sieht er nur als Zerrbild, Ehrerbietung
verunstaltet er zu Spott.

Aber auch das menschliche Mitleiden begegnet
dem gefesselten Erlöser, dem göttlidh Leidenden:
die weichen Gruppen der Frauen, die nicht verstehn,
wie eine Sendung ihren Träger töten kann, wie die
MaCht des Geistes und der Seele von des Staates
Leibesmacht grim'mig erschlagen werden soll. Er,
der Erlöser aber, sieht das Leiden der Verstockten,
ihre erstarrende Qual.

„Weinet nicht über mich', weint über euch und
über eure Kinder, iiber die Männer weint, die ihr
gebärt.“

Der Kreuzträger

Wer seine Stärke äußerliCh an den Tag legt,
stimmt nur mit dem Schweren, dumpfen wuchten-
den Lasten der Erde überein — den Anlagen nach
ist er ein sehr roher, sklavenmäßiger Mensch'.

Aber die Anwendung im Geistigen verfeinert
auch diese Kraft.

Das hät Cyrenaer-Simon erfahren, dieser starke
Mann, als er gleichsam zum Vorspann, zuttt Vor-
spann der Erlösung der Seele genötigt, seinen Leib,
seine starken Schultern unter das Kreuz scbob. So
trug auch er, Lastträger öes Geistes, das Heil der
Welt. So trug auch' er eiti' ypuoxotpopog, ein Christo-
phoros, den Erlöser, so trug auCh er den Befreier
von der Last der Lasten und erleichterte die Welt.

Der Kreuzweg, kurz, eine hälbe Stunde uur,
aber lang und führersam genug, um der Menschheit
innern Saharasand zu entfernen, ruht auf Golgatha.

Hier erwartet er verewigendes Ende.

Die Höhe ist erreicht: Der Erlöser hät die Qual
getragen, nun trägt sie ähtt.

Zuckend gießen die Empfindungsbahnen seiner
Arme und Beine ihre glühenden Verletzungsströme
durch den hammergeschneHten Leib. Er dürstet
nach Liebem, nach Heilsbereitschaft. Er sieht !zu
seinen Füßen die dunklen Scharen der Unerlösten
und aus aller Zukunft und dürstet nach ihren Seelen.
Und niemand ist, der sie ihm gäbe.

Scbule

Von Otto Soyka

Selir viel liebevolles Interesse bringt die Gegen-
wart der geistigen MinderWertigkeit entgegen. Das
öffentliche Mitleid ist bei Öer Not der Dummen
ängelangt, die moderne Hilfsbereitsdiaft hät die
Grenzen des Verstandes übersdiritten; jene Ach-
tung vor dem Sdhwaclien, die sich’ in der Aera
der Humanität Anseben verschäffte, macht längst
vor den Geistessdhwachen nicht mehr Haft. Und

ak man zur Ansidht kam, daß Geistesarmüt nicht
schändet, hörte sie auch auf, verschämt zu sein.
Sie fordert heute bereits l'aut und herrisch Unter-
stützung. Die Reform der Schüile maclit sie zu
ihrer Sadhe und ruft nach der ErleiChterung im
Studium, die ihr naturgemäß das Erstrebenswerteste
sdheint. Und gegenwärtig ist der Geist der Zeit
gern bereit, sich nach den Wünschen der Geist-
lösigkeit der Zeiit zu ridhten.

Der Sdhufc und ihrem Leben gegenüber ist ein
klagender Ton, voll Wehleidigkeit und Sentimentali-
tät in Mode gekommen. Das Wort Sdhüler sdheint
förmlidh nach der Zusammensetzung mit Selbst-
mord zu verlangen, und die Kandidatur für diesen
Selbstmord mit jener anderen für die Matura aufs
Innigste verknüpft zu sein. Der zartfiihlende, lie-
benswürdige und ungemein sympathäsche Schwadh-
kopf ist zum Repräsentanten unseres Schüler-
tums ausersehen worden. Seine geduldige, erfolg-
löse Arbeit wird uns immer wieder zur Würdigung
entgegengehalten, auf Schritt und Tritt begegnen
wir in der Literatur seinem blassen, übernächtigten
Antlitz mit dem stets leidenden und anklagenden
Zug. Wird es nidht endlliCh gelingen, eine Schul-
type zu finden, die seine Gefühle nidht verletzt.
(Die Zahl der Noten mußte um seinetwiillen ver-
ringert werden, ein Teil jener Leistungsunterschiede,
die stets zu seinen Ungunsten bestanden, wird in
Zukunft nidht mehr zum Ausdruck kommen. Wird
man ihm zufiebe nicht bald ganz auf die Kritik
„Klassifikation“ Verzichten? Solange sie besteht,
sind „Elternliebe und Kunstinteresse“ bei ähm vor
Störungen nicht sicher, denn hier ist stets die Quelle
der vief unzarteren Empfindungen des Aergers und
des Neides für ihn. Die Härten der Schule sind
ein Behelf für den Lehrer und vielleicht entbehr-
liCh, was bedeuten sie aber nicht alles für den
SChüler! An diesen fand Öer EhrgeiZ seinen Halt,
hier war Gefegenheit zum Wettstreit, es durften
Siege und Niederlagen gefeiert werden. Was findet
niCht afles Raum zwischen iden wenigen Ziffern!
Wieviel vom ernsten Glück und Schmerz des Lebens,
Gefahren und Schwierigkeiten umspannen sie! Hier
birgt sich etwas von jenem schweren Ernst des
Daseins, der ein heißes Gfück empfindet, wenn er
ein KnopflbCh mit einem roten Bändchen schmücken
darf, von Öem Schicksalsernst des Beamtenlebens,
in welchem das Avanccment iiber Existenzen ent-
scheidet. Darf und kann die Schüfe auf diese Macht
verzichten? Kann isie sich den Ehrgeiz weiterhin
dienstbar machen, wenn sie ihm seine Ziefe, sein
rotes BändChen entzieht? Das Opfer, es wird den
Unfähigen gebraCht und auf Kosten des Eifers Öer
Fähigen. Vollständig hät man vergessen, daß die
Hauptsorge der Schufe dic Ausbildung eben jenes
SChüIers zu sein hät, Öer ihr keine Sorgen maCht.
Ein Treibhaus für kümmerlliche Geister, eine Wohl-
tätigkeitsanstalt fiir die Bedürftigen an Verstand
darf sie nicht werden. Es gibt nämlich auch Schüler,
die das Lehrziel inühelos ierreichen.

Manches an der SChuIe bedarf der Aenderung.
Es ist gewiß nicht vorteifhäft, daß das Recht zu
strafen, neben Öer Pfficht zu unterrichten in der
Hand des Lehrers fiegt. SChön deshalb nicht, weil
die Fähigkeiten der einzefnen Lehrer in der Aüs 1-
übung dieises Rechtes allzu verschieden sind. Der
eine stolpert unaufhörlich über seine Versuch’e, Dis-
ziplin zu halten, der andere ist ein Virtuose, ein
Zauberkünstfer des Strafwesens. Die Möglichkeiten
von KfassenbuCh, Karzer, Strafarbeit, |er läßt sie
nur so durcheinander wirbelü, vereinigt sie Zu den
schönsten und seltensten Effekten, gewinnt ihtten
nie geahnte Reize ab, und wird dadurch in seiner
Art, Schufe zu hälten, einseitig wie jeder Künstler.
Wenn das Disziplinarwesen an jeder Schüle einem
dazu eigetts bestellten Pädagogen unterstünde, der
es allein oder im Verein mit deüi Direktor zu iiber-
wachen hätte, wäre viefes besser.

Es würde vermieden, daß der Lehrer la'ng-
wierige Strafuntersuchüngen Zu fiihren hat, ünd
daß er in eigener Sadhe Ridhter ist; Öem Unterricht
wäre vief Zeit geWonnen und sCine Würde b'esser
gewahrt afs jetzt.

Eine höchst überffüssige Sache äst die Sitten-
note. Die Ungünstige bedeutet eine Unannehmfich-
keit, wie jede deutidhe Mißbilljgung, die män er-
fährt. Die Gute ist geradezu besdhämend. Ein
taktvoller Lehrer vvird es gewiß gern vermeiden,
einen begabten Schüler mit der besten Sittennote
blößzustellen. Der einzige Wert dieser Kritik des
sittfichen Betragens Iiegt darin, daß ein Ventil für
 
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