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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 35 (Oktober 1910)
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Scheerbart, Paul: Der Wetterprophet: Eine chiniesische Geschichte
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Döblin, Alfred: Antikritisches
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Walden, Herwarth: Moloch
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Adler, Joseph: Vom Tage
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Beachtenswerte Bücher und Tonwerke
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0286

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mi!ch. Und ohne beleidigendes Bild: die Schau-
künste miag man hochaehtungsvoll ergebenst mit
idealistischen Kritiken verschonen. Die Skala
lautct: 1. verurteilen, 2. beurteilen, 3. verstehen.
Diese Dinge haben Gesetze und Gründe höchst
soüide in sich; es gibt nicht eine einzige Aesthetik
so wenig es eine einzige Morat gibt.

Ich war im Wa l'h a 11 a-Th e a te r am Wein-
bergsweg. Allah ist groß, und nac'h dem Rosen-
thaler Tor ist eine weite Strecke. Aucli rnit den
Prinzipien einer neuen gegenständiichen Aesthetik.
Nac'h zehn Atinuten saß ich gesenkten Hauptes da.
Wäre ich drei Tage jünger, ich würde lbslegen
und ibrüllen wie — jener Stier, der keine Heu-
schrecke ;ist. Aber ich beruhigte mein liebes Ge-
müt mit der Wendung, man solle Stiefel nidht mit
GänsesChmalz behandeln vvollen. Ich würde mich
läCherlich machen mit dem Gebrüll. Vielmehr:
Portugal' ist von Stund an kein Königreich
mehr; die Dynastie Braganze hat abgewirt-
sdhaftet; lassen wir die Vorgänge auf den Pyrenäen
nicht widerhallos an uns vorüberdonnern! Stürzen
wir das Königreidh der Kritik, schiagen wir die
prunkenden |und dezenten Fenster ein, rollen wir
auf das baumwolene Banner der demokratisehen
Kunstrepubfik, und rauben wir der festesten Mo-
narchie ihre Devise: Jedem das Seine, Gerechtig-
keit für Alle. Und so lebe der Weinbergsweg!
Ich hob Wiieder den Kopf. Kennen Sie noch aus
der „Wildente“ den Mann mit der sittlidhen For-
derung in der HosentasChe? Er ruiniert eine Fa-
milie. Die Apostel mit der SChönheitsforderung
in der HosentasChe sind unschädlicher geblieben.
Das Publikum und seine Kunst hat ein dickes Fell;
es grunzt noch mit Behagen über die phantastischen
Kritiker-FIiegen, die auf seiner Nase tanzen. Und
so konstatiere iCh in der suffisanten Haltung des
Naturwissenschaftlers, daß der Weinbergsweg eine
Notwendigkeit für Berlin bedeutet. Das Metropol-
theater ,ist klein und teuer; das Walhallatheater
wird, wenn es noCh mehr Kapital daran setzt,
reussieren. Etwas weniger kindliCh, weniger Neu-
Ruppiner (BiMerbogen wäre auc’h ganz gut; man
soll auch als Autor seine Phantasie nicht absoiut
beschränken auf Erinnerungen aus dem Zirkus
BusCh, Passagetheater und dem Metropol. Aber
das Ganze stimmt, ist sogar entwiCklungsfähig —•
wenn man nur niCht die Herren Freund und
Hofländer als 'Klassiker anbeten möChte. So schlecht
sind sie doch r.och nicht. Ich empfehte für die
Zukunft aktue'ile Märchenspiiele; lesen Sie mal
Aristophenes Komödicn; und statt einer ziemlich
sinnlos Igereiften Revue der Ereignisse hälten Sie
siCh einmäl fest an ein paar Fakte und bauen Sie
daran fherum. Lernen Sie Kürze und Gedrängt-
heit, Dramatik vom Kinema. Geben Sie der kost-
baren Buntheit Ihrer Bifder einen glitzernden BiChe-
ren Rahmen, meine Herren Direktoren. Die neue
Aesthetik wird Sie unterstützen. Ich werde regie-
rungsfähig. 'Zwei Tage darauf saß iCh in der
S i n g a k a d e m i e zum ersten Abend des W i t -
tenbergquartetts, da wurde m;ir meine Kritik
sehr sChwer. Der Saal war überheiß; iCh schlief
den ganzen Mozart durch. Der Mann wäre sicher
ein vorzüglicher Musiker gewlorden, wenn ihn nicht
seine Klässizität verdorben hätte. Man spielte
Haydn mit SChwung und Grazie, ich weiß nur nicht,
warum inan ihn noch so viel spielt; einhundert-
undfünfzig JJahre sind kein Pappenstiel, und die
einstmals sChönsten Sachen verblassen notwendig,
sind verbl'aßt, halbtot. Nun lastete der furChtbare
SChatten Beethbvens üiber dem Saal; ich blühte
darunter fast auf. ICh : verstehe; hier verstehe iCh.
Aber es war zu viel für mich', ich schlich jbald
hinaus. Auf der Treppe fiel mir die objektive Kritik
ein. Ja, hier war idi MensCh, hier konnt iChs sein.
Ich will in Zukunft stiller halten, kühler blicken,
iniCh wehren gegen die Ueberwältigung. Ich bin
kein MensCh, sondern ein Kritiker.

Alfred Döblin

Moloch

Das Jammerspiel des nadhgelassenen Pflegers
von Josef Kainz wurde also tatsäChliCh in Berlin
aufgeführt. Natürlich von der Famiiie Gettke im
„Modernen Theater“. Fritz Engel, der den Zeit-
geist beherrscht, nennt es kühn die „Räuber“ des
Autors und erwartet von ihm also mindestens

Kabale und Liebe. Man muß Schiller tatsächlich
gegen seine Verehrer (Herr Engel gehört zu ihnen)
in SChutz nehmen. Schließlich war der doch kein
Tsc'hirikoff-Epigone, wie der traurige Verfasser des
— Mut! — Dramas der Moloc'h. Wie nahe die
Bomben an ihm vorbeigeflogen sind, weiß die
Vossische Zeitung nicht. Sie kann sich beruhi-
gen: im Cafe Museum zu Wien tut man so etwas
nicht. Die l'ästigen Ausländer in Preußen schmug-
geln sidi aus OesterreiCh ein (und seinen Kron-
tändern). ;Und ihre Waren finden in der Presse
und an den Theatern reißenden Absatz.

Wenn doCh mehr Kunstpolitik in Deutschland
getrieben würde! Einem DiChter, einem Künstler
seine Fehler zu zeigen, bedeutet Gewinn für alle
Teile. Einen unfähigen Dilettanten zu analysieren
heißt ihn zur Fortsetzung d-es Gewerbes zu veran-
lassen. Dazu liegt kein Grund vor. Bleibt zu
beweisen, daß der atni de Kainz kein DiChter ist.
Zwei Sätze genügen. Die VersChwörer erklären
feierlidh ihre Gemütsverstimmung: „Wir alle stehen
unter Hochdruck“. Der „Held“, der nicht mehr
Bomben werfen will, Lächelt bitter: Grüßen Sie
mir die MensChheit! Die MensChheit näml'ich ist
der Molbch, der keinen „ausläßt“. Der Held will
nidht mehr Revolution mitspielen, die Einzelhaft
hat ihn gebrochen. Er muß endlich sei Ruh haben,
eventuell sogar durCh den Tod. Er sieht keinen
Z weck, weil er den Zweck jeder Revolution über-
sieht: die Begeisterung, denn er ist geistlos, wie
sein SChöpfer.

Jedesmal erlebt man dieselbe komisdhe Erfah-
rung: die sChleChten Autoren und Kritiker schimp-
fen auf NietZsChe und Ibsen, und sind entzückt,
wenn sie deren Gedanken verwässert oder in gas-
förmigem Zustand vorgetragen bekommen. Sie
reden dann vom philosophisChen Gehalt. Und Her-
mann Bahr schreibt of ene Briefe an Schaubühnen-
besitzer, man solLe ja das StüCk richtig verstehen!
Er hat den Beruf des Molochimännes verkannt. Er
soll isiCh vo:n ihm pflegen lassem! Treu bis in
den Tod. Der Autor ist erst bei den „Räubern“.
Und das hat Herrn Bahr verwirrt. Dem Mann
kann geholfen werden. Nein, Deutschland und
OesterreiCh: der Mann kann helfen.

T r u s t

Vom Tage

Oh Mensch!

Hermann Bahr ist Propagandist der Wahrheit
geworden. Die KlimtsChe Veritas, die vor seinem
ArbeitstisCh schon viel Staub angesetzt hat, wird
aus dem Rahmen gefallen sein. Man hat Kainz
die wahre Natur seiner Krankheit verschwiegen.
Jeder ,vernünftig denkende wird das billigen, nur
Bahr läßt es niCht zU, er müß es sagen, daß „der
Arzt dem Kranken die Wahrheit schuldig ist“. Er
wirft das Thema in einem neuen reaktionären Mon-
tagsblättc'hen den Disküssionshyänen zum Zer-
ffeiischen 'jiin.

Der Sterbende SoW ein ReCht haben, zu wissen,
daß er stirbt. Aber der Gesunde kann sterben,
ehe er es gewahr wird. Warum, Meister, dem
Sterbenden jmit der VerabreiChüng des greWsten
SonnenEChtes der Wahrheit das Ende noCh dunkler
erscheinen 'Jassen, wenn iman den Gesunden nur
mit ihren Talglichtern den dunkeln Weg erhellte.
Sie können siCh das Entsetzen niCht ausmalen,
wenn sie plötzliCh gewahr würden,
ihr eigenes Sterben jversäumjt zlu
haben. VjeWeich't gelingt das einetni andern, sofern
er von Ibsen tief durchdrungen ist, aber um * 1 des
Glückes der mysteriösen „Erkennung“ willen,
wird iSich kaum irgendwer den Tod a n s a g e n
lassen.

„Und je m'ehr es ein MensCh ist,
der erkannt hat, daß es seinen eigentliChen Wert
ausmächt, (des Lebens ganz inne zu werden, und
was das Schicksal ihül zugeWiesen hat, nicht bloß
zü erleiden, sondern bewußt zu erfüllen, ja selbst
zu gestalten, desto schlimüier wird es für ihn sein,
wenn er zuletzt doCh erkennen muß (niCht etwa,
daß die Bahrsche Philbsophie keinem Hund das
Sterben teichter maChen kann, sondern), daß er
betrogen worden ist.“

Ja, je rnehr es ein MensCh ist.

Die Sanssoucier

Alles Talent, das ihm für die Zeichenkunst
abgeht, stellt Herr Edmund Edel unter die ertrags-
fähigen Fittiche der literaturbehafteten Presse. Noch
pfaudert er, doCh er ist auf dem besten Wege,
Turszinsky ist sChon so weit, einer derjenigen zu
werden, (die etwas zu „sagen“ haben.

Am fünfzehnten wurde das Restaurant Sans-
souci eröffnet. Sans rime et sans raison erzählt
Edef davon (in demselben Montagsblättchen). Er
nennt die Eröffnung eine „Premiere am Kurfürsten-
damüi“. BezeiChnend war schon für das große
Ereignis, daß Edel in einem goldenen Auto h i n -
f u h r. TatsäChlich. Er sagt es. „Ich führ in einem
goldenen jAuto hin, wie der Prinz im MärChen.“
Unter einem Prinzen tut ers niCht. Aber erst an
Ort und SteWe vergißt er nic'ht, daß er nur (ein
Diener der „immer hungerigen Leserwelt“ ist und
ihr BeriChte zu s-ervieren 'hat.

„In einem güldenen Auto fuhr iCh hin (er sagt
es zweimaf), aus güldener Kanne (gleiCh aus der
Kanne?) trank iCh Kaffee und aus einem güldenen
Traum erwaChte iCh am andern Mittag.“ Und dann
setzte er sich an einen güldenen Sdireibtisch und
schrieb mit güldener Feder Blech, der Dichter: er
war jn einem Märchenland, während er doch nur
in einem neuen Restaurant gegessen hat; allerdings
„um mit andern die Sensation des Kurfürstendamms
aus der Taufe zu essen und zu trinken“. Er rühmt
die Intimität des Raumes, „die mit der un-
aufdringlichen Vornehmheit se iner
Ausstattung wetteifert“.

ICh könnte in einem Raum, dessen Intimität
ohne UrsaChe noch Zweck mit seiner unaufdring-
lichen Vornehmheit unausgesetzt wetteifert, ebenso-
wenig mit Ruhe essen, afs das Lobragout zum
ErbreChen reizt, das Edef nach seinem Erwachen
aus dem güldenen Traume auf dem kleinen Rokoko-
paviiflon, „der so weltverloren an der Straßenecke
lag“, zubereitet hat. JedoCh an dem neuerlichen
Sjeg der Kultur, daß „die verwöhnten Lebens-
genießier des Westens jetzt in der Nähe ihrer Be-
hausung a n s t,ä n d i g e s zu essen bekommen“,
könnte jCh mich sattfreuen. „Die Kosten für die
NaChhausefahrten werden gespart werden und das
Geld dafür lieber an die schönen BegleitersChei-
nungen der Monokelinhaber zur Hebung ihres Toi-
fettenbudgets (ausgeIiefert. “

„Und der krause Stil des Rokoko ist mit dem
Komfortbedürfnis der Moderne vereinigt.“

„Oben im kleinen Saal hatte Dr. Artur Lands-
berger eine iWustre GesellsChaft versammelt, um dic
AnWesenbeit eines Großen zu feiern.“ NiCht
Bahrs. Eines noCh größeren. „Fulda,
ReiCke, Reinhärdt, Geiger, Walter Turszinsky, sie
afle |mit ihren Frauen, Barnowsky, Rudolf Lothar,
Carf Hauptmann und die pikante ToChter von
Brandes zierten die Tafel, wie die Rosen, die zwi-
sChen den Gläsern lagen. Wi e die R osen. Nach
Mitternacht |sChlbssen sich die Türen des Saales
und der ewjg junge Brandes e r g r i f f das Wort.
D a s e d I e B j 1 d d e r J u n g f r a u v o n O r 1 e -
ans sChWankt im WeChsef der Zeiten,
aber Brandes Ruhm steht fest.“

„Seine bedeutungsvoWe Rede (anders konnte sie
nicht sein) entfaChte ein ganzes Feuerwerk Im-
promptus, mit denen vor aWem Ludwig Fulda ant-
wortete.“ Das war doCh wohl nicht möglich. Aber
die WahrsCheinfichkeit, daß Rudolf Lothar von dem 1
Feuerwerk einen SChein mit nach Hause nahm, um
ihn in seinem n.ädisten Libretto fortfeuchten zu
lassen, liegt furchtbar üahe'.

„Es war spät, al!s die letzten SanssouCier auf
de|n (Kurfürstendämüi traten.“

Er soW siCh unter ihren Füßen gekrüimmt haben.

J. A.

Beachtenswerte Bücher und Tonwerke

Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Fall statt

OSKAR KOKOSCHKA
Die träumenden Knaben
Wiener Werkstätte 1908

Verantwortlich ftir die Schriftleitung:

HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich- Ungarn:

I. V.: Oskar Kokoschka

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