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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 25 (August 1910)
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Hiller, Kurt: Über Kultur, [2]
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Lasker-Schüler, Else: Meine Mutter
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Scheerbart, Paul: Der blaue Himmel: Eine Garten-Novelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0201

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unserer Tage. Wer sich damit abmüht, die Historie
des menschlichen Philosophie-Nachdenkens zu er-
forschen und zu jedwedem Krimskrams der über-
lieferten Systeme kritisch Stellung zu nehmen, ja
sogar an kein l'ebendiges Problem der Gegenwart
überhaupt heranzutreten wagt, ehe er nicht die
Genealogie dieses Problems akribisch erkundet —:
der kann schwerlich selber je zum philosophischen
Nachdenken gelangen.

Ich kenne unter den Götzen, vor denen man
heutzutage auf den Knieen liegt, keinen, der mit
einer häßlicheren 'und blöderen Physiognomie ge-
segnet wäre, ate der Götze der Tatsache. Und kein
Diinkel unter den vielen Diinkeln erscheint mir so
widerwärtig wie der Dünkei des Wissens. Freilich
ist er die einzige Zufhicht für die, welche nichts
k ö n n e n. Aber aller Statusi ist tot, und alle Dy-
namis lebt; Inhalte haben hier keinen Belang, Form
nur gibt Werte. Darum hät jene Erlebnisform, die
wir „Kultur“ heißen, mit der Vielheit von Gedächt-
nisinhalten, die wir unter „Bildung“ verstehen, nichts
zu schaffen. Ein Lyceumsbackfisch zum Exempel
mag über die Renaissande geschichtKch viel besser
Bescheid wissen als irgend ein Zigeuner aus dem
Quartier Iatin — und trotzdem (oder vielleicht ge-
rade darum) picht annähernd so viel Auge und
Nerv haben wie jener für eine süße Herbheit Botti-
celiis, tizianeske Farbensymphonieen oder die rem-
brandtische Lösung eines Lichtproblems. Das Ly-
ceumsgirl kennt Namen und Daten und Zusammen-
hänge (hat aber die Sehart des Kalbes und die,
Empfindsamkeit des Pachyderms); der Zigeuner
weiß von den Daten und D-ingen nichts, feiertjedoch
optische Orgien. Das Girl ist gebildet, der Zigeuner
ist kultiviert...

Nach dieser Klärlegung des Subjektiven und
des Qualitativen in unserem Begriff von Kultur
wird es geboten sein, noch 1 einmal bei dem zu ver-
haü.M, was wir anfangs mit einer gewissen Selbst-
verständlichkeit als ein Merkmal seiner vorausgesetzt
hatten: bei der Universalität. Da Kultur,
ihrer Idee nach, die Tendenz aufweist, das Indivi-
duum in seiner Totalität zu durchdringen, so erhält
alles Spezialistentum, weniger das des Berufs als
das der Seele, das Stigma der Kulturfeindlichkeit.
Hier gilt es nein zu sagen zu der hochmütigen Be-
schränktheit, mit der ästhetisch gerichtete Tempe-
ramente auf intellektuelle Problematik herabblicken,
und Begriffsklöppler auf das Artistische und die
Frissons der Gefühle. Es ist freilich verkehrt, Ge-
schmackssachen auf die Folterbank wissenschäft-
licher Syllogistik zu schnallen, und freilich lächerlich,
unter dem Geskhtspunkt „schön-häßlich“ lösen zu
wollen, was unter dem Gesichtspunkt „wahr-falsch“
gelöst zu werden heischt —: aber für unszusammen-
gesetzlere Gemüter sind nun einmal die Erschei-
nungen des Daseins nie damit erschöpft, daß sie
uns beeindruckten, — nie damit erledigt, daß wir
sie kritisch-analytisch bezwangen. Auch Angelegen-
heiten äes -ästhetischen Bezirks werden uns zum
Substrat der Geistigkeit, und Angelegenheiten des
intellcktuellen zum Gegenstand tiefster Freude und
bohrenden Schmerzes. Kunst und Erkenntnis, Er-
lebnis und Problem, Gefühl und Gedanke umfassen,
durchsetzen und zerschmelzen einander mit einer
so ruhelosen Intensität, mit solchem Chemis-
mus, daß die sogenannte „klassizistische“ For-
derung, wie sie besonders deutlich Herr Leonard
Nelson (im zweiten Bande der Fries’schen Schule)
erhoben hat, nämlich beide Funktionen fetreng ge-
trennt auszubilden, in friedlicher Nebenordnung,
ohne „Uebergriffe“ der einen in das Gebiet der
anderen, als ein Zwang erscheint, der für die Päda-
gogik vielleicht des guten Grundes nicht ganz ent-
behrt, der für das Sdhrifttum aber sicherlich! ohne
Legitimation und sehr Verderblich ist; ein Zwangvon
stark reaktionärer Tönung, insofern er ein Stadium
psychisch-anthropolbgisCher Entwicklung zurück-
schrauben, einen Zustand der KompHziertheit und
Verfeinerung in einen Zustand der Einfachheit und
Robustität verwandeln, Armut für Reichtum ein-
setzen will.

Für den nur-wissensdiaftiichen und für den
nichts-als-impressionistischen Menschen ist diese
Sonderung zwar nötig: wer ltedigliCh die Wahrheit
sucht, hat das Gefühl auszusChalten, und wen es um
des Himmels willen nadh nichts anderem als nach
Hauchen der Stimmung gelüstet, der hat den Ver-
stand zu verbannen; al'lein der Mensch dieser neuen,
fabelhaften Tage ist ein Mischling, ein Gebilde aus
Allerlei, ein Tj^pus' „zwischen den Rassen“. Auf-

gewadhsen unter den (jeweils imponderabilen, aber
insgesamt enormen) Einwirkungen des in sidh un-
cndlich zergliederten, ohne Konzinnität flimmernden
objektivierten Geistes von Vorzeit und Gegenwart,
ist seine Seele in keinem Augenblick nur nach
e i n e m Pole gerichtet; die Gesichtspunkte ver-
mengen sich in ihm: seine Problematik wird
ihm gefühlsbetont, und sein Gefühlsmäßiges intel-
lektuell zersetzt.

Schluss folgt

Meine Mutter

War sie der große Engel,

Der neben mir ging?

Oder liegt meine Mutter begraben
Unter dem Himmel von Rauch —

Nie blüht es blau über ihrem Tode.

Wenn meine Augen doch hell schienen
Und ihr Licht brächten.

Wäre mein Lächeln nicht versunken im Antlitz,
Ich würde es über ihr Grab hängen.

Aber ich weiß einen Stern,

Auf dem immer Tag ist;

Den will ich über ihre Erde tragen.

Ich werde jetzt immer ganz allein sein
Wie der große Engel,

Der neben mir ging.

Else Lasker-Schüler

Der blaue Himmel

Eine Garten-Novelle

Von Paul Scheerbart

Frau Albertine von der Marwitz war sechs-
undneunzig Jahre alt und sehr reich.

Und sie saß in ihrem alten Park auf einer alten
Gartenbank, und neben der atten Dame säß Dr.
Groddeck, der erst dreiundzwanzig Jahre alt und
sehr arm war.

Der Himmel war so blau wie ein dunkler Saphir,
und in dem Ententeich vor der alten Gartenbank
schwammen sehr viele kleine Enten herum. Es war
sehr warm, obgleich es noch sehr früh war.

Frau Albertine lächelte immerzu, und Dr. Grod-
deck sprach mit einem so wilden Eifer, daß er ganz
rot im Gesicht wurde:

„Sie können mir glauben, gnädige Frau, Stern-
warten kosten sehr viel Geld. Das kann nicht von
einzelnen aufgetrieben werden. Das ganze Volk,
— das ganze große Pubiikum müßte für die Sache
interessiert werden. Und das kann nur durch
Bücher, Zeitungen, Broschüren und Ausstellungen
geschehen. Denken Sie nur, gnädige Frau, wie
viele Millionen für den Grafen Zeppelin aufgebracht
wurden. Was für den Grafen Zeppelin getan wurde,
das kann auch für die Sternwarte getan werden. Der
„praktische“ Wert der Luftschiffe ist doch auch
nur ein minimalter. Darüber muß man sich doch klar
sein. Daß die Sternwarten absolüt keinen prak-
tischen Wert haben, kann man noch nicht einmal
zugeben. Die Durchforschung unsrer Erdatmo-
sphäre — unsres großen blauen Himmels, ist doch
auch 1 von einer gewissen Bedeutung. Wenn auch
die Sternwarten etwas mehr kosten als die Luft-
schiffe — das schadet doch nichts. Dafür hält
auch eine Sternwarte länger vor als ein Luftschiff.
Das müssen Sie doch zugeben, nicht wahr, gnädige
Frau?“

Dr. Groddeck hielt ersChöpft inne.

Und Frau Albertine lächelte immer noch und
sagte dann leisc:

„Und Sie, Herr Doktor, wollen Direktor in einer
dieser Sternwarten werden?“

„Freilich,“ erwiderte dieser, „wozu hätte ich
sonst Astronomie studiert? Es ist durchaus not-
wendig, daß ich eine Stetlung mit größerem Gehalt
bekomme. Das Assistentendasein ist zwar sehr
ehrenvoll, aber doch niCht sehr einträglich“

„Ja,“ fragte nun Frau Albertine, „wie denken
Sie sich nun die sogenannte Propaganda im großen

Publikum? Bleiben Sie nicht bei Andeutungen
stehen; werden Sie so ausführlich wie möglich!“

Frau Albertine lächelte nicht mehr, sie erblaßte
ein wenig und stützte sich vorsichtig auf die Seiten-
Iehne der Gartenbank. Ein paar ganz kleine junge
Enten sChwammen ans Ufer.

Der Herr Doktor wußte sehr wohl, worauf er
hinaus wollte, und er war daher sehr gerne bereit,
gleich sein ganzes Herz auszuschütten.

„Mit der etwas langweiligen, astronomischen
Rechnerei,“ sagte er hastig, „werden wir natürlich
nicht das Publikum ködern. Hier müssen ganz
andere Seiten aufgespannt werden. Man muß dem
Publikum den blauen Himmel mit blauen Wundern
anfüllen, daß es neugierig, sehnsuchtsvoll und wohl-
wotlend gesümmt wird.“

Frau Albertine lächclte wieder und sägte:

„ Die trocknen WisSenschaftler verstehen das
aber doCh nicht so reCht. Ihr Ton ist so selten
hinreißend. Die Geschichten vom Mars sind schon
ein wenig Veraltet. Der blaue Himmel ist zwar sehr
groß und leuchtend. Aber ich fürchte doCh, daß
er allen Menschen zu fern erscheinen wird — zu
weit abgelCgen. Auch ist er nicht sehr beweglich.
Die Luftschiffahrt durfte glteichzeitig auf ein sport-
liches Interesse rechnen, und das — fehlt den
Astronomen. Ich fürchte, die werden nicht die ge-
nügende Intensität besitzen, um ein größeres
Publikum mitzureißen.“

„Ganz recht, gnädige Frau!“ sagte Dr. Grod-
deck schmunzelnd, „ganz so dachte ich auch. Und
deswegen müssen wir uns naCh einer Unterstützung
umsehen — die müssen wir finden — und wir
vverden sie finden.“

„Wo denn?“ fragte Frau Albertine etwas müde.

„In der Literatur und Kunst!“ versetzte trocken
Herr Dr. Groddeck.

Frau Albertine von der Marwitz sah ihn ver-
ständnislös an, und er fuhr fort — wieder sehr
hastig:

„Gnädige Frau, ich verstehe Ihr Staunen. So
ohne weiteres geht das natürlich nicht. Literatur
und Kunst müssen natürlich in ganz besonderer
Weise zunächst angeregt werden. Aber Sie werden
doch zugeben, gnädjge Frau, daß der Mars sehr
viele — sogenannte Romane — hervorgebraCht hat.
Nicht nur Flammarion, Wells und Laßwitz haben über
den Mars geschrieben — auch hundert andere. Da
kann man doch noch auf mehr hoffen. Ich bin der
festen Ueberzeugung, wenn man nach anderen
Richtungen hin Anregungen gäbe, könnten wir sehr
bald eine umfangreiChe Literatur haben, die eigent-
lich nur den Astronomen nützen würde.“

Frau Albertine schloß die Augen und fragte
tonlos:

„Wie denken Sie sich diese Anregungen nach
anderen Richtungen hin?“

Da verließen vier kleine Enten das Wasser und
näherten sich der alten Gartenbank. Dr. Groddeck
warf ihnen ein paar Semmelkrumen zu und fuhr
dann 'fort:

„Außer dem Mars gibt es doch noch recht viele
andere Wunder im bläuen Himmel. Ich will gar
nicht vom Orionnebel und vom Andromedanebel
reden. Wir können ruhig in unserem Sonnensystem
bleiben. Die Atmosphäre über der Erdoberflächc
ist mindestens hündert deutsChe Meilten höch. Man
hat in einer Höhe von hundert Meilen elektrisch
leuchtende Wolken entdeckt — und in derselben
Höhe leuchteten Sternschnuppen auf und ver-
schwanden wieder da oben. Hundert Meilen über
der Oberflächte unseres Sternes! Welch ein Riesen-
raum dieser Oberfliäche gegenüber! Das muß den
Romanschriftstellern klar gemacht werden, damit
sie in diesem Riesenraume fürderhin ihre Ge-
sthichten sich entwickeln lassen. Dieser Luftraum
ist wahrscheinlich nicht so still wie ein Friedhof.
Der blaue Himmel wird tagtäglich von zehn
Millionen Meteoren durtehsaust. Es können auch
vjel mehr sein. Und wir dürfen 'uns diese Meteore
niteht als simple Stoffklumpen denken. Was von
ihnen zu uns herunterfällt, ist so minimal, daß
man daraus keinen Schlüß auf das Ganze der
Meteorkörper ziehten darf. Hierüber muß ge-
schrieben werden — auch von den Zeitungen —
immerzu.“

„Was denn?“ fragte Frau Albertine, indem sie
die Augen aufschlug und die vier kleinen Enten
wieder in den Teiteh hineintappen sah.

Jetzt lächelte Dr. Groddeck, und er sprach
feierliteh:

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