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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 6 (April 1910)
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Baum, Peter: Aus einem neuen Roman
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Kraus, Karl: Aphorismen
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Loos, Adolf: Ornament und Verbrechen
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Schickele, René: Tivoli-Vauxhall
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0048

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Und eines Tages kamen wieder einzelne
Freunde von ihr und saßen erwärmend am Kamin.
Sie hatten den Oeist des Verstorbenen so sehr be-
wundert, sein Genie und seine Freundschaftsfähig-
keit geliebt. Man wunderte sich, daß er, wenn auch
Ausgezeichnetes, so doch wenig gesungen hatte. —
Sie lächelte wehmütig: „Er war sehr lange gefühl-
voll über dem, was ihm einfiel. Daher kam er
immer erst spät dazu, an etwas Neuem zu sinnen.“
Ihr Sohn wurde hereingeführt. Die Damen um-
armten ihn flüchtig. Sie machte darauf aufmerk-
sam, wie sehr seine aufgeworfenen Lippen an den
Vater erinnerten. Auch vom Dichter hatte er eben-
falls etwas. Qestern meinte er, „die Mauern des
Schlosses sind so dick, daß Zwerge in den Schieß-
scharten Schlachten führen können.“

Eine junge Frau, die vom Qrafen einmal bei
einem Fest in ein verlassenes Zimmer und in einen
Armstuhl gelockt worden, zog ihn auf ihren Schoß
und umarmte ihn heftig, nicht auf die Zerknitterung
ihres Kleides achtend. Er aber hielt sorgfältig
seinen kleinen Degen in die Höhe. AIs sie ihn her-
unter ließ, machte er eine artige Verbeugung und
lehnte sich dann an die Mutter.

Sie beäugte die zärtliche Freundin durch ein
Lorgnon, und erzählte einige Fälle, wo sie sich über
des Grafen Qeschmack gewundert habe. Einmal
hatten sie gemeinschaftlich ein Mädchen verfolgt,
nur weil es einen kleinen Buckel hatte. „Das be-
geisterte ihn so.“ — Die Herren lachten.

Mutter und Sohn hielten sich umschlungen und
flüsterten. Er sagte, daß die Störche die kleinen
Kinder am Nabel aufgespießt trügen. — Die Damen
kicherten darüber hinter ihren Fächern.

Als man aufbrach, senkte sie den Blick und
klagte, wie sehr sie unter ihrer Verlassenheit leide.
Man versprach ihr tröstend, oft zu kommen. Sie
schüttelte traurig den Kopf. Sie weile am liebsten
allein. Dann fühle sie noch manchmal seine Nähe.

Nur die Dame, die den Jungen so zärtlich ge-
küßt hatte, verabschiedete sich kühl, weil sie keine
gewürzte Erwiderung gefunden hatte. Der Kleine
hingegen küßte und drückte innig ihre Hand.

Auf der Treppe meinten die Damen, daß sie
ihren Qemahl doch oft sehr gequält haben müsse.
Die Herren jedoch behaupteten, sie sei sehr gefühl-
voll. — Man hatte jetzt aber bald genug über den
Giäfen gesprochen.

Aphorismen

Von Karl Kraus

Es kommt nur darauf an, sich zu konzen-
trieren, dann findet man das Beste. Man kann aus
dem Kaffeesatz weissagen, ja man kann sogar im

Anblick einer Frau auf Qedanken kommen.

*

Philosophie ist oft nicht mehr als der Mut, in
einen Irrgarten einzutreten. Wer dann aber auch
die Eingangspforte vergißt, kann sehr leicht in den

Ruf eines selbständigen Denkers geraten.

*

Wer von Berufswegen über die Qründe des
Seins nachdenkt, muß nicht einmal soviel zustande
bringen, um seine Füße daran zu wärmen. Aber
beim Schuhfllcken ist manch einer den Qründen

des Seins nahegekommep.

*

Bildung ist das, was die meisten empfangen,

viele weitergeben und wenige haben.

*

Moral ist die Tendenz, das Bad mit dem Kinde
auszuschütten.

*

Daß Hunger und Liebe die Wirtschaft der Welt
besorgen, will sie noch immer nicht rückhaltlos zu-
geben. Denn sie läßt wohl die Köchin das große
Wort führen, aber das Freudenmädchen nimmt

sie nur als Aushilfsperson ins Haus.

*

Die Kinder würden es nicht verstehen, warum
die Erwachsenen sich gegen die Lust wehren; und

die Qreise verstehen es wieder nicht.

*

Wenn sich die Sünde vorwagt, wird sie von
der Polizei verboten. Wenn sie sich verkriecht,

wird ihr ein Erlaubnisschein erteilt.

*

Ich kannte einen Don Juan der Enthaltsamkeit,
dessen Leporello nicht einmal imstande war, eine
Liste der unnahbaren Weiber zusammenzustellen.

*

Wenn ein Denker mit der Aufstellung eines
Ideals beginnt, dann fühlt sich jeder gern getroffen.

Ich habe den Untermenschen beschrfeben; wer

sollte da mitgehen?

*

Vielwisser dürften in dem Glauben leben, daß
es bei der Tischlerarbeit auf die Qewinnung von
Hobelspänen ankommt.

*

Da ich las, wie ein Nachahmer das Original
pries, war es mir, als ob eine Qualle ans Land ge-
kommen wäre, um sich über den Aufenthalt im
Ozean günstig zu äußern.

*

Er hatte so eine Art, sich in den Hintergrund
zu drängen, daß es allgemein Aergernis erregte.



AIs die Mieter erfahren hatten, daß die Haus-
besitzerin eine Kupplerin sei, wollten sie alle kün-
digen. Sie blieben aber, als jene ihnen versicherte,
daß sie ihr Qeschäft verändert habe und nur mehr
Wucher treibe.

*

Wenn einer keine Jungfrau bekommen hat. ist
er ein gefallener Mann, er ist fiirs ganze Leben
luinicrt und hat mindestens Anspruch auf Alimente.



Ein modernes Kind lacht den Vater aus, der
ihm von Drachen erzählt. Es ist notwendig, daß
das Gruseln ein obligater Qegenstand wird; sonst
lernen sie es nie.

*

Es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, daß
der Nutzen des Verrats an mir geringer ist als der
Schaden meiner Verbindung.

*

Schein hat mehr Buchstaben als Sein.

*

Frage deinen Nächsten nur über Dinge, die du
selbst besser weißt. Dann könnte sein Rat wert-
voll sein.

#

Der Teufel ist ein Optitnist, wenn er glaubt,
daß er die Menschen schlechter machen kann.

*

Ein Gedankenstrich ist oft ein Strich durch
den Qedanken.

*

Ein Plagiator sollte zur Strafe den Autor
hundertmal abschreiben müssen.

*

Wer Aphorismen schreiben kann, sollte sich
nichf in Aufsätzen zersplittern.

*

Die Sprache sei die Wünschelrute, die gedank-
liche Quellen findet.



Der Ekel findet mich unerträglich. Aber wir
werden erst auseinandergehen, wenn auch ich von
ihm genug bekomme.

Als man dieser schnarchenden Qegenwart zu-
rief, daß einer zehn Jahre nicht geschlafen habe,
legte sie sich aufs andere Ohr.



Ich strebe inbrünstig nach jener seelischen
Kondition, in der ich, frei von aller Verantwortung,
die Dummheit der Welt als Schicksal empfinden
werde.

Es muß einmal in der Welt eine unbefleckte
Empfängnis der Wollust gegeben haben!

Ornament und Verbrechen

In der letzten Nummer des Ulk tst elne Qlosse,
„Der Ornamentenfelnd“, erschlenen, der slch
mit demVortragdesUnterzelchneten, „Ornament
und Verbrechen“, befasst. Ulk llsst ihn darln
In Form elnes Interviews sagen: Dle Barbaren
(die Anhänger des Ornaments) mfissen lebens-
llnglich eingesperrt werden — In weissgetünchte
Zellen.

Lieber Ulk!

Und ich sage Dir, es wird die Zeit kommen, in
der die Einrichtung einer Zelle vom Hoftapezierer
Schulze oder Professor Van de Velde als Straf-
verschärfung gelten wird. Adolf Loos

Tivoli-Vauxhall

Von Ren6 Schickele

Zu Paris, der Stadt der Menschheitswehn,
des ewigen Anfangs, in Tivoli-Vauxhall,
standen dreitausend Menschen dichtgedrängt.

Es roch nach Hunger, Krankheit und Begehren.

Wie durch trübe Dämpfe starrten in der Luft
hinauf zur rotbehangenen Tribüne
brennende, todblasse und zerfressne Mannsgesichter
und, in ihrem wilden Haar, halbirre Frauenköpfe,
Blicke, die sich streiften, schienen aneinander
aufzugliihn. Sie schauderten und wollten sich um-

armen.

Heißer Atem blies in jeden Nacken. Man war
eingepreßt in andre Leiber, die sich atmend
auseinander drängten und zusammenzogen.

Das war ein apokalyptisch Tier, zum Flug bereit
und riesenhaft, mit tausend Herzen glühend.

Die Stimme der im Trüben rotgeflammten Ferne

sprach:

„. . keine Lügen . . kein Erbarmen . . Recht
des Stärkern, der die Arbeit in der Welt verrichtet.
Mir gehört mein Werk . .

Kein Mitleid und kein Herzerweichen.

Es lebe der Krieg ! . .

Blut muß Qott geopfert sein: unserm Qeist

und dem unsrer Kinder. Alle Menschen verbluten

täglich, langsam, in den Freuden, in den Schmerzen,

Wir werden unsre Signale haben,

die langen Märsche, die Zusammenstöße,

wo der Mensch seinen heimlichen größern Qeist

gebärt,

seinen Qott, dcn uralten, in den Qewittern
schreienden Gott! . .

Es wird unser Krieg sein

und unser eignes ehrgeiziges Werk.

Keine Traurigkeit! . .

Menschen müssen als Helden sterben,
damit andre in ihrem hohen Schatten wachsen,
der Notdurft entwachsen und Qott, dem Qeiste
zu, für den wir die großen Worte fanden,
die großen Bilder

in jahrtausend alter Sehnsucht . .

So kommt in ewigen Minuten

unser eignes Bild sieghaft uns entgegen.

Alle's Fleisch muß untergehn,
doch dies ist unser Q e i s t . .

. Es lebe die Freiheit,
die des einen Kräfte
an die des andern bindet,
daß ein jed Geschlecht
im freien Wettbewerb
sein Parthenon errichte . .

Freiheit; allen Ehrgeiz weckende,
kraftentzückende,
krafterfüllende,
sehnsuchtreckende

nach der Vollendung dieser unsrer Hände,
dieses unsres Herzens . .

. . EslebedieSchönheit,

die aus der Sehnsucht nach Vollendung steigt,

wie ein Stern aus Abendnebeln . .

Seht. die Schönheit ist ja nichts,

als die sich Iächelnd spiegelnde Natürlichkeit.

Es lächelt, wer sein Werk verichten kann.

Das weiß ein jeder,

der einmal über seiner Arbeit sann . .

Eslebeder Ehrgeiz, detn Geiste zu

d i e n e n.

Verflucht sei, wer beherrschen will . .

Die Sklaven befreien sich!

Es sind Könige genug in ihrer Mitte,

sehnsüchtige Schönheit, Glauben, Sitte

und die Gerechtigkeit, die unsre Kränze flicht . .

In u n s r e r Arbeit werden wir u n s r e Herren sein,
herztoll und heiter.

Blickt der eine dem andern ins Gesicht,
spiegeln wir einander: die Menschen . .“

Zu Paris, der Stadt der Menschheitswehn,
des ewigen Anfangs, in Tivoli-Vauxhall
standen dreitausend Menschen dichtgedrängt.

Die Stimme in der Ferne brach.

Dreitausend Menschen schrien und weinten.

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