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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 38 (November 1910)
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Friedlaender, Salomo: Menschliches Allzumenschliches
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0307

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seines Kontrastes aufgehoben, abgemattet werden
— im Gegenteil! sie wurde noch beträchtlich
differenzierter durch unzählige Abstufungen: eben
gerade die Zahl, das Positivste, Nüchternste von
der Welt bietet ein Mittel, sich dieses zu versinn-
lichen. Die Barbarei springt hier nach ein paar
Schritten gleich in das Unzählige: aber wie dürfte
denn auch der besonnenste Rechner vergessen oder
vemachlässigen, daß er das Unzählige berechnet!
Soll nur der Aberglaube, der schmutzige Kopf, dä-
tnonisch sein diirfen? Diese Dämonie ist ja gerade
das Reine, Besonnene in ihm — bloß, daß er sie
unberechenbar will, sein Gebrechen. Mit e i n e m
Worte, das Leben selber, der irdische Alltag, die
nächsten Dinge sollen alle ihre Furchtbarkeit und
himmlische Wonne, welche der Vampyr des Idealis-
mus ihnen ausgesogen hatte, zuriickerhalten — das
bedeutet Nietzsches erstes Eigenwerk. Der Idealis-
mus irrt sich nicht etwa jn der Intensität seiner
Wertschätzungen, sondern jn deren Lokalisation,
er plaziert sie furchtsam, feig und bescheiden in
irgendeine Art Jenseits. |Der ordinäre Positivist
plaziert sie richtig imit falscher, mattherziger In-
tensität. Entnehmen wir nach diesen für uns wich-
tigsten prinzipiellen Feststellungen dem Texte
Nietzsches einige Einzelheiten zur Metaphysik, Reli-
gion, Moral und Aesthetik.

Das Ideal W a h r h e i t, auf seine Natur zurück-
geführt, ernüchtert sich zur Notdürftigkeit einer
Lebensbedingung der menschlichen Gattung. Logik
ist von Unlogik nicht mehr essentiell verschieden:
Das Stück Unlogik, das in uns Fleisch geworden
ist, sieht wie Wahrheit aus; es ist sogar möglich,
daß wir an diesem Grundirrtum vergehen. Wir
sind mitten im Prozesse der Logisierung des Lebens
begriffen, das heißt das Menschenleben ist jmmer
noch das Experiment, als das es begann. IJnser
Wahrheits- und Wissenskopf sitzt auf dem blinden
Rumpf der Lebensbegierde, sie erzeugt das logisch
Wahre als möglichst geschicktes Freßwerkzeug zur
Einverleibung des ... Zufälligen — vielleicht muß
dieser Kopf an einem Zufall zerschellen ? — Aber
Wahrheit als diese Realität wäre nur für den Ide-
alisten der Wahrheit (zum Beispiel für Heinrich
von Kleist) unbedingt tödlich. Der Realist wagt
es mit ihr, ohne sich feig in eine Metaphysik zu
schleichen, die ihm den Mut erspart, ihm die Wahr-
heit schenkt. Er will die Realität ohne Abzug,
will sie als das Abenteuer seiner Kühnheit. So
will er die WissensChaft der Physik im weitesten
Sinne mit aller ihrer Kraft an das Leben angeschlos-
sen. Ohne Metaphysik zu leben erhöht den Mut des
Mutigen so sehr, daß die Physik wohl selber
allgemach die magischen Kräfte jenes faulen Zau-
bers als echten Verspüren wird. Solange Logik
und Mathematik Melusinen sind, welche nur ihren
Fischschwanz im Wasser der Wirklichkeit enden
lassen, während ihr edlerer Oberleib in himmlischen
Fiktionen verschwindet, leiden beide, Wahrheit und
Wirklichkeit, an Halbheiten, aus denen nichts
Ganzes werden kann. Kants Wahrheiten anüssen
durch dreifache Filter der Superstition sintern, ehe
sie, verdünnt und um ihren kräftigsten Gehalt ge-
bracht, bei uns hier unten ankommen. —

Ueber Religion und Moral hat uns Schiller den
allerwesentlichsten Aufschluß erteilt: „Der Uebel
größtes aber ist die Schuld“. Aber Sünde, böses
Gewissen, Schuld sind Angstprodukte, und Angst
ein feiger Mut. Hier hat man das Mittel, ein ganzes
Leben, sei es wie es sei, voller Mut und Unschuld
Zu erleben. Das Geschehen fließt. Ursache —
Wirkung sind Worte und Willkür, die Notwendig-
keit ist unteilbar. Der ethische Urheber, der Ver-
antwortliche ist ja genau ebensosehr Wirkung und
unverantwortlich: sofern Sittlichkeit sich nicht an
den hellen Augen der Logik in übernatürliche Be-
reiche vorbeischwindeln wollte. Schuld und Un-
schuld sind aus einerlei Stoff, mag er an jenem
Ende sich rauher, an diesem feiner anfassen. Das
Geschehen ist eines und dasselbe durch zahllose
Variationen. Lohn und Strafe, außer einander ver-
standen und praktiziert, sind bloß flache Blicke
für ihr Ineinander, das einen viel unschuldigeren
Namen verdient. Wille, Willkür ist jenes Stück
fatum, das wir selber sind und daher seine Unspür-
barkeit als Freiheit empfinden. Gut und Schlimm,
durch Worte und flache Blicke getrennt, gehören
zusammen, bedingen einander ... w i e Licht und
Finstemis. Ein Bündnis von Weisheit, Furchtbar-
keit, Unschuld und Mut, Unschuld begriffen nicht

als Abwesenheit von Schuld, sondern von Furcht
— wird erne neue Sittlichkeit heraufführen. —
Wenn man endlich eine Ahnung davon be-
kommen will, wie das Leben aussehen könnte,
sobald jene trübe Decke der Angst des Irdischen
von ihm gelüftet würde, dann betrachte man die
Kunst. Für den Künstler, der irdischere Sinne hat,
waren die himmlischen Blendungen durch Ideale
weniger gefährlich: er verklärt dieses Leben in
allen Gestalten. Die Kunst soll nun versuchen,
dem wissenschaftlichen Menschen ihre Art Lebens-
freudigkeit einzuflößen. Der Akzent des ganzen
Buches liegt auf der Wissenschaft als einer Lebens-
und Sterbensweisheit, welche in ein mutiges „Friede
auf Erden“ stark und entschieden, aber mit einem
ernsten und bedenklichen Unterton ausklingt.

Aus eincm demnächst bei Göschen (Leipzig) erscheinendcm

Buche: Friedrich Nietzsche eine intellektuale Biographie

Das Mysterium Jesu

Von Peter Hille

Aus dem Nachlass

„Herr, gedenke meiner“

Ghristus trauerte in seinen Leiden, fühlte Weh
in seinen Schmerzen. Schwerer wie sein müder
Leib hingen die Lästerungen, hingen die Laster
der Lieblosigkeit nieder an seinem liebenden Opfer,
die gerade an der Seite seines liebenden Herzens
wie aus rauchendem Pfuhle ausgestoßen wurden.

Wie von seinem Haupte, so höhnt es auch
her von seinem Herzen: „König der Juden“.

Noch immer fremd, noch immer Feindschaft,
auch hier im äußersten, hoffnungslosen Elend jan
der Pforte des Todes.

Warum wehrt sich die Schale gegen den Kern,
der Jammer gegen das Königswort der Gnade?

Was laCht es so häßlich und glaubt der
plumpen Täuschung, dem rohen Trieb, nicht aber
dem Wort der wahren Macht, das alles weiß und
kündet?

Was sucht man nicht das Reich des stillen
Geistes, das in uns heller beginnt, so wir es suchen
in Gott?

Da klang an sein Ohr des Rechten Stimme.

Der hat mit Staunen, das endlich jn Ehrfurcht
ausstrahlt, seinen gequälten Schmachgenossen,
seinen Sch'merzenskönig angesehen.

Und es geht demütig über seine Lippe, die
unwillig ist über die Lästerung dessen zur Linken:
„Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich
kommst.“

Mild und frei beseligt glühte seines Erlösers
Antlitz, die gütige Wange dem armen Sklaven des
Gerichts entgegen. „Freund, heute noch wirst du
mit mir am Orte der Reinheit sein. Dein Paradies
erwartet dich, wir sterben gemeinsam: du der
Erstling der Entsühnten, ich der Führer.“

Aber viel der langen, langsamen Tropfen fielen
vergeblich und nur die Würmer sogen sie ein, wie
sie einsogen die Säfte der Uebeltäter.

Steil brannte der Zorn der Sonne, bis sie sich
verfinsterte.

Verdammten gleich' fahren die Finsternisse
nieder, und es gab einen Weltrißi, der nie sich
wieder sChließt, bis zur Vollendung.

Wie wohl ein Tag sich erholt wieder, eh es
sternenhohe Nacht wird, so wärmen die Strahlen
des Abschieds den Göttlichen noch einmal mensch-
lich. Da steht die Mutter.

Der Sohn, der so lange vom Messias ver-
dunkelte Sohn, wird wieder hell, Fleisches Seele
findet sich wieder zur Seele, Leben zum Leben.
Der Heiland, dem seine göttliche Schroffheit nun
ganz erscheint und menschlich aufs Gewissen fällt,
sinnt auf den, der ihm die größte Erquickung der
Freundschaft reichte.

So will er die zarte Liebesseele des Jünglings
hinüberwenden.

„Weib“ — er fühlt schbn allgöttlich — „siehe
deinen Sohn!“

„Sohn, siehe deine Mutter!“

Und es trauert der Tag, er preßt die Augen-
lider, wie eine Träne reizt, und blutig fallen die
Tropfen hernieder zu Mittag. Schwefelgelb um-
spannen sie die zerbrochene Stadt. Der am Kreuze
Rufende, an seine Liebe, an seine herzgewaltige
große Liebe Rufende aber fühlt sein Opfer warm,

überirdisch warm, aus qualenmatterem Körper
tropfen, die Göttlidhkeit zur Göttlichkeit. Hinweg-
ziehn möchte er die Schicht der engen Bosheit, die
sich selbst das Heil schmähend zerstört.

„Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was
sie tun.“

Qualvoll zuckt die Welt, während das Gött-
liche leidet, und der empörten Erde ist ein Greuel
die Menschheit und die Toten wirft sie von sich.
Heim rüstet sich die Seele, und müde sinkt das
Haupt mit dem blutigen Hohne der Dornenkrone.

„Es ist vollbracht!

Vater, in deine Hände empfehle ich meinen
Geist I“

Gast der Freunde

Nun war eigen die Erde, still, entseelt.

Zu Ende war der Sabbath der Selbstberaubüng.

Töricht und mit Alltag durchschossen wogten
die Gespräche in der enttempelten Stadt gotteifern-
den Volkes.

Ein Rosenstrauch war irre geworden und hätte
seine einzige Blüte zerstodien mit dichten, lief-
tigen Dornen. Und es war rauh zwischen Him-
mel imd Erde, die zarte Ferne aber fortgegangen.

Leib und Erde, ihnen jst nur das Nächste groß.

Aber die Erde ist reiner als der Mensch, sie
hät keinen Gegenwillen, nicht Leidenschaft setzt
sie den Gesetzen entgegen, sondern mit Leiden-
schaft kommt sie ihnen nach.

Und sie fühlt Gott, fühlt Gott mehr als der
Mensch, und ob er auch in Satzungen sich ein-
kerkert bis zum Friediosen gegen sich und alle
Mitmenschen. Das Gesetz wärmt, aber die Satznng
erstarrt.

Er war da der Frühling und trank mit träu-
mender Violensehnsucht den Tau der Höhe.

So innig aber wie jn dieser Nacht hatte die
mütterliChe Erde nobh niemals sich gefühlt. So
hatten noch niemals die Nachtigallenlieder ihres
sehnenden Herzens geschlagen, so zart tmd selig
hatte noch niemals das Keimen und Sprossen in
ihr zum Lichte sich gezogen in Gegenstrahlen.

Und da wuchs auch das Licht der Höhe
morgenwjeich, warm und reich : ein Saffranblatt aus
Osten.

Und in dieser grüßenden Frühe, klein und dicht
und taugrau standen beisammen die Kräuter, hob
sich keimend die edelste schlanke Pflanzengestalt
des Menschenleibes und wandelte liebend ver-
weilend und grüßte seine Freunde bei Tag und bei
Nacht, bei Mahl und Arbeit.

Wie die Gestalt eines Verstorbenen, noch um-
weilt wird von nachträumendem Leben, so sandte
das reinste Liebesgewebe eines Leibes noch immer
seine Lichtverklärung aus dem reinen Grabe und
es konnte sich nimmer genug tun und in ihm
sprach die nahe, überallhin ergossene Gottheit.

Und erst dieses feiertägige Verweilen ihres
Lehrers und Meisters durchgottete seine Lehren
verewigte ihre Art.

Man versuchte den Alltag, nachdem das erste
Befremden der Trauer vorüber wär und schon tönte
das Weh leiser Genesung wie bei einem anderen
Liebesverlust.

Diese Tage, der Verklärungsmonat, stärkten.

All das ungeheure Leiden hätte nichts geholfen.

Man warf schon wieder die Netze, man ver-
gaß alle Wunder, und war keiner, der daran dachte,
wie jener einst über idie Fluten wandelte. Simon
fühlte nicht mehr die bestimmte Hand, die hehr
und gelassen ihn zog aus der weichenden Tiefe
— da kam Jesus — nun fischte man Menschen und
Völker, und tat nach göttlicher Weisung.

Pflngsten, die Kirche des Geistes

Geheimnisvoll ist Üiese Zeit, weil ihr Geist
hoch geht, weil keine Zeit so gesättigt ist mit
ihm: mit Sehhsucht, Drang und Haß, init Verfol-
gung, Rettung und Untergang.

Der Sohn des göttlichen Vaters weilte wieder
in seinem angestammten Reich, aber nun sendet
er den Erhalter, den Pefestiger, den göttlichen
Vater und Sohn: den Geist.

Starkes, ziehendes Gebet der Siebzig im Saale.

Und Gnade.

Aller Geist macht sich auf; die Gemeinde des
Geistes der Jünger, der Frommen, tritt zusammen,
und zieht den erdwärts leuchtenden Kraftstrahl
nieder in Flämmcben und Zungen. Und rein waltet
dcr Geist, der niedergeströmte, der sich ver-

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