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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 3 (März 1910)
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Kraus, Karl: Das Ehrenkreuz
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Rittner, Tadeusz: Vegetation
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0022

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herum. „Dadurch erregte sie bei den Qästen —“
ja, was glaubt man, hat sie dadurch bei den
Qästen erregt? Nicht das, was man glaubt, son-
dern im Qegenteil: Aergernis. Und wenn ein Freu-
denmädchen bei den Gästen eines Freudenhauses
Aergernis erregt, dann ist es wohl höchste Zeit,
daß die Staatsanwaltschaft einschreitet. Tatsäch-
lich wurde das Mädchen wegen einer Erregung, zu
der sie nicht befugt war, angeklagt. Der erste
Richter sprach sie frei. Er sagte, das Militärjubi-
läumsehrenkreuz sei kein Orden und das Aerger-
nis sei bloß ein solches Aergernis, das von der Po-
lizei zu ahnden sei. Damit gab er freilich zu, daß
das Mädchen schuldig gewesen wäre, wenn sie
etwa den Takowaorden getragen hätte. Es liegt
nun zwar auf der Hand, daß das unbefugte Tragen
eines Ordens vielleicht einen Journalisten, aber nie
eine Prostituierte strafbar machen kann. In Wiener-
Neustadt jedoch scheint die Frauenbewegung be-
reits derartige Fortschritte gemacht zu haben, daß
man dort beide Geschlechter in gleichem Maße der
Ordensstreberei für fähig hält. Immerhin sagte der
erste Richter, ein Jubiläumskreuz sei kein Orden.
Aber der Staatsanwalt war anderer Ansicht, er be-
rief, und das Landesgericht verurteilte dieAngeklagte
zu zwanzig Kronen Qeldstrafe. Ein Jubiläums-
kreuz, sagte das Landesgericht, sei als Ehren-
zeichen jedem Orden gleichzustellen. Und als be-
sonders erschwerend nahm der Gerichtshof „das
Tragen des Kreuzes im Freudenhause“ an. Als
die Angeklagte gefragt wurde, was sie sich dabei
gedacht habe, gab sie zur Antwort: „Nichts“. Aber
diesmal nützte die Antwort nichts. Denn eher noch
dürfte sich ein anständiges Mädchen die Prostitu-
tion anmaßen als eine Prostituierte das Ehren-
kreuz. Welche Entschuldigung hatte sie? Ein
Zivilist, sagte sie, habe es ihr geschenkt. Er war
nobel und gab ihr das Ehrenzeichen als Schandlohn.
Aber dann hätte sie es eben in den Strumpf stecken
sollen. Das Tragen eines Ehrenzeichens im Freu-
denhause steht nur dessen Qästen zu, und wenn sie
dadurch das Aergernis der Mädchen erregen soll-
ten, so würden sich die Mädchen einer strafbaren
Handlung schuldig machen. Qibt aber ein Gast
einem Mädchen statt zwanzig Kronen ein Ehren-
kreuz, so darf sie das Ehrenkreuz nicht tragen oder
muß die zwanzig Kronen dem Gericht geben. Denn
dic Justiz ist eine Hure, die sich nicht blitzen läßt
und seibst von der Armut den Schandlohn einhebt.

Vegetation

Von Thaddäus Rittner

1

Koko aß die scharlachrote Frucht ohne Namen
(die mir vor zwei Monaten so imponiert hatte) und
war ganz bei der Sache. Ich erzählte ihm fieber-
haft von den lokalen Eigentümlichkeiten; er schaute
mich gar nicht an. Er spuckte mit aufregender
Routine die Kerne aus.

So war er.

„Der Ort ist eigentlich nicht entdeckt —“ sagte
ich, um den brutalen Kerl außer sich zu bringen.

Aber er war nicht zu betäuben.

„Die Engländer sind überall,“ bemerkte er, und
sein wurstiger Ton entjungferte gleichsam das
Land.

Ja, die Engländer waren da. Wir befanden uns
in einem Cafe und rasierte Kellner bedienten.

„Wir schwimmen einsam im Stillen Ozean,“
sagte ich noch.

Ich haßte ihn.

„Alter Knabe,“ lächelte ich verlegen und schiug
ihm gleichsam gerührt auf die Schultern.

Ich tat, als wäre ich überglücklich, daß ich ihn
hatte. Schließlich war ich ja sein Freund.

Die eingeborenen Mädchen wußten alle, daß
Koko mein Freund war — und sie freuten sich auch,
daß ich ihn hatte.

2

Ich war schon zwei Monate auf der Insel;
Koko erst einen Tag. Aber er war besser infor-
miert. Das w'ar vorauszusehen.

„Hier sind zwei Cafes,“ stcllte er fest, „und du
kennst natürlich das schlechtere.“

So gingen wir gleich in das bessere.

„Du darfst nicht glauben, daß ich dein Cafe
nicht gekannt habe,“ sagte ich mißgestimmt.

Jetzt spazierten die feinsten wilden Mädchen
vorüber, und Koko nahm sie mit den Augen.

„Das haben sie nicht gern,“ ermahnte ich ihn.

„Kii — lii — ankja thi — hej,“ sagte eine und
lachte mich an.

Sie ging ganz nahe an Koko vorbei, aber ihn
traute sie sich nicht anzulachen (weil er erst einen
Tag hier war). Sie schielte bloß ein wenig nach
ihm.

„Donnerwetter,“ seufzte Koko; er betrachtete
sie ruhig, ohne sie etwa zu kneifen.

Das fiel mir auf.

Ich bemerkte, daß die Kleine zu den Dunkel-
roten gehörte, zu der Sorte, die man hier „die süße“
nennt.

Koko schnupperte mit der Nase ( ich selbst
hatte Schnupfen) und sah mich fragend an.

„Das ist nichts,“ murmelte ich, „man hat hier
so ein Parfüm.“

Koko schüttelte den Kopf.

„Nein — kein Parfüm. Sie selbst sind es. Sie
riechen wie Birnen oder Pflaumen.“

Das war das Wort. Wie Birnen oder Pflaumen.
„Das ist auch so eine Iokale Eigentümlichkeit,“
sagte ich.

Ich haßte ihn.

3

Koko ist faul. Das Land ist noch unentdeckt,
und man sollte wissenschaftliche Forschungen
machen. Ich fange aucli tatsächlich Schmetterlinge
und dergleichen. Aber Koko sitzt in dem besseren
Cafehaus.

Nein — sage ich mir — Koko ist keine höhere
Jntelligenz. Obwohl er so iebhafte Augen hat und
viel größer ist als ich. Es ist nicht wahr, daß er
alles weiß.

Vorläufig hat er nur das bessere Cafehaus und
den Lotoswein entdeckt. Aber er hat zum Beispiel
keine Ahnung von der „süßen“ Mädchensorte. Auch
ich hab’s ihm verheimlicht, daß ich eine Freundin
habe.

Dagegen hat er mich zum Trunk verleitet.

„Ich fülile mich hier wie zu Hause,“ prahlt er
und schenkt mir immerfort ein.“

Sein Prahlen macht mich krank.

„Du darfst die Insel nicht so leicht nehmen,“
sage ich, „du kennst sie noch lange nicht . . Weißt
du zum Beispiel, daß es hier zwei Arten Mädchen
gibt?“

Das hat er schon heraus. Verfluchter Kerl. Er
weiß, daß die einen helles und die anderen dunkel-
rotes Fleisch haben.

„Ja, aber — was weiter? Was weißt du über
die dunkelroten?“

Er schweigt. Nichts weiß er. Jetzt werde ich
ihn betäuben.

Ich flüsterte langsam:

„Die dunkelroten sind eßbar.“

Das hat eingeschlagen. Koko erblaßte.

„Wie? Man kann hier Mädchen essen?

Ich überstürzte mich vor Aufregung.

„Nur die dunkelroten, weißt du. Man nennt sie
die süße Sorte. Zum Unterschied von den anderen.
die nur so genießbar sind, wie zum Beispiel euro-
päische Weiber. Die süße Sorte ist sonst nirgends
auf der Welt zu finden. Nur hier . . .“

Koko seufzte bewegt:

„Und ich hab’s mir gedacht!“

Seine Freude war geradezu erschreckend. Aber
bald fragte er schon nach Details:

„Man ißt sie roh?“

„Natürlich,“ erklärte ich, „wie Pfirsiche. Wie
Zuckerbohnen.“

Auf einmal bin ich deprimiert. Sein hungriges
Interesse beunruhigt mich.

Er fragt:

„Hast du sie schon gekostet?“

„Nein,“ sage ich.

„Na. . ja,“ machte Koko und grinste.

4

Meine Freundin La kann englisch. Und sie ist
von der süßen Sorte. Der Qedanke, daß ich jeden
Augenblick ein Mädchen aufessen könnte, das eng-
lisch spricht, ist inir ganz sonderbar. Darin liegt
ein aufregender Qegensatz.

„Hat dir dein Bruder nicht eriaubt, mich zu be-
suchen?“

„Wer ist mein Bruder?“ frage ich.

Dann komme ich darauf, wen sie meint. Und
ich ärgere mich ein bißchen. In der Hütte summen
die Fliegen.

„Es ist heiß,“ sage ich.

La geht nackt herum. Sie bereitet irgend ein
Qetränk. Es riecht wie in einer Obstkammer,
„Ich liebe dich,“ sage ich.

Ich hatte mich schmerziich nach ihr gesehnt. |
Wie nach Tabak.

Die Fliegen summen. I

Sie küßt mich mit geschlossenen Augen. Nach f
einiger Zeit schaut sie ängstlich durch die langen f
Wimpern, wie um zu wissen, ob sie noch lebe.

„Ah — ich lebe!“ seufzt sie.

Die Sonne scheint auf das Bett. Sie richtet |
sich auf und zittert wie vor Kälte.

„Wie heißt dein Bruder?“ fragt sie.

„Er ist gar nicht mein Bruder,“ antworte ich |
ungeduldig.

Sie denkt nach.

‘Oh — das ist wahr,“ bemerkt sie, „er ist viel f
größer als du und — gar nicht kränklich.“

Ich ärgere mich wieder ein bißchen.

Sic spricht wehmütig:

„Moa war erst zehn Jahre alt. Und man hat j
sie schon aufgegessen.“

Die Fliegen summen.

„Ja — beneidest du Moa?“

Sie schaut mich ängstlich an und schüttelt den |
Kopf.

„Dort brennt die Sonne,“ spreche ich zu ihr. [
„aber Moa sieht die Sonne nicht mehr.“

„0, d a r a n liegt gar nichts,“ meint sie.

Die Sonne ist ihr gleichgültig.

„Ich wäre gerne gestern und vorgestern zu dir
gekommen,“ spreche ich zärtlich, „aber ich mußte
Schmetterlinge fangen.“

„0 — das ist wahr,“ nickt sie ernsthaft.

Ihr Blick brennt ruhig und dunkel.

5

Koko ist gewissenlos und jeden Tag berauscht. I
Er ist schon so gut informiert, daß man mit ihm ;
nicht mehr verkehren kann.

Ich habe seit einer Woche auf ihn verzichtet. I
Und auch meine Freundin habe ich fünf Tage |
nicht besucht. Damit nicht Koko mir nachspüre und
La entdecKe.

Aber das war doch zu traurig. Den sechsten f
Abend konnte ich es nicht mehr aushalten.

Ich öffnete zitternd die Tür ihrer Hütte. Auf ;
dem Boden saß ein nackter, ziegelfarbiger Qreis mit j
triefenden Augen. Wohl ihr Qroßvater. Neben I
ihm spielten zwei Kinder mit Roßknödeln.

Es roch nicht mehr wie in einer Obstkammer. I
„Wo ist La?“ frage ich die Gesellschaf*.

Keine Antwort.

Ich durchsuche umsonst das Haus.

„Wo ist La?“ frage ich den Herrn Großvater. I
Er lächelt wie beleidigt und wendet sich ab.

Ich laufe im ganzen Dorf herum und suche La. I
Da kommt ein Jüngling auf mich zu.

„Dein Bruder ist krank,“ teilt er mit, „und du |
sollst zu ihm.“

Hol der Teufel meinen Bruder, denke ich, La j
ist mir wichtiger. Aber schließlich siegt mein gutes j
Herz. Ich gehe zu Koko.

Er ist wirklich krank, liegt im Bett.

„Ich bin krank,“ erklärt er mit einem milden >
Lächeln. „Nämlich — der Lotoswein steigt einem [
entsetzlich zu Kopf. Und wenn sich alles um mich |
dreht, so kann ich nicht mehr so fein zwischen hell- I
roten und dunkelroten Mädchen unterscheiden . . . j
Hübsch sind sie ja alle ... Ich muß mich ein biß- [
chen vergriffen haben. Das ist es . . .“

Trotz angeblicher Schmerzen ist er wie ver- [
klärt. Er lächelt glücklich und preist das Leben.
„Hübsch sind sie alle,“ wiederholt er.

Ich werde rasend.

„Ich kann La nicht finden,“ schreie ich. „Meine
Freundin La ist verloren gegangen ... Ich werde
mich erschießen.“

„Wieso erschießen?“ fragt er erstaunt-höflich-
„Du mochtest sie ja nicht. Du hast sie stehen
lassen.“

Der Ausdruck „stehen lassen“ verwundet mein
Innerstes. Ein Blitz durchleuchtet plötzlich mein
Qehirn.

„Tier!“ keuche ich, „du hast sie aufgegessen . • f
Qeraubt und aufgegessen . . .“

Er schüttelt den Kopf mit dem Ausdruck be-
leidigter Würde.

„Ich habe sie nicht geraubt. Sie ist selbst zu
mir gekommen.“

“ „Du lügst!“

„Mein Ehrenwort. Sie ist selbst gekommen
und hat mich flehentiich um die kleine Gefälligkeit
gebeten. Was sollte ich tun? Ich habe mich er-
barmt. Das arme Ding war schon ganz anämisch
vor lauter Sehnsucht nach dem Aufgegessen-
werden.“

Ich schluchzte.
 
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