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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 46 (Januar 1911)
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Bang, Herman: Honoré de Balzac
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0369

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Umfang acht Seiten Einzelbezug 10 Pfennig

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524 / Anzeigen-Annahme
Hannover Artilleriestr 15 und Berlin W 35 Potsdamerstr. 111

Herausgeber und Schriftleiter:

HERWARTH WALDEN

Vierteljahresbezug 1,25 Mark / Halbjahresbezug 2,50 Mark /
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeiie 60 Pfennig

JAHRGANG 1911 BERLIN/ SONNABEND DEN 14. JANUAR 1911 / HANNOVER NUMMER 46

INHALT: HERMAN BANG: Honore de Balzac /

PAUL SCHEERBART: Der Kaiser von Utopia / MY-
NONA: Der zarte Riese / KURT HILLER: Notizen /
RENE SCHICKELE: Lektüre / HERMANN SELKA:
Rachel / MAX BROD: Berlin für den Fremden / J. A:
Kunst für Alle / Beachtenswerte Bücher / MAX FRÖH-
LICH: Die Gerte / Zeichnung

Honore de Balzac

Von Herman Bang

Ist es notwendig, von Balzacs Leben zu sprechen?
Die Schriftsteller haben ihr Schicksal wie die Bücher,
sogar nicht immer dasselbe. Denn während es einige
Dichter gibt, deren Bücher bekannt und geliebt sind,
deren 1 jben aber verhältnismässig unbekannt ist, gibt
es wieder andere, deren Leben bekannt ist, obgleich
ihre Werke unbekannt sind. Alle kennen wir Byron —
wie viele kennen seinen Manfred? So steht es auch um
Balzac. Sehr wenige haben seine „Verlorene Illusionen“
gelesen, alle kennen seine Schulden, seine Extravaganzen,
seine Sorgen, seine wunderlichen Phantasien, die an
seinem Unglück schuld waren und ihn zugleich darin
trösteten. Alle, kurz gesagt, haben wir Geschichten

aus jenem seltsamen Leben gehört, das bizarr und

verwirrt war wie eine Phantasie von Beriioz und das
uns zuweilen wie ein sehr mächtiger Beweis für die
eigene Behauptung des Dichters erscheinen kann, dass
das Genie die fur'chtbarste aller Krankheiten ist. Ernst-
haft gesprochen, wer wird wohl sagen können, wo die
Vernunft in diesem Leben aufhörte und wo die Krank-
heit begann ?

Niemand wird das können. Aber vielleicht haben
jene auch nicht ganz unrecht, die das Genie eine

gefährliche Krankheit nennen, wenn Fieberphantasien

zu grossen Visionen werden und Hallunzinationen in
blenden Werken aufleben.

Was Balzac geschildert hat, ist das Frankreich der
Restauration und der Orleans — eine jmüde und er-
schlaffte, eine krankhaft gejagte, allzu übersättigte
Gesellschaft. Wenn auch Balzac kein Geschichts-
schreiber ist und oft die grellen Farben des tRoman-
schriftstellers gebraucht, so haben doch viele andere
die damalige Gesellschaft ebenso düster gesehen und
sie ebenso grau gezeichnet wie er.

Ueberdies, man wird nie so berühmt und fso
gelesen in seinem Vaterlande wie Balzac, wenn man
unwahr malt— allerdings vielleicht auch nicht, wenn man
allzu wahr malt: die Leser werden immer gleichzeitig

wünschen, das Wahre an dem Bilde zu erkennen, und
doch, wenn sie sich von der Wahrheit geschlagen
fühlen, sich hinter ihren Uebertreibungen verstecken
zu können Darum wird der Schriftsteller immer der
gelesenste sein, bei dem die Uebertreibung die Wahr-
heit zugleich hervorhebt und deckt Aber Balzac hat
vielleicht nicht einmal so sehr übertrieben, als man
glauben könnte.

„Unsere Sitten haben keine Festigkeit,“ sagt Ler-
minier in einer Schilderung derselben Zeit, „wir sind
Kinder eines flüchtigen Uebergangszustandes: Erben
zweier Revolutionen, sind wir ohne Begeisterung und
ohne Geschmack an neuen politischen Bewegungen
Ein Gutes. — Aber leider — und das ist unsere
Schwäche haben wir noch keinen moralischen Ruhe-
punkt, kein soziales Gieichgewicht gefunden. Die
Traditionen, Ideen und Meinungen der französischen
Gesellsehaft, alles liegt in einem endlosen Chaos, das
wohl von einzelnen aufblitzenden Lichtern erhellt wird,
aber noch ohne Harmonie und ohne Ordnung — sie
zu schaffen wird das Werk der Zukunft sein.“

„Wo soll man sich hinwenden? Woran und wem
soll man glauben? Die Jugend findet nichts, dem sie
ihren Glauben und ihre Bewunderung schenken kann,
und darum missbraucht sie ihre schönste Zeit in inhalt-
losen Zerstreuungen Die lebhaftesten ironisieren das
Leben, bevor sie es kennen, aber diese allzufrüh ent-
wickelte Ironie hat nur allzu traurige Konsequenzen.
Wenn die Jugend nicht mehr stark und begeistert für
etwas fühlen kann, geht sie in kleinen Verirrungen zu
Grunde. Die Vernünftigsten sind von der ganzen
Berechnung der Frühreife gezeichnet, und sie wundern
sich, in ihrem zwanzigsten Jahr noch ohne Steilung
und ohne Einfluss zu sein; in ihren Augen hat ihre
Mitwelt nur einen Fehler, ihre Verdienste allzu lang-
sam zu belohnen. Sie proklamieren ganz ungeschminkt
und ganz frei den Egoismus.“

Diese Schilderurig ist nicht erfreulich, aber da
Taine mehr als einmal zu demselben Resultat kommt,
muss man sie wohl für wahr halten. Eine verpfuschte
Zeit, in der die Gesellschaft ohne an etwas ausserhalb
ihrer selbst zu glauben, auch nicht an sich selbst oder
an die Zukunft glaubt. Ein Geschlecht, das wie jeder
der es aufgegeben hat, an gewisse Ideen zu glauben,
in einen zügellosen Kampf für das Materielle und für
den Augenblick versinkt, Menschen, denen die grossen
Probleme nur zu gedankenlosem Spiel ohne tieferes
Interesse dienen. Die älteren von persönlichem Ehr-
geiz und persönlichen Zielen ausgefüllt. Die jüngeren
ohne Aufgaben, an denen sie ihre Kraft erproben
könnten, zu einer Untätigkeit gezwungen, die mehr als
irgend etwas anderes das Helotentum anklagt, zu dem
die Restauration die Jugend verurteilt hatte. So sieht
— nach dem Urteil von Franzosen — die französische
Gesellschaft aus, die Balzac schildern will.

Häckel hat irgendwo in einem seiner Bücher eine
lebendige Schilderung des Kampfes gewisser blatt-

fressender Insekten um die Existenz und das Leben
entworfen. Balzacs „Menschliche Komödie“ erinnert
mich oft an diese Schilderung, und vielleicht wäre es
nicht unrichtig, zu behaupten, dass Lucien de Rubenpres
Dichter ein Darwinist ist, der Darwin nicht kennt.

Die Gesellschaft in ewigem aufreibenden Kampf
das malt Balzac Der Kampf ums Dasein ist der
ständige Gegenstand seiner Bücher: seine Frauen lieben,
seine Männer begehren und leiden, aber alle werden
sie von dem reissenden Strom des Existenzkampfes
mitgerissen. Man vergleiche Balzac mit Dumas.
Dumas’ Personen sind entweder Philosophen oder
Liebhaber oder Geseiischaftsmenschen oder Abenteurer,
aber sie leben stets von ihren Renten oder — von
der Luft

Und nun bei Balzac: auch Rastignac ist ein halber
Philosoph, auch er konversiert wie ein Meister, geht am
Tage in Gesellschaft und verbringt seine Abende in
der Oper, aber unter der talentlosen Oberfläche ver-
birgt sich ein rastloser Kampf, sich oben zu erhalten
und weiterzukommen. Einer gegen alle und alle gegen
einen, geballte Hände, sich vorwärts drängen! Wie ein
grauenvoller Schiffbruch beinahe, wo man, um sich
selbst zu retten, unbarmherzig seinen Nebenmann in
die Tiefe drängt und ihn ruhig sinken sieht.

So malt Balzac seine Gesellschaft; als einen un-
endlichen tragikomischen Kampf sieht er die „Mensch-
liche Komödie“, wo in fieberhaftem Geivühl Typen aus
allen Gesellschaftsschichten vorübereilen, von dem all-
bezwingendem Dämon Egoismus getrieben. Und fast
alle diese Gestalten sind gleich wahr. Denn der
Dichter stand selbst im Kampf, er hat ihn selber ge-
kämpft und andere ihn kämpfen sehen. Und wenn
er heimkommt, und in der Stilie der Nacht, in die
weisse Kutte der Dominikaner gekleidet, sich sammelt
und sich zu erinnern sucht, steht alles mit unendlicher
Genauigkeit vor ihm. Balzac, und das ist seine
Grösse, hat seine „Menschliche Komödie“ kraft

seiner Erinnerung an das Leben geschrieben: darum
ist unter seinen Personen keine, die nicht lebt, und
keine, die wir nicht erkennen.

Man hat behauptet, dass es die Frauen waren, die
Balzac berühmt machten. Vielleicht hat man recht
gehabt. Die Liebe hatte ja der zwanzigjährigea Frau
gehört. Liebe war einst Jugend und Frühling ge-

wesen. Die Dichter hatten ihre Romane über die

Frauen geschrieben, die keine Romane lesen, sondern
sie erleben wollen, und sie zu Heldinnen gemacht, die
im Leben Ieben und nicht in Büchern besungen werden
woilen. Nun kam Balzac und erzählte, dass der

Sommer die Zeit der wahren Liebe ist; und wenn
unsere Schwärmerei dem Frühling gehört, so gehört
unsere Leidenschaft dem Sommer: er hat uns von der
Frau von dreissig Jahren erzählt.

Und alle die lange vergessenen dreissigjährigen
Frauen bewunderten ihn, der den Mut besass, zu
sagen, dass auch sie ein Herz und eine Geschichte

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