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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 19 (Juli 1910)
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Stoessl, Otto: Jugendromane
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Zur subjektiven Heineforschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0156

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lustvoll geduldigen Sinnen ist der epischen Natur
der Jugend gemäß.

Wie selbstverständlich, daß der epische Dich-
ter vor allem die epische Zeit erfaßt. Die Erleb-
nisse der Jugend, das ungeheure Anwachsen der
Tag um Tag sich steigernden Erscheinungswelt, die
Macht und Willkfir ihrer Deutung, das Zusammen-
drängen einer unermeßlichen Erfahrungsreihe in
einen .knappsten Zeitraum, die allmähliche innere
Erleuchtung und Ordnung der Bilder zu Wesen-
heiten, Gliederungen, Notwendigkeiten, dies alles
ist eine so großartige Gegebenheit des Schicksals,
daß der Dichter an der Betrachtung der Jugend des
Weltgeschehens selber und an der bewußten Nach-
schöpfung des Jugenderlebens des Maßes der Reali-
täten selbst inne wird. Es ist der eigentliche Zauber
des Epischen: Alles menschliche Treiben und Ge-
triebenwerden, Tun und Leiden in seinem Neben-
und Ineinander wird freudig umfaßt und alles
Dunkie, Grauen, Tod und Chaos erscheint als iust-
volle Buntheit. Die Konflikte, und führten sie bis
zur Vernichtung, erneuen sich in unerschöpflicher
Wiedergeburt, die Pein der Erfahrungen hat nur die
freudige Folge immer wieder erweckter Anschau-
lichkeit. Im Epos triumphiert alle Vielstimmigkeit
und Unverwüstlichkeit der Existenz. Und dies alles
ist Wesen und Vorrecht der Jugend. Ihr allein ist
die wunderbare Widerruflichkeit und Wandelbar-
keit der Anschauung und Wertung gegönnt, nur
von ihrer Schultafel wird jedes bittere Erkennen
hurtig ausgelöscht, während der nächste Eindruck
eine neue geduldige, reine Fläche findet, sich darauf
einzuzeichnen. Das treueste Gedächtnis gehört
dem fliichtigsten Gemüte an, welches aus jeder
Nahrung Gewinn zieht, aus Träumen Wahrheiten,
Hoffnungen aus Enttäuschungen, Erfüllung aus Ver-
zichten, heiliges Ungenügen aus allem Erreichten
schöpft. Wenn es Sache des Dichters ist, aus einer
kleinen Wirklichkeit eine große, aus einem Tropfen
von Erlebnis ein Weltmeer von Inhalt, aus einem
gelegentlichen Eindruck eine Ewigkeit von Stim-
mungen, aus einem vereinzelten Samenkorn von
Geschehen einen Baumriesen von Schicksal er-
wachsen zu lassen, so gehört all diese geniale Will-
kür der Jugend zu, als der einzigen Epoche, wo
jeder Mensch, Freiheit, Unbewachtheit und Gesund-
heit vorausgesetzt, sich schöpferisch, also genial
' owährt. So scheint die Jugend allein und unbedingt
m Dichter inmitten der rationalen Dürre, auf die
erwachende Frage nach seinem Wert und Sinn die
heitere Bejahung zurückzugeben, deren er bedarf.
In ihr findet er die geheimnisvolle Rechtfertigung
seiner Funktion, seine menschheitliche Billigung. Ist
dieses Alter der willkürlichen und selbstherrlichen
Wertungen um, so beginnt der törichteste Ernst des
Lebens, der das gewagte Spiel des Schaffens um
seiner selbst willen zu nehmen unfähig, fordert statt
zu empfangen und mit Nutzbarkeiten und Zwecken
durch das Inkommensurable pflügt.

Kein Lebensalter hat einen so weiten Horizont
wie die Jugend, und keines hat so wie sie die Flügel,
ihn ganz zu durchmessen. Dichtung und Dichter
werden in ihr eins, und mit der Sehnsucht nach der
Jugend strebt die Seele des Schaffenden gleichsam
nach ihrem natürlichen Leibe, nach ihrer wesen-
haften Erfüllung zurück.

Nun ist das mit dem Namen „Jahrhundert des
Kindes“ stigmatisierte Zeitalter freilich auf dem

besten Wege, der Jugend ihre Seele, der Dichtung
ihr Paradies zu verleiden. Das kindische Treiben
der Erwachsenen droht nachgerade mit einer Sen-
timentalität, die Roheit und Dummheit selbst ist,
das Kindliche auszurotten, es beleuchtet elektrisch
die Märchendämmerung der Kinderstube und nötigt
der Phantasie innerer Gesichte seine eigenen Brillen
auf, durch welche die Jugend künstlerische Bilder-
bücher zu würdigen bekommt. Dem geheimnis-
vollen Riflgen der Seele mit den drohenden Gewal-
ten der Sprache und der Wirklichkeit antwortet das
idiotische Lallen und Nachäffen der herablassenden
Erw rachsenheit, welche den Schritt des Frühling
hygienisch gängelt und die herrlichen Schluchten
des Erlebens ebnet. Human sollen die notwendigen
Schrecknisse des Heranwachsens vermieden, aus
dem Urwald ein ärmlicher Garten zugerodet und
eine chinesische Mauer vor die Unendlichkeit der
Welt gebaut werden, so daß all die wahrhaften Un-
geheuer, denen das Kind allein mit dem gerechten
Entsetzen der Intuition gegenübersteht, zu kümmer-
lichen Popanzen eindorren. Mit- und wehleidig ver-
dirbt die reife Torheit das erhabene Grauen des Er-
lebens zum Ammenmärchen und ist drauf und dran,
aus der Geschichte des menschlichen Daseins den
ersten und letzten Traum zu vertreiben. Die
geistige Unzucht des Rationalismus demokratisiert
jene letzte sagenhafte Welt der adeligen Kämpfe,
Vorrechte und Freiheiten und unterwirft sie der
eklen Humanitätsfolter der Bewußtheit, Zweck-
mäßigkeit und Spitalssterilität. Welch ein Trost, daß
es noch Bazillen gibt! Die Bürgschaften der
Hygiene breiten das graue Leichentuch der Sekuri-
tät über ein kindisches Jahrhundert.

Sicherlich ist es ein Zeichen dieser Zeit, daß die
Jugend als epischer Urstoff noch einmal mit solcher
Vielstimmigkeit von allen Seiten her aufklingt, wie
ein Ietzter Ruf, eine Frage des Schicksals. Noch
einmal wenden die Dichter ihren Blick nach dem
Morgenrot. lndessen weiden die Esel im Spitals-
garten und treten die Ietzten Primeln und Märzen-
becher als unnütze Gewächse mit den Füßen.

Zur subjektiven Heineforschung

Nur um der Hoffnung willen, daß Professor
Adolf Bartels die Aufstellung eines Heinedenkmals
auf einem öffentlichen Platze nicht überleben würde,
kann man der „Lese“ beipflichten. Diese „lite-
rarische Zeitung für das deutsche Volk“ tat der
Schande Erwähnung, daß Heine noch immer ohne
Denkmal sei. Sie will, daß er „sein“ Denkmal
bekommen soll, obgleich er mit seiner ungesunden
Sentimentalität viel Schaden angerichtet hat. Kann
man derlei auch nicht lesen, ohne an einen Bericht
über eine Feuersbrunst oder eine Wetterkatastrophe
erinnert zu werden, so gibt es Professor Bartels
dennoch Veranlassung, über eine neuentdeckte
Schandtat des „Verwüsters des deutsChen Gewis-
sens“ sich auszulassen. Er legt der arg bedrohten
Nation die ganze Verabscheuungswürdigkeit ihres
Lieblings klar, indem er ihr eine neue charak-
teristische Tatsache aus seinem Leben mitteilt. Eine
TatsaChe, die dem Urteil, das sich Bartels über
Heine gebildet hat, gewaltig recht gibt.

In einem Antiquariatskatalog wurde der Ori-
ginalpaß Heines zu seiner italienischen Reise aus-

geboten. Ausgefertigt von der Königlichen Polizei-
Direktion in MünChen. Er lautet auf „Dr. jüris
Heinrich Heine, gebürtig von Düsseldorf, wohn-
haft in Hamburg, dahier studierend, welcher zum
Vergnügen über Innsbruck naCh Genua reiset“.

Im Jahre 1827 hat Cotta Heine nach München
berufen. Er wünschte seine Mitwirkung für „das
Morgenblatt“ und „Das Ausland“. Heine verpflich-
tete sich, bis juli des komtnenden Jahres für jedes
Heft der Annalen einen Aufsatz zu schreiben und
für die beiden anderen Zeitschriften nach Mög-
lichkeit bemüht zu sein. Cotta zahite ihm dafür
hundert Karolin. Es interessiert nicht, ob* Heine
dieses Einkommen in München versteuert hat, doch
daß er es nicht tat, steht für Bartels fest Weshaib
hätte sich sonst Heine als Studierender ausgegeben?
Es ist Heine, der doch vor keiner Schändtat zurück-
schreckte, schon zuzumuten, daß er keine Steuern
bezahlen wollte und auch keine bezahlt hat. Und
ein solcher Mensch soll wie wenige deutsche Dichter
geliebt sein. Gegen eine derartige objektive Un-
wahrheit muß Bartels Protest erheben und kon-
statieren, daß Heine wirkliche Liebe kaum je in
Deutschland gefunden hat. Er amüsierte nur. In
diesem Punkt sollte Bartels sich über Heine gar
nicht erhaben fühlen. Als Steuerzahler — da mag
er ihm überlegen sein. Jubeltöne entringen sich
seiner treudeutschen Kehle, wenn ihm der Steuer-
erheber erscheint.

Kann ein Dichter, der wie Heine den Staat um
Abgaben betrogen hat, etwas Wertvoües geschaffen
haben? Wenn für die Bedeutung eines Schrift-
stellers sein Verhältnis zur Steuerbehörde spricht,
muß Barthels als Literaturhistoriker nicht minder
groß als Taine oder Cartyle sein.

Erklärt Professor Bartels auch, daß Heine nicht
angegriffen und verhöhnt wird, weil er ein Jude,
sondern weil er ein notorischer Lump war,
so meint er doch, daß es auch jetzt noch Juden
geben soll, die es durch geschickten Wechsel ihres
Aufenthaltes zu vermeiden wissen, irgendwo dem
Staate Abgaben zu Ieisten.

Ich weiß sogar von einem Juden, der seinen
Aufenthaltsort gar nicht erst wechselte und keine
Steuern bezahlen wollte. Die Tagespresse ver-
öffentlichte nach seinem Tode eine Steuerrekla-
mation, in der er mit bitterem Sarkasmus das
Schicksal eines guten deutschen Schriftstellers
schildert. Der Mann Soll so arm gewesen sein,
daß er, hätten ihn seine Schwestern nicht liebevoll
unterstützt, aliem Elend anheimgefallen wäre.
Jedenfalls spricht Bartels nicht gern von ihm. Wäre
in seiner Teutonenseele ein Funken Ehrgeiz, ein
Schimtner von Schamgefühl, er hätte sich tot-
geschwiegen, nachdem ihn Leo Berg, der Schreiber
der Steuerreklamation, zertreten hat.

Dem Deutschen Staat mag allerdings ein Mann,
und sei er selbst ein Nichtswürdiger wie Bartels,
der seine Abgaben leistet, weitaus lieber sein ais
einer, der zu verkrüppelt war, um Soldatendienste
leisten zu können, und den das Unglück, ein
scharfer Kritiker unseres Zeitalters zu sein, um die
Genügtuung, die Wonnen und die Ehren des Steuer-
zahlens betrogen hat. J. A.

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