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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 6 (April 1910)
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Scheu, Robert: Das Problem der Provinz
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Soyka, Otto: Tugendkurs
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [2]: Ueber die Musik
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Baum, Peter: Aus einem neuen Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0046

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lacht über die Märtyrer, weil sie alles Martyrium
in materielle Formen umzumünzen wußte und die
Romantik bei den Miliionen ist. Der Mangel an
Besitz ist eine sichere Promesse auf Beiseite-
schiebung, über die man auf die Dauer nicht er-
haben sein kann. Unter dem Passatwind ist es
eine Oeschmackssache, ob man mit oder ohne Besitz
leben will. Uns Kulturmenschen ist kaum mehr
die Wahi gelassen, weil die Abwehr der Unfreiheit
immer kostspieliger wird, weil die Armut immer
gewisser mit Unreinlichkeit und Einfalt ver-
knüpft ist.

Wer ermißt die Tragweite dieses Umsturzes?
Werden wir uns anpassen, werden uns neue Kräfte
zuwachsen, werden wir in der wilden Jagd ver-
dursten? Oder wird sich endlich ein Gleich-
gewicht einstelien, oder die Besinnung siegen?
Können — wollen wir überhaupt noch zurück?

Inzwischen gewinnt unter dem Eindruck dieser
alarmierenden Erkenntnis der Kampf ums Qold an
Schärfe und Bitterkeit. Die Spannung ist recht
unerträgiich geworden, seitdem auch die geistigen
Menschen ihr Erbteil so dringend reklamieren.
Jene großen Zentren sind der Schauplatz der gol-
denen Schlacht, ziehen alle Güter an sich, aber auch
die Mehrzahl der qualifizierten Menschen. Schön-
heit und Genie spielen ihre Trümpfe aus — ein
gigantisches Werben! Inzwischen entblößen sich
die Mittelstationen. Daraus erklärt es sich, daß
die Provinz an Luxuserscheinungen verarmt, weil
eine heimliche Auslese sie wegzieht. Frauen-
pracht, hohe Blüte der Kunst und der Ruhm sam-
meln sich auf der Wahlstatt der höchsten Chance.
Die Provinz hat ihren autochthonen Bestand abge-
geben und füttert damit beständig jenen geheimnis-
\ollen Moloch, in dessen smaragdenen Gärten alle
Regenbogen flammen.

Tugendkurs

Von Otto Soyka

Die Einschätzung menschlicher Fähigkeiten
wechselt; auch die Tugend hat ihren Kurswert.
Und dieses Kursblatt, das öffentliche Meinung ge-
nannt wird, zeigt starke Schwankungen in der No-
tierung des menschlichen Tuns.

Die dominierende Ttigend des Altertums war
physische Kraft; sie wurde gepriesen, ihre Besitzer
hatten das Heldentum monopolisiert. Heute? Kraft
ist ein Gebrauchsartikel geworden, der aus der
Spannung des Dampfes, der Elektrizität im ge-
waltigen Strome fließt. Das bißchen Menschenkraft
imponiert nicht mehr. Wer je einen Dampfhammer
bei der Arbeit gesehen hat, kann schwerlich von
homerischen Hieben schwärmen. Einen Türken in
zwei Teile spalten, die exakt zur Rechten und zur
Linken niedersinken — eine Kleinigkeit! Das macht
bei entsprechender Einrichtung ein winziger Dy-
namo. Die speziell menschliche Kraft besitzt ja
noch ihren Raritätenwert; bei Sportwettkämpfen
oder im Zirkus; aber im allgemeinen hat sie nach
der letzten Volksschulklasse aufgehört, für den Zeit-
genossen von Bedeutung zu sein.

Heute besteht im Reiche der Vorzüge eine
merkwürdige Doppelherrschaft. Die geistigen
Fähigkeiten, Intelligenz und Talent, haben eine Art
Scheinkönigtum. Erst ihr offizielles Siegel liefert
einen Menschen der hergebrachten Verehrung und
dem unausweichlichen Nachstreben aus — aber
wirklich regierende Tugend ist zweifellos das Geld.
Und mit Recht. Es trägt alle Lasten, erfüllt alle
Pflichten einer Tugend; es schützt seinen Besitzer
vor schlechten Situationen, gibt dessen Anhänger-
schaft Sicherheit und Macht, es ist selber reine
Macht, Macht zum täglichen Gebrauche. Mit all
diesen Leistungen ist es vollständig an die Stelle ge-
treten, die friiher von den Beuge- und Streck-
muskeln der Arme und Schenkel eingenommen
wurde. Aber noch steht es in der Anerkennung
hinter diesen zurück. Geld ist eine offiziell nicht an-
erkannte, eine arme Titulartugend ohne moralisches
Einkommen. Der praktische Respekt, den es er-
zwingt, wird mit Vorbehalt gegeben. Ehrlich ein-
bekannte Verehrung, Jugendbegeisterung, beide erst
der eigentliche Purpur herrschender Tugenden, wird
ihm vorenthalten.

Und hier läßt sich ein Wandel prophezeien.
Auch die Geistesverfassungsfragen einer Zeit sind
in letzter Linie Machtfragen. Die Macht der Vor-
ziige des Geldes wird sich alle Rechte dieser Vor-

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züge erzwingen. Der Name Tugend ist ein solches
Recht. Das Geld wird die Jugendverehrung und
die dichterische Verherrlichung erobern, wie Tapfer-
keit, Kraft und Größe der Leidenschaft sie erobert
haben.

Die sind ein letztes Honorar der Mitwelt für eine
praktische Leistung, für gewährten Schutz und Vor-
teil. Das Geld wird seinen moralischen Rang er-
zwingen; es ist die verherrlichungsreife Tugend von
morgen.

Vom Standpunkt des persönlichen Verdienstes
ist wenig einzuwenden. Selbsterworbenes Geld ist
Intelligenz, umgesetzte, kinetische Intelligenz. Und
Nichterworbenes? Die vielgepriesene Kraft eines
Achilles war sicher kein größeres Verdienst, als die
vielmißgönnte der Erben eines Vanderbilt.

Es wird eine verläßliche Tugend sein, eine,
deren Vererbungstheorie nicht angreifbar ist, so-
lange sie das bürgerliche Gesetzbuch schützt. —

Die letzte Aenderung im Range des Reichtums
vollzieht sich unmerklich. Die Phrasen und Rede-
wendungen, die kleine Münze des täglichen Ver-
kehres, sie tragen ohnehin das Bild des wirklichen
Regenten im Bereiche menschlicher Achtung: Klin-
gende Münze ist ein Anerkennungswort auf allen
Gebieten, Gold ist der ehrendste Vergleich für
Stimmen, Sonnen, Sterne, Weine, Schatz ist eine
selbstverständliche Bezeichnung für die geliebte
Person. Nun wird man mit derselben Selbstver-
ständlichkeit dem wirklichen Geldschatze die Liebe
zuerkennen. Im Worte Geldaristokratie verliert
die erste Silbe die Betonung. Nicht mehr die Mütter
werden rühmen, nein, die Töchter werden
schwärmen. Das ist stets ihre Betätigung gewesen,
gegenübcr der letzten Neuheit am Tugendmarkt.
Das war noch eben das Genie, das wird in kurzem
der Reichtum sein. Bald werden sich die Attribute
süß, entzückend, herrlich an den Besitzer des Geldes
knüpfen. Auf eine Erbschaft zu warten wird ein ge-
achteter bürgerlicher Beruf bleiben, Erben ein
angebeteter.

Die Höchstachtung der Menschheit hat schon
einen weiten Wcg, den von der physischen Kraft
zur geistigen, zurückgelegt. Er ist kaum kleiner als
der von der Persönlichkeit zu ihrem nicht-
organischen Besitz. Eine neue Tugend ist im An-
marsch, und auch diese wird niemand aufhalten.

Qespräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Yon Alfred Döblin

Zweites Gespräch: Fiötentöne und
Geschrei

(Flötentöne hinter der Düne. Eine Sänfte, über-
wölbt vom dunkelblauen Baldachin, taucht hinter
einem Hügel auf, bewegt sich sehr langsam
gegen das graugrüne Meer zu. Die Stangen der
Bahre ruhen auf den Rücken von vier Riesenschild-
kröten, die sich gemächlich fortschieben. Auf der
Decke des Baldachins sitzt ein weißbärtiger, greiser
Pavian, lenkt mit zwei goldenen Ketten die vor-
deren Schildkröten. In der Sänfte liegt ein Weib,
nalb aufgesetzt, die Hände hinter der schweren
Haarpracht des Kopfes gefaltet. Voile regelmäßige
kalte Züge; ernster leerer Blick, elfenbeinfarbene
Haut. Unter der blaugn Tunika, die breit mit
schwarzer Seide durchwirkt ist, tritt die Reife des
Leibes hervor. Um den bloßen Hals hängen Perlen-
schnüre, deren Weiße der starblinder Augen
gleicht. Goldgelbe Sandalen der Füße; eine Kette
um den Knöchel des linken Fußes. Dies ist Kaiypso
Aia Ö-sawv. Hinter der Sänfte taumelt ein Mann,
zerlumptes Maskenkostüm, vielleicht hellenisch;
stumpfer Gesichtsausdruck, verwildertes Haar,
hängender Schurrbart. Durch die Nase ein Eisen-
ring, daran hängt frei bis auf den Boden ein Strick.
Von dem Vogelvolk folgen einige mit Flöten. Lange
auf- und absteigende Flötentöne; bisweilen eine
Art Abschluß mit Triller. Sie sind dicht am Wellen-
schlag. Kalypso klatscht in die Hände. Die Sänfte
hält. Die Schildkröten ziehen sich in ihre Schale
zurück. Die übrigen hüpfen zur Seite, legen sich
hinter Balken und Sandhaufen. Der Mann, der Mu-
siker, bleibt unbeweglich, ohne aufzusehen stehn.)
Kalypso:

ihn betrachtend, lächelt.) Wie nennst Du Dich?
Musiker:

(Unbewegt, schweigt.)

Kalypso:

Sprich doch zu mir.

Musiker:

Wo ist meine blonde Freundin? Wo sind mein (
Freunde?

Kalypso:

Ich kenne sie nicht.

Musiker:

(Steht wieder abwesend da.)

Kalypso:

(Nimmt den Strick lächelnd in die Hand, spiel*
mit ihm.)

Musiker:

(Zuckt, beißt die Zähne zusammen; vor sich hiil'
sprechend.) Ich frage nichts, ich will es ja gu'
meinen mit meinem Kopf; ich will es ja gut • >
meinen.

Kalypso:

(Dozierend.) Unser Strand ist ein weitoffenes Maul;
Was ihm zufällig nah kommt, schliirft er ein. Sind
es Menschen, so drehen wir ihnen teils den Hals uirt
teils plaudern wir vorher mit ihnen.

Musiker:

(Stürzt sich aufglühend auf sie, die ihn gewährei 1
iäßt, ihn mit halboffenen Augen kalt beobachtet.)
Kalypso:

Nun leg Dich wieder in den Sand.

Musiker:

(Verzweifelt.) Ich will es gut meinen mit meinert 1
Kopf.

Kalypso:

Nun? Du bist auf der Insel der Kalypso.

Musiker:

Laß mich heim, ich fleh’ Dich an. Wenn nur eifl
Hauch von Mitleid in Deiner Brust weht, Du Unbe-
greifliche, laß mich fort von Deiner Insel. Du fühls 1
nicht, was mir geschah. Laß mich fort, jetzt odef
bald, bald. Ich will geduldig warten, was Du übef
mich verhängst.

Kalypso:

(Aufbrausend.) Geduld Du? Oh ich will Did 1
schweigen lehren. (Klatschend, laut rufend) Ho, ho !
In die Tore. Du kommst, ich schone Dich, und schort
wimmerst Du? Hund, Hund. (Die Vogelleute auf'
gescheucht, machen sich an einer niedrigen KliPP e
zu schaffen, an der ein schwarzes Eisentor ange'
bracht ist. Sie flüstern sich zu: — „verspieK
Gönn’ es ihm. Ist brav, Freundchen, gehst hineirt'
hüpfst hinaus. —“) An der Qual sollst Du Deirt
Heimweh stillen. Deine Mutter, die Pein un^
Angst, soll Dich streicheln. (Schüttelt ihn mi*
bitterem Munde. Aus dem offenen Tor dringt nurt
schwerer Qualm. Der Musiker wirft sich auf di^
Erde. Die Vogelleute, einige mit schmerzlichefrt
Murren, andere mit höhnischem Grinsert'
zerren ihn, binden ihn auf den Rücken einer Schild'
kröte fest, die ihn bis an das Tor trägt. Kurz vof
dem Tor reißt er sich los und folgt aufrecht KalypsO'
Die Tiere und Begleiter sträuben sich am Eingang'
stellen sich auf, werfen sich halb erstickt an dert 1
Tore hin, bleiben dort liegen. Kalypso geht hineirt*
das Seil des Mannes um den rechten Arm g e'
wunden. Die Flöten blasen von neuem. Ein kurze 5
Schreien aus dem Tore verstummt bald.)

Aus einem neuen Romart

Von Peter Baum

Das erste Kapitel

Keiner wußte etwas Näheres über die plötg'
liche Schwermut und den jäh darauf erfolgten To^
des Grafen Ariman. AIs er eines Tages in d el1
ihm zugetanen Kreis trat, war sein Gesicht wi e
Schneewehen. Seine Worte, die treffend, wie g e'
wöhnlich, einsetzten, wankten, bis sie die Krückert
fortwarfen und schluchzend zusammenstürztert'
Man erfuhr danii ferner kurz darauf, daß er sid 11
vergiftet hatte. Der Diener fand das zierliche Glä 5
mit der gänzlich berauschenden Flüssigkeit nebert
der Leiche. Mit einer ihm unwürdigen RücksichtS'
losigkeit gegen seine Gemahlin benutzte der Gr3>
einen den Körper indiskret zeichnenden Trank,
daß auch der Arzt die Selbsttötung bestätige 1]
mußte. Der Leichenzug glänzte violette Seide un<*
weißen Atlas in die Sonne.

In der Kirche, in der man den Toten beisetzt e'
wurde viel geflüstert. Man lächelte und blickt e
gleich wieder traurig. — Graf Ariman war eif
Dichter. Seine klangvollen Verse hatten nur ein el1
 
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