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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 31 (September 1910)
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Przybyszewski, Stanisław: Das Geschlecht
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Pukl, Eduard: Slawische Arbeiterin
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Döblin, Alfred: Astralia
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0250

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E» ist der heiße Qolf, der das Eismeer schmilzt,
die Erde fruchtbar und sie zum Eden und zur Hölle
für das Menschengeschlecht gemacht hat.

Es ist jener mythische Ozean, der das ganze
All umschließt und mit seimen liebenden Ärmen
umfangen hiäft.

Es ist das einzige Unterpfand und die einzige
Qewißheit des Göttlichen im Menschen.

* *

Mythofogie, Mythologie!

Und vielleicht nicht. . . .

Wenn man jegliches, gleichviel welches Oefiihl
auf seine Bestandteile hin analysieren, es in seine
Atome und Mofeküle zerlegen könnte, wiirde man
sicherlich auf tausend Bestandteile neun Zehntel
finden, die das Geschlecht in Bewegung gesetzt hat.

Verborgen, unfaßbar fiir das Auge der Tages-
seele, Verborgen in dem Meere kaum aufleuchtender
Ahnungen al!s tiefste und urewige Welle des Un-
bewußten, koCht eS' und sprudelt und wirft ab und
zu heißen Qischt hinauf in seiner herrlichen Macht,
ab und zu — denn es offenbart siCh in seinen tiefsten
Gründen einem von Tausenden, wie jene sirifvu>an
toü äpf r'.o» u.s-(i=i>ou; die der große BaSilides, der Vater
der QnoSis, verkiindigte.

Die Macht des Gesch Iechtes, klar, deutlich und
feicht faßbar in manchen Qefiihlen — verschwom-
men und kaum erkenntl'ich für das arme, beschränkte
Menschenbewußtsein in so vielen anderen, unendlich
komplizierten; dann wieder ganz und gar versteCkt
und nicht mehr erkennbar in jenen Gefühlssblitzen
und Gefühlskomplexen, die infolge fortwährender
Wiederholüngen zu einfaChen Reflexen herabge-
sunken sind — diese MaCht ist nichtsdestoweniger
gleich offenkundig in der Liebe wie im Haß, in
dem Herdentum wie in der Feigheit, in der Mutter-
schaft wie in dem Von der Wärme des Geschlechtes
erhitzten, Sublimen Egoismus der Sozialinstinkte:
gleich groß und schön ist diese Macht in jedem Ge-
sChl'echtsakt des „Wissenden“ (das heißt Eines, der
um die Schönheit des Geschlechtes weiß), wie in
der höchsten Offenbarung der menschtichen Seele;
in der Rhythmik, Harmonie, Melbdik — in der
Musik!

Dem Einen läßt es die Muskeln schwellen zu
unfaßbaren Kraftanstrengungen, dem Anderen
weitet es die Seele bis an die Qrenzen des Trans-
zendentalen; den mensChlichen Gedanken potenziert
es bis zur göttlichen Macht des ersten „Werde“,
aus dem Clbwn maCht es einen Schöpfer, der Feige
wird unter seinem Einfluß zum Helden, und ein
beschränkter, engherziger Seifensieder wird zum
Wohl'täter der Menschheit, eine dumme Gans zur
Märtyrerin.

Es existiert in Milliarden von wechselnden For-
men, es feuchtet und verwandelt sich in alle Regen-
bogenfarben, esi. kleidet sich in tausend Namen,
tausende ahnender Gefühfe, die sich nicht in Worte
fassen lassen; aber überall ist es da, eine unteilbare
Kraft gleich jenem hypothetisehen Aether, der das
All durchdringt: und das sichtbare Symbol für sein
ailmächtiges Wirken und Schaffen, sichtbar seibst
für die, die zu blind sind, (um es in jedem Ge-
danken, jedem Gefühl, jeder Aeußerung, jedem
Reflex der mensChlichen Seele zu erblicken — das
ist der Geschfechtstrieb, und seine Auslösung,
Vollendung: der Geschlechtsakt selbst.

Die absol'ute Macht und die absolute Schön-
heit, wefehe Welten schafft, sie zerstört, um sie
in noch höherer Vollkommenheit erstehen zu lassen,
offenbarte sich in gteich großer Schönheit bcini
MensChen in der Quelfe der höchsten Lust und zu-
gleich seiner höchsten Kraft — jener Kraft, welche
die Allgewalt der Natur unterjochte, die Höllen-
tnacht der Gebirgsströme eindämmte und sie jn
unzerreißbare Fesseln schlug, die Berge durchbohrte,
dasi Meer und die Lüfte zu gehorsamer, unter-
würfiger Demut zwang, die durCh die organischle
Projektion in Kolben und Zylinder die Maschine
erschuf und des Menschen Arbeit fast überflüssig
gemacht hat.

Solcher Art ist die Macht und Schönheit jenes
Wunders, das man mit Ehrfurcht in dem Ge-
schlechtstrieb zu erblicken hat.

Und wo auch immer, und auf welche Art auch
immer sich dieser Geschfechtstrieb äußert, ob jn
der Kopufation chemischer Atome untereinander,
in der ewigen Verbindung und ewigen Trennung
alfer Elemente oder in der körperlichen Vereinigung
zweier Lebenswesen zu einem unzertrennlichen Eins
in der ewigen, gottsuchenden Sehnsucht, oder in

dem Bestreben, die zerstörten Bande, dfe uns mit
der Gottheit verbinden, wieder herzustelfen, sei es
durch die Kunst oder die Religion — überall und
immer ist der Geschlechtstrieb eine Emanation der
höchsten Schönheit, und schön ist der Akt, durch
welchen der Mensch sich seines göttlichen .und
metaphysischen Ursprungs bewußt wird.

Schluß folgt

Slawische Arbeiterin

Schäu diese Falte! Du, kleine Arbeiterin,
hast sie gegraben.

Fröhlich singend,

mit den Gefährtinnen plaudernd

und hier und dort aufschauend von der Arbeit,

um zu den kräftigen,

sChwarzlbckigen

Erdarbeitern

hinüber zu schielen,

afeb sChufst du dein Werk.

Tief ist die Furche und gut ist die Arbeit;
gut, wie immer die Arbeit ist
einer gedankenlbs, einer gefühllos schaffenden
slawischen Taglöhnerin.

Komm, kl'eine Arbeiterin!

Der Pfan des Bauherrn der Welt
war schlecht angelegt

und du sollst die Grube wieder verschütten.
Komm nur, mein Lieb!

Leg mir die Hand
auf die heiße Stirn
und alles ist wieder gut.

Eduard Pukl

Astralia

Von Alfped Döblln

Herr Götting, Adolf Götting, Privatgelehrter,
wohnhaft Albrechtstraße 15, drei Treppen rechts
bei Frau Schülke. Er sitzt in seinem Zimmer auf
einem Sofa und läßt sich von der Lampe wärmen.
Ein gedrücktes Männfein mit verschrumpeltem Ge-
sicht, gefblich, entzündeten Augen und rascher
weicher Stiinme. Seine Finger spielen mit den
Fransen der braunen Wolldecke, welche über seinen
dünnen Beinen liegt.

Mit kurzen Handbewegungen befehrt das Männ-
fein seine Frau, ein blasses angenehmes' Wesen,
wel'ches ihm gegenüber auf einem Stuhl mit ge-
falteten Händen s'itzt, daß Uebung die Grundlage
der Kultur sei und daß es wisse, was es sage. AuCh
wirke der Most erfreulfeh auf Magen und jegliche
Schleimheit und werde wahrscheinlich im Darm zu
Wein umgewandelt. Die Kraft des Lebens zur Ver-
wandlüng sei unermeßlich. Es wisse, was es sage.

Sanft haueht die verblühte Frau etwasi über
feuchte Herbstwitterung, über Aufregungen einer
Sitzung, über vieles Trinken.

Indessen hebt das katarrhalische Männlein lang-
sam mit gespreizten Fingern die Wolldecke von
seinen Beinen auf, fegt sie neben sich auf das Sofa.
Schlürrend, mit geknickten Beinen geht esi an das
Fenster, öffnet es mit Knarren und sieht in den
Nachthimmef.

Seine Stimme klingt geduldig und fromm.

„Ich slollte dich nicht anhören, Elfriede. Du
weißt nicht, was du sprichst.

Heut ist Neumond. Du verstehst mich.“

Er sagt das: „Heut ist Neumond“ ganz ein-
fach, ohne Pathos.

„Das Gemüt, das Gemüt. Wenn wir das Gemüt
bereit halten, häben wir alleS getan. Heute ist
Neumond. Von innen herauS werde ich alles über-
winden. Wie ich schon manche Bedrängnis über-
wunden häbe. Und der Most“ — mit einmal schlägt
ein EntzüCken in seiner Stimme auf und Feierlich-
keit —, „siehst du es nicht? Das Gemüt wird
geölt durch ihn; eS wird behende gemacht, und
dann kann es frei springen, in die Luft, wo |es
fre iist. Da kann es hin springen. Oder auf die
Felder oder in die Kartoffeln — das ist ganz egal.
Und noch anderes, ja Elfriede: es kann zwitschern,
daS Gemüt, für alfe älle Ohren zirpen, zwitschern,
gläubwürdig singen.“

Das Licht flackert, die Lampe blakt.

Aber alä die bekümmerte blasse Frau ins Licht
sieht, seufzt das Männfein.

Das sanfte Wesen weht auf das Männfein zu,
bindet ihm einen braunen, sChwarzgestopften
Strumpf um den Halä.

„Zieh dich warm an, lieber Adolf. Nimm dir
auch eine Leibbinde um; sie lfegt auf deinem Bett.
Ach, das länge Ausbleiben nachts. Nein.“

Das aufgeschwemmte liebevolle Nichts Läßt sich
von dem Männfein die Hände drüc'ken und ver-
schwindet aus dem Zimmer.

Herr Götting, Adoff Götting, Privatgelehrter,
wohnhaft Albrechtstraße 15, drei Treppen hoch, bei
Frau Schülke. Verfasser einer Geschichte der haupt-
sächlichen Fehler im menschlichen Handeln seit
dem Sündenfall bis zur Gegenwart, Verlag SChultze
und Velhagen, Berlin neunzehnhundertunddrei, drei-
hundertundsiebendzig Querseiten, gebunden vier
Mark, Mitglied mehrerer frommer Vereine. Grün-
dete die frefe BrüdersChaft: „AstraMa“, larbeitet
augenblicklich über „Dasl innere Leben und seine
körperlfehe Darstellung“. Er geht jetzt im dicksten
Dunkel, schweren Nebel, auf dem Wall der Stadt.
Er geht spazieren, weil er Denker ist. Er weiß,
daß er Denker ist; seine Frau weiß es niCht.

Der gedrückte kleine Herr geht unter den
schwarzen Ulüien und preßt sein Taschentuch gegen
Mund und Nase. Er ist kein Spaßdenker, mehr als
ein Denker, ein Verkünder, ein Seher, der seine Zeit
abwartet. Er sChlendert behaglich und froh, mit
einer gewissen SehnsuCht; er nimmt mit seinen
kleinen Augen Gedanken von den Bäumen herunter
wie Aepfel. Die JaTire sind ja vorbei, wo etwas
Bitteres, SChwarzes neben den Ulmen hier kroch,
abends, und die Hände ausstreckte. Man war stiM,
wenn er redete, aber bald kieherte man und stieß
sich an. Und das Gucken und Quietschen ünd
unterdrückte Gelächter, wenn das! Alräunchen ein-
tönig seine Lehre hersang, seine Bußsalbadereien,
mit den längen Armen fuchtelte, plötzlich abbrach
und starr in den Lärm hineinhörte. Zu Hause
versteckte es sich dann und sann über das Gebaren
der Leute nach. Dasl verdüsterte Alräunchen konnte
die MensChen dann hassen, drohte ihnen, aber
erschrak bald über seinen Rachedurst und weinte
verzweifelt, weil ihm doCh die Kraft nicht gegeben
war.

Eines Tages a’ber wird ein Wunder geschehen,
darum sChleift es jetzt sehnsüchtig unter den Ulmen
in der SturmwindnaCht; da werden sie gläuben
und nicht spötteln. — An einem angststarren Abend
ist ihm das zur Gewißheit geworden. Von innen
heraus wird es ihn ergreifen, berühren, wenn das
Gemüt sich hoch genug gestaut hat; es wird ihn
verwandeln, er weiß selbst nfeht wie. Seine Arme
werden niCht mehr dünn, lang wie Affenarme sein;
seine Stimme nicht mehr krächzen. Ein Heiligen-
schein wird über seinem Kopfe stehen. —

„HaMoh, der Segen Gottes mit dir und alle (guten
Geister.“ Die kfeine BrüdersChaft, ehrbare jdicke
und dünne Männer, erhebt sich vor ihrem Vor-
sitzenden in der niedrigen Schenke am WaH.

Sie trinken Most aus HoIzbeChern, preisen die
unsterblfehe Seele. Eins spricht nach dem andern.
AMe Güter müssen geteilt werden, und das Töten
Von Tieren ist Mord, und wenn man niCht bafd
in siCh geht, steht der Weftuntergang bevor.

Sie trinken Most. In den plümpen sChmutzigen
Händen halten sie blaugeheftete Gebete, singen „ich
weiß, daß mein Erlöser lebt“, und er ist nahe, mit
einer Fußsohfe steht er schon auf der Erde.

Sie rauchen aus langen schwarzen Pfeifen mit
Totenköpfen, quahnen heftig.

Ein gedrücktes Männlein mit verschrumpeltem
gelben Gesicht, entzündeten Augen und rascher,
weicher Stimme steht an einer Ecke des Tisches auf,
mit geröteten Wangen.

Es ruft in das erregte Glläserklirren hinein;
daß der Prophet nahe sei, daß der erwartete die
Ungläubigen niederstürzen werde, Völker und Kö-
nige und Brüder. Er müsse kommen bald. Der
süße Trank beselige es. Im Stillen habe das Zu-
künftige sich vorbereitet, gl’eichsam wie das Kind
in einer Schwangeren; wer wisse, in welchem Leid.
Es versfehere die Brüder, es sei so. Der große
Krieg werde ausbrechen, in dem die Menschen sich
gegenseitig vernichten; schon sei die Spannung auf
Erden nicht mehr zu steigern, schon starre jdie
Welt in Rüstung, und nur die Friedfertigen blieben
übrig. In den Wolken stünde sChon der Heiland,

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