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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 11 (Mai 1910)
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Hauer, Karl: Weltbild
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [2]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0086

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fung der Individuen höherer Ordnung, der Zellver-
bände, die im neuen Wechselspiel der individuali-
sierenden und genialen Triebe zu immer höheren
Individualkomplexen fortschreiten. Die teilende
Zeugung entwickelt sich zur geschlechtlichen, der
geniale Trieb wird ein sexueller und endlich — in
der Schaffung der Qesellschaftsverbände — ein
sozialer. Je höher organisiert aber das Individuum
ist, desto mächtiger sind (der gleichfalls stärkeren
zentrifugalen Triebe wegen) die Instinkte des In-
dividuums in ihm, desto kunstvoller wird die
Kruste, in die es sich einschließt. Die Haut erhält
Bewegungs- und Schutzorgane, Greifwerkzeuge,
Stacheln, Haare, Qiftdrüsen, Nägel, Krallen, Hufe
und Zähne. Aber auch die Sensibilität raffiniert
sich. Die Haut erhält immer mehr und immer
feinere Sinnesorgane, sie wird fühlend, schmeckend,
riechend, hörend und sehend. Und als Intellekt
endlich wird sie ein geistiger Schutzpanzer, der den
körperlichen ergänzt und künstlich vollenden hilft.
Kleidung und Wohnung, Wall und Qraben, die
chinesische Mauer, die Festungsgürtel, die die
Reiche umschließen, sind künstliche Haut. Unsere
Werkzeuge und Waffen sind künstliche Hautorgane,
die Bahnen sind künstliche Beine, die Schiffe sind
künstliche Flossen, die Luftschiffe sind künstliche
Flügel, die Telegraphen und Telephone sind künst-
liche Augen und Ohren . . .

Der Intellekt ist nur gesteigerte Haut-
sensibilität. Er spiegelt die Welt nach der Optik
des Individuums und gibt diesem das Bewußtsein
des abgeschlossenen Ichs. Mit dem Ich-Bewußt-
sein aber ist die Inkrustation des Individuums voll-
endet. Der Intellekt schließt das Ich vom Nicht-Ich,
von der Welt, hermetisch ab. Und alle Reflexion
und Wissenschaft ist auch eine Bestätigung des
Ichs und Isolation des Individuums vom unmittel-
baren Zusammenhang des Qanzen. „Ich denke, —
also bin Ich!“ Die Intellektualität ist der letzte
Triumph des Atoms über das Universum. „Der
Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur,
sondern schreibt sie dieser vor“, sagt Kant mit an-
erkennenswerter Kühnheit — und stellt damit die
Welt buchstäblich auf den Kopf.

In Wahrheit jedoch ist der Intellekt ein Kerker
und das Individuum ein Qefangener im eigenen Ich.
Qenie aber ist das Durchbrechen und Zertrümmern
der Individual-Intellektualität, Preisgebung des
Ichs, Qehorsam gegen unbewußte Gewalten und
Verbrauch und Auflösung des Individuums im Leben
des Qanzen. Qenie ist — bildlich gesprochen —
das Individuum ohne Haut. Sein Wesen ist un-
mittelbar an die Welt angeschlossen und das Leben
der Welt flutet ungehindert hindurch. Während
das Individuum einen isolierten Teil der allgemeinen
Kraft darstellen will, ist das Qenie bereit, dem
Qanzen zurückzugeben, was des Qanzen ist.
Emerson nennt das Genie „eine Substanz von un-
endlichen Affinitäten“. Mit allem verwandt, wird
es von allem gelenkt und ist ohne Selbst. Selbst-
losigkeit (natürlich nicht im Sinne ethischer Qüte)
ist das Merkmal aller genialen Naturen. Alle, die
wir so gerne „Individualitäten“ nennen, waren und
sind von dem Empfinden erfüllt, daß sie von Ge-
walten gemeistert werden, die nicht in ihnen als
Individuen sind. Immer finden wir den genialen
Menschen im Dienste einer „höheren Macht“.
Diese höhere Macht zu erklären, ist die Velleität
seiner Individual-Eitelkeit. Moses und Mahomet
sind Sprachrohre Qottes, Dante ist der Visionär
supranaturaler Qesichte, Dichter und Künstler
lauschen den Musen und inneren Stimmen, Sokrates
gehorcht dem Daimonion, Napoleon wird von
seinem Stern geführt, Wallenstein von den Qe-
stirnen, Cromwell kommt am weitesten, „wenn er
nicht weiß, wohin er geht“, Ulrich von Lichtenstein
kämpft und leidet für Frau Venus, Robespierre für
die Qerechtigkeit, Galilei für die Wahrheit,
Washington für die Freiheit. Jeder nahm im
Drange, sich zu verbrauchen, die Aufgabe auf sich,
die die Umstände ihm zuwiesen. Das Individuum
in allen großen Männern ist uninteressant und der
„intime“ Napoleon bietet dem Psychologen weniger
als vielleicht der intime Kunz oder Müller. Alle
„Ausnahmsmenschen“ sind nur Beispiele für die
Verleugnung des Individuums unter dem Drucke
einer stärkeren Kraft. Casanova verführte die
Weiber und ward selbst verführt vom Weibe.
„Das Weib“ wurde seine höhere Macht, und indem
er sich im Dienste des 'Weibes verbrauchte, erfüllte
et seine „Bestimmung“ und gab sich dem All
zurück. Jede Selbstverleugnung ist in gewissem
Sinne Genialität und der Mensch der Passion gehört
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nicht minder zum Typus des genialen Menschen als
der Mensch der Produktion. Der eine wie der
andere erfüllt im gleichen Maße seine einzige Be-
stimmung, die im Individuum gebundene Kraft zu
lösen. Das Individuum sammelt und bindet die
Kräfte, das Qenie löst und verwandelt sie. Indi-
vidualität und Qenialität sind die beiden Phasen des
Lebens, die beiden Seiten desselben Phänomens.
Das Individuum ist die Voraussetzung und Vor-
stufe des Qenies. Es ist der Akkumulator der
Kräfte, die später — nach Generationen — im
Genie wirksam werden. Das Individuum ist latente
Elektrizität, Qenie ist Blitz und Entiadung, das In-
dividuum ist das Kapital des Lebens, Qenie ist
Verbrauch.

Die Aufeinanderfolge der Individuen in der ge-
schlechtlichen Zeugung ist ein System verzweigter
Evolution und das Qenie ist die Unsterblichkeit der
Individuen. Was vom Individuum stirbt, ist nur die
Haut, die Hülle im weitesten Sinne: das Ich. Nur
die dem einzelindividuellen Leben dienenden
Zellen des Individualkomplexes sind a priori dem
Tode geweiht. Jene Zellen jedoch, die zur Fort-
pflanzung des Individuums bestimmt sind, gehen
wohl in ungeheurer Majorität durch äußere Ein-
flüsse zugrunde, sind aber mit Unsterblichkeits-
möglichkeit ausgestattet. Die konjugierenden Ei-
und Spermazellen schließen die sukzedierenden In-
dividuen zu einer organischen Kette. Und durch
diese Kette der Individuen läuft die erworbene und
gebundene Kraft wachsend und schwellend dem
Meere zu, in das sie sich verlieren will. Das Qenie
ist als solches das letzte Qlied einer Kette und der
Erbe alles Erworbenen. Für das Qenie arbeiteten
die Individuen, das Qenie selbst erwirbt nichts und
arbeitet nicht. „In unseren höchsten Augenblicken
arbeiten wir nicht,“ sagt Nietzsche, „Arbeit ist nur
ein Mittel zu diesen höchsten Augenblicken.“ Im
Qenie verschwendet sich der Fleiß der Qene-
rationen, in ihm ist alles reife Frucht . . .

Alles ist verkettet. Es gibt in Wirklichkeit
keine Isolierung, kein Individuum. Das voll-
kommene, in sich abgeschlossene Individuum ist
ein theoretisches Schema, das nur im Individual-
bewußtsein existiert (und seinen exaktesten theo-
retischen Ausdruck im Fichte’schen Solipsismus
und in Stirner’s „Einzigem“ gefunden hat). Durch
die Poren jedes Individuums sickert das Qeschehen
der Welt und in jedem ist die ganze Vergangenheit
seiner Antezedenten lebendig und wirksam. Nur
die sterblichen Hüilen wurden von seinen Vor-
gängern abgestreift, die unsterbliche Kraft aber
wanderte von einem ins andere — und in jedem In-
dividuum reift etwas zur Frucht, was in anderen
nur Keim, Knospe oder Blüte war, und in jedem
sind Keime, Knospen und Blüten, die in anderen
Früchte werden können, in jedem ist ein Ver-
sprechen und eine Erfüllung. Aller Sinn des Lebens
liegt in der Kette und erfüllt sich an einem ihrer
vielen Enden, — denn jedes Qlied der Kette (aus-
genommen das erste und das letzte) ist Anfang und
Ende zugleich . . .

Vom Standpunkt des Individuums aus gesehen,
hat das Leben keinen Sinn. Es erscheint sodann als
grausame und unlogische Farce. Der Leidende
weiß nicht, warum und wozu er leidet, der Glück-
liche weiß nicht, warum sein Qlück endet. Schmerz
und Tod sind für das Individuum die beiden großen
Widersprüche des Lebens. In der Einverleibung
in die sozialen Qebilde findet das Individuum zuerst
eine Lösung dieser Widersprüche. Die Unter-
ordnung des Einzelnen unter das Wohl des Qanzen
als des höheren Individuums erklärt zum Teii die
Notwendigkeit des Leidens, und je fester das Qe-
meingefühl (der Egoismus des höheren Indi-
viduums) sich ausprägt, desto mehr schwindet der
Schutz- und Machttrieb des Einzelnen. Im Paro-
xysmus patriotischer Begeisterung geht das Indi-
viduum sogar freudig in den Tod. Das höhere In-
dividuum — die Polis — folgt seinen Individual-
und Qenietrieben auf Kosten des Einzelnen; es
schützt sich, wächst, erobert und teilt sich mit dem
erreichten möglichen Machtmaximum durch Zer-
splitterung oder Kolonisation.

Dennoch aber wird der Einzelne durch die Polis
nicht so völlig absorbiert, daß nicht immer wieder
jene Widersprüche sich geltend machten. Reli-
gionen und Philosophien unternahmen es, diese
Widersprüche radikal zu lösen. Der Trost, den sie
dem Individuum spenden wollten, bestand stets
darin, daß sie den Einzelnen an die Kette oder das
All anschlossen. In der ältesten aller Religionen,
im Ahnenkultus, liegt die Unterordnung des In-

dividuums unter das Leben der Kette. Da5
Schicksal des Einzelnen erklärt sich darin aus vef'
gangener, ererbter Schuld oder aus vergangenerf'
ererbtem Verdienst und der Tod erscheint durcl'
die Nachkommenschaft besiegt. Im Qlauben an dei 1
Uebermenschen — der jüngsten aller Religionen
wird das Individuum zum bewußten Kettenschmied
und lebt dem Enkelkultus. Das „tat-twam-asi“ def
alten Inder — die tiefste aller Religionen — lehd
den Zusammenhang des Individuums mit dem All'
Einen . . . Daß der Sinn des Lebens in der KetF
sich offenbart, und daß die Kette in das All mündet
dies ist der esoterische Inhalt aller Religion un<l
Philosophie. Das egozentrische Denken des In-
dividuums aber deutet diesen Inhalt in seinem Sinntf
um und versteht unter der Ewigkeit des Seins di« ;
— Personalunsterblichkeit. Qerade das Sterb-
lichste an ihm, seinen Hautsinn, das Ichbewußtseifl
will das Individuum als „unsterbliche Seele“ vof
dem Tode retten. Diese Seele aber stirbt in Wahr-
heit schneller als der Leib, der noch viele Stundeü:
zu leben vermag, wenn bereits jede Spur des per-
sönlichen Bewußtseins entflohen ist . . .

Aus einer Essaysammlung, die im Herbst bei Jahoda & Siegel, WieHi
erscheint

Daniel Jesus

Roman

Von Paul Leppin rortsetzun«

Baron von Sterben war ein sehr guter und auch
ein schlechter Mensch. Er wußte nichts davon-
In ihm tat das Gute alle jene edeln Capricen und
Feinheiten, die er selbst zuweilen an sich liebte, und
das Schlechte wurde gemein und schmutzig in seinef
Seele mit einer gewissen nachdrücklichen Besonder-
heit, die er oft nicht begreifen konnte. Er selbst
rührte keinen Finger zu dem allen. Er wehrte sich
nicht gegen das Arge in ihm und tat dem SchöneP
keinen Gefallen. Er war zwanzig Jahre alt und hatte
dem Leben bis auf den steinernen Qrund gesehn-
Und nun machte er eben alles mit, was eine eigene
und einsame Qebärde hatte, jedes Abenteuer, wenn
es kostspielig war, jede Sünde, die ihn noch schauern.
machte. Das heißt, er war es gar nicht, der das t
alles tat, es waren die Dinge selber, die ihr Leben
durch das seine trugen und durch ihn hindurch-
gingen wie durch eine offne Tür. Seine Seele tat
manchmal etwas, seine Hand oder ein Fremder.
Aber niemals er selbst, den er verloren zu haben
glaubte in den ungesunden Träumen seiner Knaben-
jahre. Er war ein passiver Mensch, mit dem die
Tage machten, was sie gerade wollten.

Er liebte Hagar, die junge Zigeunerin. Auf
einem Jahrmarkt vor der Stadt hatte er sie vof
einigen Wochen gefunden, wie sie den Leuten für
braunes Kupfergeld kindische Kapriolen schenkte.
Sie hatte ihm gefallen, weil sie mit bloßen Füßen
tanzte und klein und mager war wie eine Wildkatze-
Und als er ihr eine Viertelstunde zugesehn hatte, da
schüttelte ihn schon der Frost, und er wußte nun,
daß alles vergebens war und daß ihn sein armer, von
der Liebe gefolterter Leib zwingen werde, sie zU
besitzen. Sie hatte große und schmale Goldringe in
den Ohren, über die das Haar wie ein dunkler Vor-
hang fiel. Diese großen, dünnen Ringe bei blassen
Frauengesichtern waren sein Fetisch schon seit
Jahren. Es kam ein wilder, verregneter Vor-
frühlingstag, und seine Zähne schlugen im Taumel
aneinander. Er fühlte leise und hoffnungslos, daß
Qefahrvolles und Böses in den Augen Hagars lauerte,
und daß sein junges Leben darunter büßen werde
wie unter einer Rute. Aber eben das war ein
schwerer, siegender Zauber für ihn, dem er nicht
entrinnen konnte.

So wurde Hagar die Maitresse des Barons.

Stumm und staunend war sie damals mit ihm
gegangen. Sie begriff nicht recht, was sie mit ihm
beginnen sollte, der sie mit zuckendem Muride an-
sprach und über dessen verlebtes Qesicht das
Fieber wie der Wind über die Felder ging. Er
freute sich darüber, daß sie Hagar hieß, er hatte
diesen Namen schon in der Schule sehr lieb gehabt,
und das Schicksal dieses Weibes hatte ihn immer
gerührt wie das seiner Mutter. Jetzt war sie seine
Qeliebte geworden, und er führte sie in sein Haus-
Für hundert silberne Gulden hatte er sie einem
schmutzigen Komödianten abgekauft, der sie wohl
für zwanzig auch gegeben hätte, denn er waf
hungrig und hatte schon seit Tagen kein Fleisch
gegessen.
 
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