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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 42 (Dezember 1910)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [2]: Ein Volksroman
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Brod, Max: Die Wallfahrt zu Orazio: Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0339

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V

Die bunte Nacht

Die Pechflammen auf dem Seebalkon verlöschten
allmählich. Und auch die Lampen in den Häusern
der Stadt wurden ausgemacht, so dass es dunkle Nacht
wurde in ganz Ulaleipu.

Nur die Sterne leuchteten oben am Himmel —
und die Mondsichel oben in der Mitte des Himmels.

Ganz stille war die Nacht.

Dann aber kam eine Lichtgestalt oben aus den
Bergen heraus und schwebte langsam hernieder und
wurde immer grösser, während sie herniederschwebte;
aus riesigen innerlich erleuchteten schlauchartigen Balions
war die Lichtgestalt gebildet — und bunt war sie —
sehr bunt.

Und brennende Augen hatte die Lichtgestalt und
wunderliche wulstige Giiedmassen, die aber immer
»ieder anders leuchteten, da die elektrischen Lichter
im lnnern des Balions in ständiger Bewegung waren;
von den Stricken, an denen die Lichtgestalt herunter-
gezogen wurde, sah man nichts, da ja die Nacht rings-
um ganz dunkel war.

Und die Lichtgestalt lagerte sich über die Stadt an
den Bergabhängen, und eine feierliche geisterhafte Musik
begrüsste sie.

Danach ward wieder alles ganz still, und der ersten
Lichtgestalt folgte nun eine zweite — und der eine
dritte — und jede war immer abenteuerlicher als die
andere.

Und es kamen immer mehr Lichtgestalten aus den
Bergen herunter, so dass bald der ganze Taikessel.
in dem die Stadt Ulaleipu lag, von lagernden und schwe-
benden Lichtgestalten erfiillt war.

Ein geisterhaftes Schauspiel.

Und ein Farben- und Lichtschauspiel, dessen un-
heimliche Grossartigkeit geradezu erdrückend wirkte.
so dass die Musik der fiinfzig Kapellen, die nur immer
für ein paar Augenblicke zu hören war, doch zuweilen
wie ein Erlösendes hineinklang.

Wie ein überirdischer Alp schwebten und lagerten
die ungeheuren Lichtgestalten über die Stadt.

Als nun aber alle Ungeheuer unten waren, da
wurde plötzlich der schwarze See zu einem grossen
Lichtkaleidoskop — und das funkelte und glühte und
floss und flutete und bildete Spiralen und Ecken und
Kanten und Diamantenspässe und Quallenwunder, dass
das Auge ganz geblendet wurde.

Danach sangen alle Residenzler zusammen das
Frühlingslied des Dichters Itambara.

Und dann wurde eine Lichtgestalt nach der an-
deren dunkel und der schwarze See wurde auch
dunkel.

Und dann wurden oben wieder die Berge rot —
und sie bekamen wieder ihre goldenen Ränder.

Der Morgen kam.

Und der Kaiser stieg von seinem Thron herab und
ging wieder durch das Dach der Schulternfedern in
seine Burg hinein — so wie er gekommen war.

VI

Der Morgenwitz

Als nun Philander der Siebente, Kaiser von Utopia,
wieder in seiner Kaiserburg war, da ging er mit
raschen Schritten in seinen grossen Bibliothekssal, und
der Staatsrat folgte dem Kaiser — ebenfalls mit
raschen Schritten, dass die Schulterfedern wackelten.
Im Bibliothekssaal brannten nur ein Dutzend elektrische
Lampen in rotem Rubinglase, und die fünfzehn Meter
hohen Spiegelscheiben der Fenster sahen ganz blau
aus.

Durch die hohen Flügeltüren kamen nun die Mit-
glieder des Staatsrates feierlich mit ihren zehn Meter
hohen Schulterfedern herein; es wurde Kaffee getrunken
und ein stärkender Kognak dazu. Der Kaiser gab
den Dienern ein Zeichen, und die Diener verschwanden.

Nun war der Kaiser mit seinem Staatsrat in seinem
Bibliothekszimmer allein. Es war nun die Pflicht des
Kaisers, dem Zeremoniell entsprechend einen Witz zu
machen.

Philander der Siebente stellte sich vor seinen
grossen Spiegel, nahm seine weissen Augenbraunen
ab und auch den weissen Bart und die Krone und
das weisse Haupthaar — und drehte sich um und
zeigte seinem Staatsrat sein glattrasiertes Gesicht mit
den kalten blauen etwas müden Augen und dem röt-
lichen kurzgeschnittenen Haupthaar. Die Mitglieder des

Staatsrates lächelten und verbeugten sich; diese Ent-
kleidungsszene entsprach dem Zeremoniell. Auch der
rote Purpurmantel fiel, und der Kaiser stand nun in
einfachster schwarzer Kleidung da und sagte leise:

„Meine Herrenl Sie wollen den Morgenwitz hören.
Sie sollen ihn hören. Ich erkläre Ihnen hierdurch,
das ichs müde bin, Kaiser von Utopia zu sein; ich
werde ein Jahr pausieren und mich vertreten lassen.
Denken Sie über eine geeignete Persönlichkeit, der
man meine Kaiserrolle übertragen kann, ordentlich
nach lch lege mich zu Bett. Schlafen sie wohll
Guten Morgen!“

Der Staatsrat zitterte vor Erregung, und der
Zermonieenmeister sprach mit heftig wackelnden Schulter-
federn:

„Grandiosität, ist dieser Scherz ernst gemeint?,,

Der Kaiser Philander sagte dazu lächelnd:

„Der Kaiser von Utopia pflegt stets im Ernste zu
scherzen Denken Sie über meinen Stellvertreter nach
— aber ordentlich. I “

Und der Kaiser verliess seinen Bibliothekssaal,
begab sich in seine Schlafgemächer, liess sich rasch
auskleiden und war nach fünf Minuten fest eingeschlafen.

Der Staatsrat aber befand sich in fieberhafter Auf-
regung; der Morgenwitz des Kaisers hatte den Staats-
rat ganz aus der Fassung gebracht.

Der Kaiser träumte währenddessen von ganz
feinen Geistern, die sehr gross waren, aber dabei so
dünn — wäe Spinngewebefäden.

Fortsetzung folgt

Die Wallfahrt zu Orazio

Erzählung von Max Brod

Von einem herrlichen Geiste handelt das Nach-
folgende, von einem überaus tüchtigen und einzigartigen
Menschen, der jedoch Ieider sein ganzes Leben lang
aus einem Netz von gewissen Gedanken nicht entrinnen
konnte. Aber iassen wir ihn darüber selbst zu Worte
kommen:

„Alles, was ich anfasse, gelingt mir sehr kunstvoll.
In allen Tätigkeiten des .Geistes habe ich schon das
Aeusserste geleistet Das ist mein Unglück. Ich kann
deshalb nicht froh werden.

Anfangs machte es mir allerdings sehr viel Ver-
gnügen, wenn ich so recht in Ruhe und Sicherheit zu-
sah, wie sich irgend ein Stümper stimmungslos am
Klavier abquälte und die Finger zappeln liess. Wenn
ich mich dann dazusetzte, gab das Stück erst den
rechten Klang und Schwung her . . . Ein Maler
zitterte mit dem Pinsel über unsichere Konturen. Ich
griff hin, und ein Antlitz, ein wirkliches Antlitz, lag in
seinen Farben auf der Leinwand . . . Einer zerfol-
terte sich den Kopf mit Gleichungen und analytischen
Berechnungen. Wenn ich hinzutrat, fühlte ich, wie die
Exempel slch mit mir verbündeten. Sie waren schon
aufgelöst, ohne dass ich mir viel Mühe mit ihnen zu
nehmen brauchte ... Und dieses Gefühl des Ver-
bündetsein mit ailen Problemen hatte ich später sehr
oft. Alle kamen sie mir freudevoll entgegen, sie öff-
neten sich wie Blumenkelche ... Ein Redner sotterte.
Ich wusste, dass das Thema dieser Rede mit mir ver-
bündet und gleichsam befreundet war. Es wartete, bis
ich es behandeln wollte. Dann tat ich es, und jetzt
erst gab es alle seine Seiten und Unterlagen und Aus-
blicke in blitzartig wechselnden Bildern her ... Ja,
aus allen Kompositionen und dichterischen Werken
fühlte ich das Unvollkommene, das Spröde, das Abge-
rungene heraus. Und mich befiel schon beinahe ein
Grausen, wenn meinem Geiste all dies gelang, was ich
versuchte, wenn ich spürte, wie alie Dinge mir gerade
zuströmten und liebevoll, liebevoll entgegenkamen . . .

So hätte ich mich schon damals einsam und un-
verstanden gefühlt, schon damals, wenn die schönen
Frauen und Orazio nicht gewesen wären . . .

Die schönen Frauen, die waren mir ein rechter
herzerfreuender Trost in meiner alles überragenden
Vollkommenheit. Was sind das doch für ausgezeich-
nete, überaus treffliche Geschöpfe der Natur! Sie
stehn nur da, und man ist schon entzückt. Sie be-
wegen sich gar, und man gerät ausser sich, man
möchte sie in jeder Stellung, in jedem Punkte ihrer
Bewegung festhalten, um nur ihre Schönheit und die

gebeugten Linien voll geniessen, betrachten zu können
und doch möchte man auch den Gesamteindruck der
dahinfliessenden Veränderungen nicht missen. So ent-
steht ein reizender, nie befriedigter Zwiespalt der ße-
wundernng, und das Herz kann niemals ruhig werden.
Die schönen Frauen bewegen sich also und rauschen
in schönen wohlgefügten Kleidern und lächeln und
reden und reden und küssen. Da ist kein Ende und
keine Grenze ihrer Vollkommenheit abzusehen. . . Hier
fand ich endlich Vergleichspunkte für meiner eigenen
Seele Vorzüge und fürchtete eine Zeitlang nicht, mich
im Unmessbaren, in vager Riesenhaftigkeit und Eremitage-
Stimmung zu verlieren. . . Ich kann mich noch ganz
genau erinnern, wann mir dieser Trost genommen
wurde. Es war in einem Vortragsabend, und ich war
wieder einmal verurteilt, zu hören, wie sich der Dekla-
mator mit den Versen raufte, die er vorbringen wollte,
und zu empfinden, wieviel besser ich dies oder jenes
nein, alles bis ins kleinste herausbringen könnte. Ge-
langweilt schaute ich mich im Saal um, und mein Blick,
der über schöne Frauennacken in Seide, feine Rücken,
Hüftschwellungen und niedliche Lackreflexe im Schatten
der Sessel glitt, tröstete mein Herz Da . . . der
Deklamator hatte geendigt ... ein tobender Beifall
schlug Wellen durch den Saal. Und auch die Frauen,
die schönen vollkommenen Frauen . . . wie? auch die
Frauen applaudierten? ... Ja, auch sie. Und mi
einem Male erkannte ich eine Grenze an ihnen, an
diesen wohlgepflegten urteilslosen Körpern, ich hatte
einen Makel an ihnen auszusetzen und war leider über
sie erhaben. Erhaben, und verachtete nun alle Menschen
mehr als zuvor.

Wie ein Rubin in einem Schlotterhaufen er-
schien ich mir, wie ein Sternenabglanz im Morast.
Und von da an war ich bestimmt, alle Grade der
Menschenverachtung durchzunehmen Von der reiz-
vollen Ironie, dem unterhaltsamen Spotte an bis zur
grausamen Unzufriedenheit, zum quälerischen Hasse.
Alle Menschen, die ich vorbeigehen sah, schienen mir
nur geduldet, untergeben, nichtig. Auf die Kniee nieder
vor mir und seid froh, dass ihr kriechen dürft, so
schien es mir geboten, sie anzurufen. Es schien
mir Pflicht, sie an die Wahrheit, an ihre Niedrig-
keit zu erinnern .... Denn alle waren im unklaren
über dieses selbstverständliche tatsächliche Verhältnis.
Nun wohl, sie hatten mich gern, sie ehrten
mich und lobten meine Werke. Aber tausend unver-
gleichlich schlechtere Werke anderer daneben. Und wenn
ich selbst, um sie zu prüfen, einmal etwas Minder-
wertiges leiste, so lobten sie es ebenso und fanden
keinen Unterschied Sie bereiteten mir sanfte Erfolge,
etwa so, wie man ja auch die Oper Carmen zuerst
freundlich neben vielen anderen aufgenommen, eine
oder zwei Nummern daraus sehr beifällig angehört
hatte, ohne im mindesten die alles überragende Grösse
dieser Musik zu ahnen. Mich aber zwingt ein sonder-
bares Raum- und Ranggefühl, auf Ordnung und klares
Erkennen der Unterschiede unter den Menschen hinzu-
arbeiten. Ganz gewiss, wenn nicht ich der Hervor-
ragendste wäre, wenn Gott einen anderen mit so über-
aus hervorstechenden Eigenschaften gestraft hätte, so
würde ich als erster und feurig in seinen Dienst treten
und seine Herrlichkeit predigen . . . und, o, wieviel
glücklicher wäre ich da! Aber weg mit diesen senti-
mentalen Regungen und Riegeln des Geschehens Ich
muss, ich muss, und wenn es mich noch soviel Ueber-
windungen meiner Scham, des Mitleids, aller Gefühle
kostet, wenn ich auch alle missverständlichen Vor-
würfe der Eitelkeit und Selbstsucht und des Grössen-
wahns über mich ergehen lassen soll, ich muss ver-
künden, dass ich den höchsten Gipfel der bisherigen
Menschheitsentwicklung darstelle. Ich muss alle auf-
fordern, zu mir emporzublicken und zu mir empor-
zusteigen. Es ist meine heilige Aufgabe, Klarheft
Klarheit zu bringen; das Aristokratische zu lieben, das,
was sich abstuft und differenziert, die reinlichen über-
sichtlichen geometrischen Figuren, das Schema der Be-
gabungen. lch will ziffernmässige Resultate um mich
sehen, keine chaotischen Massen, nein, nicht diese
dumpfen vornehmen Verkennungen des Realen.

Und schon damals hätte ich mich ganz einsam
und unverstanden gefühlt, schon damals, wenn der Ge-
danke an Orazio mich nicht getröstet hätte.“

Orazio war ein berühmter Weiser und Dichter in
einer kleinen Stadt Mitteldeutschlands, an einem Fürsten-
hofe. Altes, was er anfasste, gelang ihm überaus kunst-
voll. In allen Tätigkeiten des Geistes hatte er schon
das Aeusserste geleistet. Aber lassen wir darüber den
einzigartigen unglücklichen Menschen, der uns bisher
erzählt hat, selbst weiter berichtenl

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