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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 49 (Februar 1911)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [9]: Ein Volksroman$dVon Paul Scheerbart
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König, Moritz: Pubertät
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0396

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grasfabrikaten zeigten; Seegrasfabrikate, die in ihren
braunen Naturfarben gelassen waren und sich durch
sehr zierliche Adern auszeichneten, bildeten die Haupt-
-teile der Muster.

Die Lotte sah garnicht von ihrer Arbeit auf, dachte
aber dabei immerfort an ihren Moritz, der jetzt Kaiser
in Ulaleipu spielte und wenig von sich hören liess.

„Er soll schon staunen, wenn er wiederkommtl“
sagte sie dann leise und sie lächelte dabei, und ihre
strahlenden Augen schauten zum Fenster hinaus und
sahen draussen auf der Strasse die geheimen Regierungs-
sekretäre von Möllerkuchen und Käseberg, die eifrig
miteinander über die neuen Zustände sprachen und
die Oberbürgermeisterin hochachtungsvoll begriissten.

In Ulaleipu sass währenddessen die Kaiserin Cäcilie
in ihrem Ankleidezimmer und fragte ihre Zofe, ob denn
noch immer nicht das Pelzzimmer gereinigt sei.

„Die Luftpumpen“, sagte die Zofe, „saugen noch
immer den Staub auf, aber die Geschichte hat bald
ihr Ziel erreicht.“

Und als das nun geschehen war, begab sich die
Kaiserin in ihr Pelzzimmer und setzte sich vor das
weite offene Fenster und blickte auf den schwarzen
See hinab und zu den grossen Bergen hinauf und
hinüber zu den vielen Häusern der Residenz, die an
den Bergabhängen bunt und vielkantig leuchteten wie
Edelsteine.

Das Pelzzimmer bestand an den Wänden und an
der Decke und auf dem Fussboden aus lauter kost-
baren Pelzen, die immer durch Luftschläuche, die sich
mechanisch von der Decke herunterbewegen konnten,
vom Staube befreit wurden; die Schiäuche hatten vor-
züglich funktionierende Staubaufsaugungsapparate.

Die Kaiserin sass an ihrem offenen Fenster und
dachte an ihren Gemahl, der garnichts von sich
hören liess.

Aber sie war über das Schweigen ihres Gemahls
keineswegs ungehalten; sie las nun in einem alten
Märchenbuche, das in wolkig buntgefärbtem Pergament-
bande auf einem geschnitzten Elfenbeintische vor der
Kaiserin lag das Folgende:

„Die Zwerge aber machten der Prinzessin ein
Armband aus glühenden Steinen, die immer wieder in
anderen Farben leuchteten und eine feine prickelnde
Wärme ausströmten, ein kostbares Armband — und
mit diesem Armband konnte die Prinzessin tausendmal
schöner die Geige spieien, als alle ihre Musikanten.“

„Aehnliches“, sagte die Kaiserin fiir sich, „haben
wir jetzt im Kaiserreich Utopia schon in Wirklichkeit.“

Der Mond ging auf und spiegelte sich im schwarzen
See, und die Kaiserin liess das Lesen sein und blickte
hiniiber zu den Häusern der Stadt in denen jetzt die
Abendlampen angeziindet wurden.

Fortsetzung folgt

Pubertät

Von Moritz König

Unsäglich Vieles darf nicht erlebt werden. Viel-
mehr von glatten, bräunlichen, lachenden Menschen im
Gleichgewicht nicht geahnt werden. Niemals widerfuhr
Schimpfliches diesen Gutfrisierten Manchmal ist Einer
unvermerkt weg. Niemand folgt. Man würde ja heisere
Schreie, rollende Verzweiflung hören. 1m letzten Akt
sieht Niemand mehr den irrsinnigen, abgelöschten Blick.
Erst im Abendblatt wird die kurze Notiz erträglich.
Reinlich-schicklich schmiegt sich das Unglück in vier
Zeilen. Längst sind wir aus dem spiegelnden Ver-
gnügungssaale fort, wenn sich die Ambulanzpfeife bis
dorthin durchgewimmert hat. Immer im Nebenraume
liegt der Tote Aber nicht jeder wird tot. Dann
reden wir mit ihm wieder. Wenn er wieder bräunlich
ist, wieder sagen kann, er war über den Sommer
dort und dort, habe i.eute jenes Weib besessen, dieses
Geschäft gemacht. Die Frauen auch. Wir starren
auf das Prinzesskleid, auf das Eisschäufelchen, von
feinen Fingern gehalten. Irgendwo liegen schönere
als hysterische Bündel am Boden. Oder sie werden
geschlagen Sind vielLicht jetzt im uterinen Fieber
mannstoll. Wir aber starren nur auf jene, die gerade
jetzt unnahbar sitzen. Auf Piüschbänken und das
Eisschäufelchen in den Fingern. Vor der Zerrissenheit
wird uns unheimlich. Wir ziehen eine Uhr heraus
und sagen, dass wir dort und dort zu tun haben.

Lüge — Feigheit. Uns hat nie eine grosse schwarze
Welle umfasst, nie etwas zum Keuchen gebracht, bis
Leben und Selbstmord wie A und B, wie C und E

waren.Der Zwanzigjährige öffnete nachts

die Augen und sah vorschwebende weisse Gebilde.
Sekunden Dann erstand die Körperwelt, vier senkrechte
Mauerlinien des Schlafkabinets, von gelbem Laternen-
schimmer der Strassse konturiert. Das kannte er und
schloss verzweifelnd die Augen. Die heiterweisse
Steintreppe zwischen duftenden Goldfruchtästen kam
nicht mehr. Nichts mehr vom seligtiefen Blau über
hohen Kolonaden und vom fernen grünen Meerstreifen
mit rötlichen Inseln. Wo war das Mädchen mit dem
sprechenden, tiefen Blick? Sie hiess „Amine“ und war
ihm oft mit denselben lächelnden Zügen erschienen.
In einem deutschen und einem indischen Traum.

Wie wund von dem letzten, ins Tiefste dringenden
Rätselblick richtete er sich auf. Die Süsse, die Süsse,
dachte er. Warum hatte sie ihm mit dem weissen,
schmalen Finger gewinkt? lm herriichsten Gleichklang
war sein Empfinden mit stolzesten Wünschen Der
Sinn seines Lebens enthüllt. Und Alles fort. So
treulostraurig war dies. Draussen das Knarren war
eine Strassenbürste. Da war noch die Federdecke.
Sie bildete, wenn man genau hinsah, die Form weisser
Brüste, die er schmerzlichwild berührte. Noch einmal
hob er den Kopf War vielleicht ferneher das Giöck-
chensprühen indischen Marschspiels noch zu hören?

Morgens erschien er müde, mit Kopfschmerzen an
seinem Schreiberpult. Die sachiichen, kalten Elemente
des Tagwerks drangen in sein Wesen. Die Phantasie
blasste ab, verfiel Auf dem Tische lagen Papiere,
Akten: Individualitäten. Die Person war nichts. Dort
das Teiephon, drüben die weisse Tafel „Chefzimmer“.
Gegen zehn Uhr kam die Bedienerin und begann den
Ofen zu räumen. Sie war eine fünfzigjährige starke
Matrone. Zwei Jahre hatte er sie nicht beachtet, in
ihr eine alte Frau erblickt. Jetzt zitterte er und ver-
mied, ins Tiefste erregt und beschämt, sie anzusehen.

Mittags ass er wenig. Als die Uhr gegen Sechs
rückte, erfasste ihn immer mehr drängende Fucht, eine
grosse Lockung. Eine Viertelstunde der Engung schied
ihn noch vor der Lustpforte, die sich weit vor ihm
öffnete. Das Bild eines Lackschuhs, der breite, vier-
eckige, mit Steinchen besetzte Schnallen besessen hatte,
verfolgte ihn. Er sah ihn am Fusse einer jungen
Frau im dunkelbiauen Paletot. Noch etwas erwärmte
in sanft in der Erinnerung. Ihre aus Spitzenbesatz
hervorblühende weisse feine Hand, die den knappen
Rock glatt zur Seite spannte.

Um dreiviertel Sechs gab er einem dumpfen,
stundenlang hartnäckig befestigten Vorsatz nach und
klopfte an die Türe des Chefs. Der kurze dicke
Mann sass tief über das dichtbedeckte Pult gebeugt.
Der junge Mensch glaubte lächeln zu müssen, indem
er um Vorschuss bat. Sein Blick haftete an einen
eigentümlich geformten Petschaft, die schwere Gedanken
an mittelalterliche würdevolle Kanzleien hervorrief.

„Wieviel?“ Der Chef blickte nicht auf.

Er wusste, dass er das sagen müsse. „Zehn,
fünfzehn?“ Dachte er sinnlos. „Zwanzig“, antwortete
er mit einer Stimme, in der Heuchelei, Zuvorkommenheit,
zwingendes Bitten lag. Der Chef legte ihm wortlos
eine Note hin. Er dankte mit qualvoilem Zorn gegen
sich. Nie hatte er Vorschuss genommen, aus irgend
einem Prinzip keine Gefälligkeit veriangt. Wozu die
widerliche Szene des Gelderbittens ? Zwei Tage vor
der Zahlung?

Auf dem nahen Park lag Mattigkeit und Staub.
Regen stand bevor. Die Bänke waren von allerlei
Stadtvolk besetzt. Alle diese Leute waren im Gfeich-
gewicht Dem Nächsten, der Viertelstunde ergeben,
mit Zeit und Gelegenheit verwachsen. Ein Soldat und
ein Mädchen sprachen abseits miteinander. Das Mäd-
chen war gross und hübsch und trug eine weisse
Schürze Also ein Soldat findet so etwas. Er entsann
sich seiner eigenen Erlebnisse mit Mädchen — Ver-
hältnisse eigentlich doch zu nennen Sie erschöpften
sich in abendlichen Begleitungen, Ineinanderpressen der
Hände, gegenseitigem Lächeln, durstigen Blicken. Die
vom „wilden Mann“ am dreissigsten Oktober eintausend-
neunhundertundsieben. Bei der Quadrille sah sie ihn
so erwartend an. Er verbeugte sich vor ihr, und sie
lag ihm schmiegsam in den Armen War denn mehr
zu wollen? Im Volksgarten war ein Mädchen gewesen,
das sich mit ihm zum ßurgtheater bestellt hatte. Ein
prachtvoller Sprechnachmittag war ihnen im Bankschatten
vergangen. Dann war sie nicht mehr zu sehen. Vier-
zig Abende hintereinander ging er vergeblich durch
irgendeine bestimmte Gasse. Dann vergass er.

Er verliess den Park und ging den beleuchteten
Hauptstrassen entgegen. Funkelnd und lärmend umgab
ihn das Abendtreiben. Durch öde Häuserpassagen mit
toten, dunklen Stadtgärtlein, kam er auf grosse Alt-
plätze hinaus. Ein Schuster bei der kieinen Lampe
rührte ihn. Wie der abgekehrt vom Leben da sass
und hämmerte. Er war sicher verheiratet. Das musste,
soviel begriff er, friedvolle Ruhe geben. Ein kleines
Zimmer, aber eine Frau war darin. Eine Frau war
darin. Und es kam sicher zu verschwiegenen Liebes-
dingen in der kleinen Wohnung

Er hatte ein koloriertes Bild vor Augen, das er
als Fünfzehnjähriger im regenfeuchten Haushof zwischen
Packkisten oft betrachtet hatte. In einem rot und
grün gemalten Zimmer sass ein junges Wiener Mädchen
im leichten, lüsternen Kostüm Er wusste noch das
Buch: „Friedling mit dem Brandmal“ von Anton
Langer.

Im Schein der elektrischen Sonnen atmete die
Strasse jetzt heftiger. Fledermausmenschen durch-
stiessen die durchsichtige Luft In schwarzen Ecken
mit gelben Leuchtgläsern verloren sich Mädchen, Frauen,
mit üppigen Armen; wie verschlungene Schlangenglieder
glitt es durcheinander. Ab und zu rollte ein Lachen
auf, segelten ihm brennende Mädchenaugen entgegen,
flog ein flinker Fuss, reizvoll in dünnen Strümpfen.
Er war mutios. Späten Abend verrieten schon ödere
Strassen, gefüllte Musikstuben, als ihn ein lächelndes
Gesicht, zwei Reihen kleiner Zähne, entdeckten. Aus
dem Torschatten heraus ahnte er eine junge, hübsch
gekleidete Person. Es befiel ihn wie Feuer. Er blickte
gleichgiltig starr aus und schritt raschen Gangs davon.
In einer Anwandlung stupiden Jünglingsstolzes, plötz-
licher Koketterie, sah er sich nicht um, obwohl ihn
das Erlebnis erregte und obwohl er fühlte, dass ihm
dieses Weib unrettbar verfallen sei. Er wusste nicht,
weshaib er forteilte. Nur jetzt sich nicht entschliessen,
nur jetzt die Freiheit der Entscheidung wahren. Eine
feine, vorahnende Laszivität, Erwartung unverlierbarer
sicherer Freuden war in ihm. Er durchschritt die
nächsten Strassen Das Tor, vor dem sie stand, hatte
Nummer dreiundzwanzig. An dunklen engen Gässchen
kam er wieder vorüber. In einer selbstquälerischen
Wonne sparte er sich die Rückkehr auf, malte sich die
nächsten Stunden aus. Ihm war, als wäre alles Trübe,
Verschleierte der abendlichen Stadt gewichen.

Zagend kam er dann zurück Sie war nicht mehr
da. Ein Reuegefühl, tiefer Schmerz drang auf ihn ein.
Da hörte er ein helles Gelächter. Und er fühlte einen
leichten Schlag von rückwärts auf der Schulter. Sie
war es und hatte ihn sogleich erkannt Seine Füsse
wurden schwach, er fühlte sich widerstandslos. Sie
war also sein Schicksal Er als Bettler vor seiner
Meisterin, nachdem er in idealer Mädchenverehrung sich
fest und sicher geglaubt hatte.

„Bist doch zurückkommen“, sprach sie ihn an.
„Na, bist ja doch ein braves Burscherl.“

Seine Verworrenheit fiel ganz ab, sein Ungemach
schmolz. Vor dieser wirklichen Frau zog Sicherheit,
Festigkeit einher. Er entsann sich einer Zigarette und
zündete sie an. Gesicht und Gehör schärften sich
Als sie vor ihm über einen dunklen, schlecht erhellten
Gang schritt, erwog er blitzschnell die Möglichkeit,
einfach fortzulaufen. Sie schlüpfte über die Treppe
hinauf und raffte den Rock. Verwirrend leuchteten
schwarze, schlanke Gelenke entgegen. Darüber ge-
bauschtes, knitterndes, rauschendes Weiss. Oben erlosch
das Licht. Er blieb im Dunkeln.

Sie suchte nach einem Streichholz. Einen Moment
war ihm wie einem sonderbaren Sünder Kinderjahre,
Schulzeit drängten sich in sein Denken, Erlebnisse,
Szenen, Abende, Nächte. — Das alles mündete also in
diesen dunklen Gang.

Er trat hinter ihr in das Zimmer. Sie drehte den
Schlüssel um. Sie waren allein. Wilde, abenteuerliche
Lust, tierhafte Gewaltempfindungen strömte diese Ein-
samkeit aus. Er sah billige, dunkle Einrichtungsstücke.
An den Wänden ein Gobelin und zwei Farbendruck-
bilder, Aphroditen, Nymphen. Ein Rechen an der Tür
hing voll Frauenkleidern. Auf dem Tisch Photo-
graphien. Ein Kind. Ein Mann in Uniform. Eine
schwarze Lederbörse, daneben ein silberner Ring, den
er verlegen betrachtete.

Sie hatte den Hut abgehoben und war mit ihren
Haaren beschäftigt Er verwandte keinen Blick von
ihrer Gestalt. Sie hatte giänzende Augen. Das Ge-
sicht erschien ihm bleich, die Umrisse der Figur mochten
auf schlanke Festigkeit slavischer Weiber deuten. Zag-
haft fasste er ihren Arm und berührte sie, wie man

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